Kapitel Dreiundzwanzig

»Aber die Gottlosen sind wie das ungestüme Meer, das nicht still sein kann und dessen Wellen Schlamm und Unrat aufwerfen.«

Jesaja 57, 20

Mir stockte der Atem, als die Tür aufging und ich einen Mann ohne Gesicht anstarrte. Wenn es das war, was ich befürchtete. Mein Magen drehte sich. Ich wusste nicht, ob ich die Augen zusammenkneifen sollte, um zu sehen, ob der Schatten seines Kapuzenumhangs nicht doch das Gesicht nur verhüllte, oder ob ich lieber auf dem Absatz umkehren und davonlaufen sollte.

Das letzte Mal, als ich vor einer gesichtslosen Gestalt gestanden hatte, hatte ich etwas getan, was ich nie mehr vergessen würde. Plötzlich schien alles, womit ich mir einen Moment zuvor noch gut zugeredet hatte, lächerlich.

Wir müssen hier weg, wir müssen hier weg!

Ich wich zurück und blickte über meine Schulter. Max stand am Auto und beobachtete uns, er bemühte sich zu erkennen, wer da gerade die Tür geöffnet hatte.

»Wir müssen hier weg«, zischte ich leise und eindringlich.

Doch Lincoln löste seinen Blick nicht vom Eingang. Seine Kraft wirbelte um mich herum, und zwar so intensiv, als würde man in einem Bienenstock herumschwirren. Steif und bleich stand er da und blickte an der Gestalt mit dem Umhang vorbei.

»Dafür ist es zu spät.«

Ich folgte seinem Blick und schlug die Hand vor den Mund.

Weitere acht Gestalten, alle mit Umhang, alle ohne Gesicht, standen hinter dem Wesen im Eingang. Das Seltsamste daran – ich konnte hier nur einen einzigen Verbannten wahrnehmen.

Diese … Dinger waren hohl, aber sie lächelten, das konnte ich spüren. Das Gefühl der Übelkeit verzehnfachte sich. Schon bereute ich meine Entscheidung, das hier durchzuziehen.

Die Gestalt an der Tür fing an zu sprechen, nicht laut, sondern in meinem Kopf.

»Willkommen. Folgt mir. Der Hüter erwartet euch.«

Oh verdammt.

Ich wäre fast hingefallen, weil die Stimme so in mich eingedrungen war. Wie Dutzende Kakerlaken, die sich kratzend aus meinem Kopf herausdrängten. Meine Angst wurde noch größer und ich wich noch einen Schritt zurück, aber Lincoln, der mir seine Hand flach auf den Rücken gelegt hatte, schob mich vorwärts. Er hatte die Worte auch gehört.

Ich sah ihn an, Panik brachte meinen Puls zum Rasen, aber er nickte nur, damit ich weiterging. Ich wusste, dass er recht hatte. Vor Verbannten konnte man nicht fliehen, und was immer diese Dinger waren – wahrscheinlich war es ebenso unklug, vor ihnen davonlaufen zu wollen.

Ich schüttelte meine Hände aus, in der Hoffnung, dadurch etwas von meinem Schrecken abschütteln zu können, und ging vor Lincoln in den Leuchtturm. Sobald ich drinnen angelangt war, breitete sich die Kälte des Steinbodens in mir aus und nahm mich voll in Anspruch. Die Gestalt an der Tür gab Lincoln und mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Die Übrigen standen Schulter an Schulter und machten keine Anstalten, mit uns zu kommen, aber als wir an ihnen vorbeigingen, hörte ich Stimmen.

Schreie.

Todesgeheul von Männern, Frauen … Kindern. Hunderten. Tausenden. Und ebenso wie bei der Gestalt an der Tür, als sie zu uns »gesprochen« hatte, wurde jedes Geräusch in meinem Kopf verstärkt, sodass es mehr war als nur hören – es war erleben.

Ich merkte nicht, dass ich schreckensstarr stehen geblieben war, bis Lincoln meine Hand ergriff und der warme Honig seiner Kraft mich beruhigte, mir versicherte, dass alles okay war. Nur seine Stimme konnte durch die Schreie zu mir dringen.

»Geh weiter. Denk daran, wer wir sind. Benutze deine Kraft.«

Mein Blick richtete sich auf Lincoln, und nach und nach erlangte ich wieder Kontrolle über meinen Verstand. Die Schreie wurden leiser, bis sie ganz aufhörten.

Ich schluckte, meine Kehle war trocken und wie verbrannt. »Es hat sich so real angefühlt, als würde ich selbst schreien.«

Besorgt behielt er mich im Auge und drückte meine Hand, bevor er sie losließ. »Das hast du auch.«

Oh.

Die gesichtslose Gestalt ging immer noch vor uns her. Wir beeilten uns, um mit ihren langen, fließenden Schritten mitzuhalten. Sie führte uns eine schmale, gewundene Treppe hinunter, die bald von einer klobigeren abgelöst wurde, als wäre eine davon später hinzugefügt worden. So wie es aussah, war die untere Treppe die ältere von den beiden.

Seltsam.

Nach gefühlten, womöglich aber auch tatsächlichen tausend Stufen kamen wir unten in einem Gang an.

Zu tief, keine Luft.

Normalerweise neige ich nicht zu Klaustrophobie, aber das hier war extrem. Ich rechnete schon fast damit, auf eine Tür zu stoßen, auf der »Hölle (Zutritt nur für Personal)« stand.

Ich versuchte, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren, um das Gefühl, die Wände würden sich auf mich zu bewegen, loszuwerden, und die Kleckse, die vor meinen Augen tanzten, wegzublinzeln. Der Gang bestand vollkommen aus Holz, Wände und Decke waren mit schweren, fast roten Brettern verkleidet, die so stark poliert waren, dass sich das Licht der modernen Deckenstrahler, die überall angebracht waren, darin spiegelte. Dadurch sah der ganze Raum aus wie ein hell erleuchtetes Verlies.

Am Ende des langen Ganges stieß die gesichtslose Gestalt eine schwere Doppeltür auf und ich bemerkte rechts einen langen Korridor. Hier unten gab es offensichtlich viel Platz und da ich die gesichtslosen … Dinger anscheinend nicht wahrnehmen konnte, machte ich mir sofort Sorgen, dass noch mehr von ihnen hier lauern könnten.

»Violet?« Lincoln sprach leise, weil er mein Unbehagen bemerkte.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn, und trotz der Angst in seinen Augen waren es immer noch seine Augen, und dadurch fühlte ich mich besser, stärker. Gemeinsam traten wir durch die Tür, die mit einem dumpfen Geräusch hinter uns zufiel. Ich wäre ja herumgewirbelt … wenn ich nicht so gebannt gewesen wäre von dem, was vor uns lag.

Lebendige Harmonie.

Ein stattlicher Raum mit Steinboden und weiteren holzverkleideten Wänden, aber dieses Mal mit einer Kombination aus Licht und dunklen Schatten, die im Zusammenspiel … lebendig wirkten. Die Holztäfelung war unglaublich – einige Teile waren so dunkel, als wäre das Holz verbrannt und dann mit der Wand verschmolzen worden. Andere Teile waren so hell, dass das Holz fast grün wirkte, weil es so jung war. Zusammen mit den Farbtönen des glänzenden Fußbodens und dem flackernden Kerzenlicht von den gusseisernen Laternen wirkte der Raum, als hätte er eine eigene Seele. Wir gingen zur gegenüberliegenden Wand, und ich war mir sicher, dass wir an einem Ort waren, der vollkommen und elegant im Gleichgewicht war und gleichzeitig vollkommen und nervenaufreibend jenseitig.

Wie lang es diesen Ort wohl schon gab?

Nachdem wir uns unsere Umgebung sorgfältig angeschaut hatten, ging Lincoln in eine Ecke und verschmolz mit den Schatten – von dort hatte er den bestmöglichen Überblick. Als ich seine Zielsicherheit sah, kam mir der Verdacht, dass auch er eine Zeit lang Wächtertum an der Akademie belegt hatte.

Ich blieb an der gegenüberliegenden Wand stehen, die fast ganz aus Glas bestand, durch das man einen Ausblick auf das wogende Meer hatte. Das Spiegelbild des Vollmonds funkelte im Wasser und schwankte durch die kontinuierliche Bewegung. Wir befanden uns tief unter dem Leuchtturm, die Glasfront war – für das menschliche Auge offensichtlich verborgen – in die Klippenoberfläche eingebettet.

»Schön«, erklang eine fließende Stimme aus der Ecke des Raumes.

Mir stockte der Atem und ich suchte nach dem Besitzer der Stimme.

Jemand war hinter uns aufgetaucht, während ich die Aussicht bewundert hatte. Ich hatte nicht einmal die Sinneswahrnehmungen beachtet, die stärker geworden waren. Ähnlich wie bei meiner Kunst hatte ich es zugelassen, dass ich vom Design des Raumes abgelenkt wurde, ein möglicherweise gefährliches Versehen.

Ich hatte nicht einmal gehört, wie sich die Tür geöffnet hatte, ein Gedanke, der mich schaudern ließ. Ich warf Lincoln einen Blick zu, aber er rührte sich nicht. Er schien nicht einmal zu mir herüberzuschauen.

Zu meiner Erleichterung hatte der Fremde – offenbar ein Verbannter – ein Gesicht. Die Leere der Schreckensgestalten, die uns begrüßt hatten, hing mir noch immer nach, zerrte an vergrabenen Gefühlen, von denen ich nicht wollte, dass sie wieder an die Oberfläche kamen. Seltsamerweise war dieses Wesen nicht so auffällig wie die meisten anderen Verbannten. Er war hübsch, aber trotz seiner beeindruckenden Größe auf eine sanfte Art. Haselnussbraunes Haar fiel ihm in sanften Wellen ums Gesicht, freundliche Runzeln waren in seine gebräunte, olivfarbene Haut eingraviert und seine mokkafarbenen Augen wirkten warm, aber gleichzeitig gefährlich. Er war breitschultrig und muskulös, doch seine feinen Züge hielten irgendwie alles im Gleichgewicht. Er sah wie ein freundlicher Riese aus. Aber er war ein Verbannter.

Ich konzentrierte mich auf meine Sinne, ließ sie die Wahrheit für mich malen. Er schmeckte nach mehligen roten Äpfeln, wie Früchte, die gefroren und später aufgetaut waren. Er roch eher nach Kräutern als nach Blumen – Thymian und Rosmarin. Das Geräusch schlagender Vogelflügel, die in Bäume krachten, war nicht viel anders als sonst, ebenso die gegensätzlichen Empfindungen von Wärme und Kälte, die durch mein Blut und meine Knochen flossen. Doch als ich nach dem Aufblitzen von Morgen und Abend suchte, das immer kam, wenn ich in der Nähe eines Verbannten war – war da nichts.

Er legte die Entfernung zwischen uns zurück und blieb vor mir stehen.

»Unglaublich schön«, sagte er und schaute mich von oben bis unten an. Er warf einen Blick zu Lincoln hinüber, der so still geworden war in seiner Ecke, dass selbst ich seine Anwesenheit kaum wahrnahm.

»Ich werde heute Abend aber verwöhnt.« Verlangen blitzte hinter seinen sanften Augen auf.

Nervös räusperte ich mich. Mir war klar, dass ich als diejenige, die mit dieser Aufgabe betraut worden war, das Reden übernehmen musste, wenn das alles funktionieren sollte.

»Wir sind hier, um dir den Schmuck zu geben und dafür die Erlaubnis zu erhalten, auf Santorin zu bleiben.« Mein Mund war so trocken, dass ich zwischen den Wörtern schlucken musste.

»Dazu kommen wir gleich. Möchtest du nicht vielleicht zuerst mit mir zu Abend essen? Oder zumindest etwas trinken?« Er lächelte gefährlich, was mir dabei half, meinen ersten Eindruck zu überdenken.

Ich wusste nicht, was wir sagen sollten – aber Josephine hatte nichts davon gesagt, dass wir zu einer Mahlzeit bleiben müssen. »Wir würden es bevorzugen, den Austausch vorzunehmen und uns dann wieder auf den Weg zu machen.«

Er neigte den Kopf. »Dein Name?«

Ich spürte, wie meine Handflächen feucht wurden. »Violet.«

»Und dein Schatten?«

»Lincoln«, sagte ich und klang dabei so nervös, wie ich tatsächlich war. Niemandem von uns wäre geholfen, wenn ich so früh die Kontrolle über das Gespräch verlieren würde. Ich richtete mich ein wenig auf. »Und du bist wer?«

»Viele nennen mich heute einfach den Hüter. Davor war ich unter dem Namen Irin bekannt. Du kannst dir aussuchen, wie du mich nennst.«

»Okay, Irin.«

Eine gesichtslose Gestalt betrat mit einem Tablett den Raum, auf dem zwei Champagnerkelche standen. Sie blieb vor Irin stehen, der mir bedeutete, ein Glas zu nehmen. Doch ich konnte nicht aufhören, die seltsame Gestalt anzustarren, die das Echo von Qualen heraufbeschwor, das in meinen Ohren hallte. Nicht annähernd so schlimm wie das Orchester, das erklungen war, als wir eintraten, aber trotzdem verwirrend. Und bestürzend.

Irin räusperte sich.

Ich schaute wieder auf das Tablett. »Oh. Nein. Danke, schon gut.«

»Bitte, ein Drink wird nicht schaden, und ich wäre verletzt, wenn du meine Gastfreundschaft nicht annehmen würdest.« Er nahm das Glas und hielt es mir hin.

Ich hätte am liebsten Lincoln angeschaut, ihn gefragt, ob er glaubte, es sei vergiftet. Aber ich tat es nicht, weil ich Angst hatte, für schwach gehalten zu werden. Er konnte es sowieso nicht wissen.

Ich nahm das Glas. Irin lächelte und nahm das andere, er ließ es gegen mein Glas klirren und trank dann langsam, wobei er wartete, bis ich es ihm nachtat. Ich trank.

Nur Champagner – soweit ich das beurteilen konnte.

Und er war köstlich.

Ich hatte noch nie zuvor etwas so Teures getrunken.

»Nun, Violet, bitte dreh dich und zeig mir meine Bezahlung.«

Ich wurde rot und nahm einen weiteren großen Schluck Champagner, wobei mir auffiel, dass sich mein Glas irgendwie wieder aufgefüllt hatte.

Vorstellungskraft.

Ich nahm einen weiteren Schluck. Wieder dasselbe.

Wahrscheinlich ist er nicht einmal real. Aber er schmeckt gut.

Ungeschickt begann ich, mich auf der Stelle zu drehen.

»Nein«, sagte Irin. »So geht das nicht.« Er kam näher und nahm mir das Glas aus der Hand. »Dein Haar – es ist zwar schön, wenn es offen ist, aber im Moment wäre es besser, wenn es nicht deinen Hals verdeckt. Würdest du es bitte nach oben halten, während du mir das … Angebot zeigst?«

Mir fiel auf, dass er nicht Schmuck sagte, und ich spürte, wie die Angst in meinem Nacken prickelte.

Ich biss mir auf die Lippe, weil ich mich zunehmend unbehaglich fühlte. Ich hielt mit beiden Händen mein Haar hoch und fing wieder an, mich zu drehen. Ich ließ mir Zeit, damit er nicht von mir verlangte, es zu wiederholen. Ich versuchte, Lincoln einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, aber ich konnte ihn überhaupt nicht sehen, auch wenn ich ihn und seine Kraft im Raum spüren konnte.

Als ich mich ganz gedreht hatte, schien Irin zufrieden zu sein.

»Erstaunlich«, sagte er und gab mir meinen Champagner zurück. Ich nahm noch einen Schluck.

Ich begann mich irgendwie seltsam zu fühlen und fragte mich, ob es am Champagner lag. Aber es war nicht wie Betrunkensein, auch nicht wie eine Reaktion auf Gift – es war beinahe … emotional. Ich schob es beiseite.

»Gefällt dir Santorin?«, fragte Irin und ging zum Fenster.

»Es ist schön. Lebst du deshalb hier?«

Er lachte leichthin. »Ursprünglich vielleicht. Aber jetzt kann ich es mir nicht vorstellen, woanders zu sein. Ich habe einst Utopia auf dieser Insel errichtet, das von Wohlstand und Nahrung nur so überquoll – alles war genauso wie …« Er verstummte allmählich und fixierte mich mit seinem Blick. »Ich werde nie von hier weggehen. Auch wenn ich mich manchmal nach etwas Neuem sehne.«

»Von welchem Rang bist du?«, fragte ich, unsicher, ob ich jetzt nicht zu weit gegangen war.

Irin schien meine Frage nicht zu stören, er wirkte nicht beleidigt. »Ursprünglich? Von den Fürstentümern, aber dann wurde ich in diese Welt geschickt. Der Erste meiner Art. Jetzt bin ich der Letzte.« Einen Moment lang schien er traurig zu sein, aber er riss sich schnell wieder zusammen. »Und ich habe einen Weg gefunden zu überleben.«

»Durch Töten«, sagte ich leise.

»Von Zeit zu Zeit, doch mein Geschmack erlaubt es mir nicht, es mehr als nur zum Überleben zu tun. Ich bin nicht so schrecklich wie meine verbannten Brüder. Und ich bin mental auch nicht so entgleist wie sie. Ich war dazu bestimmt, körperliche Form anzunehmen, deshalb habe ich mich leichter angepasst … allerdings …« Sein Gesichtsausdruck schwankte irgendwo zwischen duldsam und verzweifelt. »Allerdings muss ich zugeben, dass ich dadurch auch … Bedürfnisse habe.«

»Was für Bedürfnisse? Was bist du?«, fragte ich und nahm einen Schluck von meinem Getränk. Dabei bemerkte ich, dass ich, jedes Mal wenn er trank, auch das Bedürfnis verspürte, einen Schluck zu nehmen.

»Meine Liebe, Irin‹ ist nur ein anderer Name für Grigori‹.«