Kapitel Achtundzwanzig
»Und der fünfte Engel blies seine Posaune; da sah ich einen Stern, der vom Himmel auf die Erde gefallen war; und ihm wurde der Schlüssel zum Brunnen des Abgrunds gegeben. Und er schloss den Brunnen des Abgrunds auf; da kam Rauch aus dem Brunnen wie der Rauch eines großen Ofens …«
Offenbarung 9, 1–2
»Zoe, wir brauchen eine Einschätzung der Wassertiefe um die Insel herum. Kriegst du das hin?«, fragte die weibliche Dirigentin so, als hätte sie nicht wirklich Vertrauen in Zoes Fähigkeiten.
Wahrscheinlich hat sie nicht mitgekriegt, dass Zoe vor ein paar Monaten in Jordanien einen ganzen Berg in Bewegung versetzt hat!
Zoe warf ihr ein überhebliches Lächeln zu. »Schon erledigt. Es ist um die ganze Insel herum tief, aber am tiefsten ist es definitiv an der Westküste. Und …« – sie sah beklommen aus und ließ ihre Schultern kreisen – »im Wasser bewegt sich irgendetwas. Das ist unheimlich.«
»Was ist es?«, fragte ich und konzentrierte mich wieder auf das Gespräch.
Sie verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass sich tief unten etwas bewegt, und es ist definitiv kein Fisch, verstehst du?«
Die Dirigenten nickten, schrieben sich die Details auf und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Wie viele Meter sind es bis zum Meeresboden?«
Zoe sträubte sich. »Sehe ich aus wie ein Maßband? Es ist tief, so tief, wie niemand tauchen sollte. Locker ein paar hundert Meter.«
»Und was ist mit dem Vulkan? Kannst du die Energie spüren, die von ihm ausgeht, kannst du wahrnehmen, was darunterliegt? Glaubst du, du kannst es beeinflussen?«
Zoe verlagerte ihr Gewicht und schloss dann einen Moment lang die Augen, bevor sie sie mit ernstem Gesicht wieder aufschlug. »Den Vulkan kann ich überhaupt nicht wahrnehmen. Es ist, als wäre er gar nicht da. Vielleicht … Vielleicht bekomme ich ihn besser zu fassen, wenn er ausbricht …«
Oh, schön – endlich etwas, worauf wir uns freuen können.
Die Dirigenten nickten und gingen ohne ein weiteres Wort davon.
Steph kam zu uns, und Zoe murmelte: »Verdammte Bürohengste. Wartet nur ab – wenn alles schiefgeht, ist von ihnen nichts mehr zu sehen.«
»Was, glaubst du, haben sie vor?«, fragte ich, während ich zusah, wie sie sich weiter entfernten und sich jetzt mit Josephine und Lincoln unterhielten.
Zoe zuckte mit den Schultern.
»Wahrscheinlich versuchen sie, einen Weg zu finden, den Vulkan zu kontrollieren. Vielleicht wollen sie ihn deaktivieren oder so«, sagte Steph.
Wir blickten uns ernst an. Selbst mit Grigori-Kräften schien es unmöglich zu sein, einen Vulkan zu beherrschen. Bevor einer von uns die Gelegenheit bekam, unseren Zweifel in Worte zu fassen, kam es an der Stelle, an der die Dirigenten gerade noch standen, zu einer donnernden Explosion. Ein riesiger Felsbrocken war in Tausende, Millionen winziger Stücke zersprungen, die wie Sandkörner auf uns herunterregneten.
Josephine stand aufrecht da, und während wir noch schockiert hinschauten, klopfte sie sich die Hände ab und ging weiter.
»Nun«, sagte sie laut genug, damit wir es alle hören konnten. »Wenigstens wissen wir, dass meine Kraft hier nicht betroffen ist.«
Was in drei Teufels Namen ist ihre Kraft?
Von der Wucht der Explosion zu Boden geworfen, stand ich auf und schüttelte mir Felsstaub aus dem Haar.
»Angeberin«, sagte Zoe zwischen zwei Hustern, als sie aufstand.
»Eher gemeingefährliche Spinnerin«, sagte Steph und sah an ihrer inzwischen nicht mehr ganz so hübschen Kombination aus Shorts und Trägerhemd hinunter, nachdem ich ihr hochgeholfen hatte. Morgan, die ein wenig weiter weg war, schien nicht ganz so viel Sand und Staub abbekommen zu haben.
Vor uns packte Lincoln Hiro am T-Shirt und stieß ihn ein paar Schritte nach hinten, während es zwischen ihnen zu einem hitzigen Schlagabtausch kam, dessen Worte ich nicht hören konnte. Max und Mia mussten dazwischengehen und sie trennen. Danach schien sich Lincoln wieder zu beruhigen, denn er nahm schließlich das Gespräch mit den Dirigenten wieder auf.
Die nächsten paar Stunden verbrachten wir damit, den Vulkan eingehend zu betrachten. Hin und wieder sprengte Josephine ohne Vorwarnung etwas in die Luft. Als wir fertig waren und zurück aufs Boot sollten, sahen wir aus, als hätten wir uns im Schmutz gewälzt, obwohl wir nie so nah dran waren wie bei der ersten Explosion.
Josephine hatte – wenig überraschend – überhaupt nichts abbekommen, außer dass sie ein zufriedenes Grinsen aufgesetzt hatte.
Zoe, Steph und ich entfernten uns auf dem Weg zum Boot von der Gruppe, und Zoe klärte uns auf: »Sie kann Atome trennen. Sie lässt die Dinge eigentlich nicht explodieren, sie reißt sie eher in Gedanken auseinander. Einmal hat sie es uns im Unterricht erklärt. Sie sagte, sie kann sich irgendeinen natürlichen Gegenstand anschauen und seine Milliarden und Abermilliarden Atome erkennen. In dem Moment, in dem sie sie sehen kann, kann sie sie bewegen. So dramatisch das heute auch ausgesehen hat, hat diese Fähigkeit jedoch offenbar ihre Grenzen. Sie kann nichts Größeres als einen Bleistift bewegen. Wenn sie also nicht einfach nur etwas in Stücke zerkleinern und als Staub zu Boden fallen lassen möchte, ist sie allein relativ nutzlos.«
»Wie konnte sie dann die Felsen bewegen?«, fragte ich, während ich Josephine beobachtete, die vor uns ging.
Zoe lächelte kleinlaut. »Hiros Spezialität ist die Schwerkraft, er kann sie für kurze Zeit innerhalb eines abgeschlossenen Bereichs aufheben, aber nur, um einen Gegenstand in geringer Höhe zum Schweben zu bringen. Die Kombination aus ihrer und seiner Kraft verursacht die Explosion, eine Art Doppeleffekt also. Es gibt noch andere Grigori, die zu einer gut entwickelten Telekinese fähig sind – Josephine hat immer einen von ihnen in ihrer Nähe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ließ ihn den Felsen hochheben, damit sie die größtmögliche Wirkung erzielte.« Ich stimmte Zoe und Steph voll und ganz zu – sie war eine Angeberin, und schien in der Tat gemeingefährlich zu sein.
Ich fragte mich, wer von beiden entschied, ob die Überreste der Explosion auf uns herunterprasseln sollten, aber ich überlegte nicht lange. Hiro stand unter ihrem Befehl.
Steph warf mir einen neugierigen Blick zu. »Und da alle darüber Bescheid wussten, nehme ich an, dass das alles nur dir zuliebe geschah, Vi. Die Frage ist nur, warum?«
Ich wusste die Antwort bereits. Es war eine Warnung.
Ich war erleichtert, als wir wieder auf dem Boot waren, und nahm rasch wieder meinen Platz am Bug ein, dem Wind entgegen. Auf einer Vulkaninsel konnte ich nur wenig ausrichten, und als ich dort festsaß, waren meine alten Fluchtinstinkte wieder an die Oberfläche gekommen.
Als wir am Jachthafen von Bord gingen, mussten wir uns trotz Kaitlins und Samuels Bemühungen durch Dutzende von Touristen drängen, die wissen wollten, warum sie die berühmte Insel nicht besuchen durften. Sie waren besonders verärgert, weil sie uns genau von dort hatten ansegeln sehen. Wir zogen einfach die Köpfe ein und gingen an ihnen vorbei, wobei wir Salvatore entdeckten, der oben auf dem steilen Pfad, der uns zurück in die Stadt bringen würde, auf uns wartete.
Sobald ich meine Füße auf festen Boden gesetzt hatte, hatte ich Verbannte wahrgenommen.
Es machte mich nervös, dass so viele Menschen da waren.
In all diese Gesichter zu sehen und zu wissen, dass ich die Verbannten zwar wahrnehmen, sie aber nicht genau orten konnte, war beunruhigend.
»Steph!«, rief ich. Sie eilte voraus, weil sie zu Salvatore gelangen wollte, und hörte mich nicht bei all dem Lärm, den die Leute machten.
»Violet?«, sagte hinter mir eine Stimme.
Ich schloss ganz kurz die Augen, teils vor Schreck, teils vor Freude, seine Anwesenheit in mich aufzusaugen – zuerst Sonne, dann schmelzender Honig.
Natürlich brauchte mich Lincoln nicht zu hören, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte – er hatte bestimmt wahrgenommen, dass ich beunruhigt war.
Er trat neben mich. »Was ist los?«
Ich schüttelte den Kopf, um ihm mitzuteilen, dass das nicht die richtige Zeit war, darüber zu sprechen. »Wenn wir im Hotel sind.«
Er nickte, und ich war dankbar, dass er mich nicht drängte. »Wie wäre es, wenn ich Steph begleite?«, schlug er vor und sah mich dabei so verständnisvoll an, dass ich am liebsten geweint hätte. Die Wut, die ich auf ihn gehabt hatte, verflog. Ich brauchte ihm nicht zu erklären, dass ich mich hier um ihre Sicherheit sorgte, er musste keine Antworten einfordern. Er wusste es einfach, und er kannte mich.
Unfähig, etwas zu sagen, sahen wir uns gegenseitig an, und mein Herz fing an zu rasen, bis er den Blickkontakt abbrach und davoneilte, um Steph einzuholen. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie veranlasste, sich zu mir umzudrehen und eine Show daraus zu machen, wie sie sich bei Lincoln unterhakte.
Ich zögerte und blieb ein wenig zurück, damit ich einen guten Überblick über alles hatte. Ich dachte, ich wäre die Einzige, die so weit zurückgefallen war, bis Josephine an meiner Seite auftauchte, als wäre sie immer dort gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte.
»Violet, gibt es etwas, was du gerne mit mir besprechen würdest?«
Ich sah stur geradeaus. »Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Ich habe erwartet, dass du etwas über gestern Abend erzählen würdest«, sagte sie, aber das war nicht das, was sie eigentlich wissen wollte.
»Ich habe gestern Abend genug gehört. Du hattest einen Job zu erledigen. Ich habe ihn erledigt. Richtig?«
Ich warf ihr einen Blick zu und schaute dann wieder nach vorne. Sie hatte die Lippen gekräuselt. »Ich bin froh, dass du das verstehst. Das lässt mich hoffen, dass wir vielleicht doch noch gut miteinander auskommen.«
Keine Chance.
Sie zwang sich zu einem schmalen Lächeln.
»In Anbetracht deiner Fähigkeiten nehme ich an, dass du die hohe Anzahl von Verbannten wahrnehmen kannst?«
Ich nickte und fragte mich, was ihre Sinneswahrnehmungen waren.
»Wann hattest du vor, uns darüber zu unterrichten?«
Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, auf Distanz zu gehen, und behielt mein Tempo bei. »Ich habe sie gerade erst wahrgenommen. Ich hätte sie vielleicht schon früher bemerkt, aber ich war heute Morgen nicht ich selbst«, sagte ich, ich konnte der kleinen Stichelei einfach nicht widerstehen.
Sie blieb stehen und packte mich dabei am Oberarm. Ich erstarrte und fixierte die Hand, die mich festhielt. Lincoln hatte mich heute Morgen auf die gleiche Art gepackt, er war sogar grob gewesen, aber Josephines Griff war anders. Kalte, starre Finger und spitze Nägel gruben sich in meine Haut, begierig darauf, die Oberfläche zu durchstoßen. Ja, das hätte sie wohl gern … und wie.
»Ich gehöre nicht zu deinen ergebenen Rekruten, Violet. Ich habe nicht vor, meine Leute in diesen Schlamassel zu führen, den du angerichtet hast, und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nur um deines zu retten. Mir ist vollkommen bewusst, dass die Gelegenheiten, Phoenix auszuschalten, vor allem deshalb vertan wurden, weil man versuchte, dich zu beschützen. Ein solches Zögern werde ich in Bezug auf meine Leute nicht hinnehmen.« Sie drückte meinen Arm, um mir ihre Stärke zu demonstrieren. »Wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt herausfinde, dass du mich anlügst, dann werde ich dich festnehmen und von der Insel entfernen.«
Ihre Finger schlossen sich noch fester, ihre Nägel stachen mir jetzt in die Haut und sie zog mich näher zu sich. »Und von Lincoln.«
Ich presste den Kiefer zusammen und ballte meine Hand zur Faust. Ich hielt den Kopf gesenkt, hob aber meinen Blick, um ihren mit schmalen Augen zu erwidern. »Bist du jetzt fertig?«
»So ziemlich«, sagte sie und hielt meinen Arm noch ein paar Sekunden lang fest. Dann ließ sie ihn los und ging vor mir den Pfad entlang. Rasch tauchten Mia und Hiro an ihrer Seite auf.
Ich weiß nicht, wie lange ich da noch stand, um mich herum ein Gewühl von Menschen, während ich beobachtete, wie Josephine zum Hotel hinaufwanderte. Sie hatte soeben die Grenzen abgesteckt und ich war mir jetzt sicherer denn je – ich konnte es nicht riskieren, irgendjemand anderen in meine Pläne einzuweihen.