Kapitel Fünfundzwanzig
»Was immer das Schicksal will – Gefahr oder Schmerz oder vorherbestimmter Tod –, es kann durch nichts abgewendet werden.«
Theognis von Megara
Auf dem Rückweg nach Fira saß Lincoln wieder vorne. Ich saß hinten neben Max und versuchte, nicht in der überwältigenden Kraftmenge zu ersticken, die Lincoln einsetzte. Niemand sagte etwas.
Der Chauffeur setzte uns im Hotel ab, und Lincoln stieg augenblicklich aus und rannte die Treppe hinauf, wobei er immer drei Stufen auf einmal nahm.
Ich folgte ihm, weniger enthusiastisch.
Als ich im Foyer ankam, konnte ich ihn brüllen hören. Ich ging dem Lärm nach in die Hotelbar. Dort fand ich Josephine, die gemütlich dasaß, umgeben von vier ihrer Ninjas.
Morgan entdeckte mich, wie ich so im Türrahmen stand, und ihre Miene verfinsterte sich ein wenig. Sie rutschte auf ihrem Platz herum, als wollte sie zu mir herüberkommen, aber ich schüttelte den Kopf. Es würde nichts nützen, wenn sie ihren Posten verlassen würde.
»Dazu hattest du kein Recht! Ein Inkubus!«, bellte Lincoln. Seit ich hereingekommen war, hatte er diese Worte bereits dreimal geschrien. »Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wie viel du da riskierst?«
Josephine strich ihren Rock glatt und sah uninteressiert aus. »Lincoln, beruhige dich. Ich habe euch da reingeschickt, damit ihr euren Job macht. Der Hüter hat mich angerufen, nachdem ihr von dort weggegangen wart, und hat mir mitgeteilt, dass wir auf Santorin willkommen sind. Ihr seid beide unbeschadet zurückgekommen, ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt.« Doch die Art und Weise, wie sich ihr Blick von gelangweilt zu herausfordernd gewandelt hatte, verriet, dass sie es ganz genau verstand.
»Du hast mit uns gespielt! Das hatte nichts mit Violets Kraft zu tun, sondern ausschließlich mit unserer … Verbindung«, schrie Lincoln, noch immer außer sich, aber nicht mehr so laut. Seit wann hatte er unsere Beziehung zu einer Verbindung degradiert?
Josephine stand auf. »Ja, das war der leichteste Weg. Ich wusste, dass uns der Hüter den Aufenthalt hier gewähren würde, sobald er euch beide zu Gesicht bekäme. Ich muss hier einen Job erledigen und dazu gehört nicht, Rücksicht auf die Gefühle von dir und deiner Partnerin zu nehmen.« Sie eilte an ihm vorbei in Richtung Ausgang. »Also wirklich, Lincoln, dieses ganze Seelenverwandte-Dings ermüdet mich. Das ist nichts anderes als eine erzwungene chemische Reaktion, die nichts mit deinen wahren Gefühlen für das Mädchen zu tun hat. Du musst irgendwann lernen, die Auswirkungen unter Kontrolle zu bekommen, es sei denn, du möchtest so enden wie Nyla. Ich setze immer noch große Hoffnungen in dich. Betrachte das doch einfach als deine erste Bewährungsprobe.« Josephine ging zur Tür hinaus, aber nicht ohne einen Blick in meine Richtung geworfen zu haben. Sie wusste, dass ich alles gehört hatte.
Lincoln stand reglos da, seine Hände hingen zu Fäusten geballt an seinen Seiten. Sobald sie weg war, ließ er den Kopf hängen und atmete stockend aus.
»Ist es so schrecklich, in meiner Nähe zu sein?«, fragte ich leise.
Sein Kopf flog nach oben und er wirbelte herum. Er hatte meine Anwesenheit nicht bemerkt – schon an sich ein Zeichen dafür, wie durcheinander er war.
»Violet, du … solltest schlafen gehen.« Seine Schultern spannten sich an, und er ging an die Bar, wo er sich ein Glas Wein aus einer Flasche einschenkte, die wohl Josephine gehörte.
Ich lehnte mich gegen einen Hocker und zog die Schuhe aus, die hinten an den Fersen eingeschnitten hatten. »Du hättest wenigstens sagen können, dass ich hübsch aussehe. Oder … ich weiß nicht, irgendetwas eben.« Aus irgendwelchen Gründen schien das – nach allem, was heute Abend passiert war – das zu sein, was am meisten an mir nagte.
Er nahm einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf. »Du willst bestimmt nicht, dass ich anfange, irgendetwas zu sagen, glaub mir.«
Ich spürte ein Brennen in den Augen und blinzelte Tränen zurück. »Bin ich wirklich das, von dem du am meisten fürchtest, es in dir selbst zu sehen?«
Er ließ sich auf einen Hocker fallen. »Ist Leere wirklich das, was du fürchtest, in dir zu sehen?« Er sah so gequält aus, dass ich beschloss, ihm eine ehrliche Antwort zu geben.
»Ja. Seit meiner Zusage, als ich dieses Bild von mir selbst tötete … befürchte ich, dass ein Teil von dem, was ich getan habe, wahr ist, dass ich wirklich einen Teil meiner selbst umgebracht habe. Es fühlte sich echt an. Zuerst dachte ich, es sei meine Seele gewesen, aber als dann du und ich … Na ja, die Dinge wären nicht, wie sie sind, wenn ich keine Seele hätte, oder?«
Er hob sein Glas, als wollte er mir zustimmen.
»Aber mir jagt noch immer Angst ein, was aus mir geworden ist, was gerade aus mir wird …« Ich betrachtete den blauen Teppich und mied seinen Blick. »All die Dinge, die ich aufgegeben habe.« Ich konnte ihn noch immer nicht ansehen, aber als ich den Barhocker knacken hörte, fügte ich rasch hinzu: »Antworte mir jetzt. Bin ich das, was du am meisten fürchtest?«
Er bewegte sich, trank sein Glas leer und kam ein paar Schritte auf mich zu. Doch ich musste es wissen. »Antworte mir«, beharrte ich.
Er blieb stehen und seufzte. »Ja, das ist es, wovor ich mich am meisten fürchte.«
Ich schloss die Augen und nickte, mein Kiefer und mein Nacken schmerzten bei dieser schrecklichen Wahrheit.
Ich bin so eine Idiotin. Geh. Sofort!
»Kein Wunder, dass der heutige Abend entsetzlich für dich war. Na dann, gute Nacht«, sagte ich, wobei ich kaum die Worte herausbrachte. Dann eilte ich zur Treppe.
»Violet!«, rief mir Lincoln nach.
Doch ich wollte nicht noch mehr hören. Hatte Josephine recht? Waren Lincolns Gefühle für mich nur vorhanden, weil unsere Seelen chemisch irgendwie zueinander hingezogen wurden? Glaubte er, dass er mich nur deshalb mochte?
Ich rannte die Treppe hinauf, weil ich mich plötzlich lächerlich fühlte in meinem Outfit. Anstatt in mein Zimmer zu gehen, rannte ich weiter und konnte erst stehen bleiben, als ich aufs Dach hinausstolperte, wo ich nach frischer Luft schnappte.
Der Ausblick über Santorin war atemberaubend, und obwohl mir alles vor den Augen verschwamm, war ich wieder von seiner Schönheit überwältigt. Doch jetzt brachte es mich nur noch mehr zum Weinen.
Alles Schöne ist befleckt.
Um meine Ansicht zu untermauern, blickte ich hinaus auf das Meer und die Silhouette des Vulkans.
Wie schaffe ich das? Wie kann ich diese Person sein, die in diesen Schlachten kämpft?
Alles, was ich wollte, war, meinen Flanellpyjama anziehen, eine große Packung Eis essen und mir die Augen ausheulen. Jeder wollte, dass ich jemand war, der ich nicht war. Selbst Lincoln.
»Ich und mein großes Mundwerk«, murmelte ich vor mich hin. »So bescheuert.« Da stand er nun inmitten seines schlimmsten Albtraums, und ich sagte ihm auch noch, dass ich ihn liebe.
Ich lehnte mich gegen eine der kleinen Absperrmauern und ließ mich zu Boden sinken. Da merkte ich erst, wie erschöpft ich eigentlich war. Ich weinte und weinte, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich in mein Zimmer gehen sollte. Man erwartete von uns, dass wir morgen früh aufstanden, um mit unseren Nachforschungen zu beginnen. Doch all meine Stärke war verschwunden, und jetzt war auch noch meine Wut verflogen.
Als ich auf dem harten Betonboden auf dem Dach einschlief, strich mir eine kühle Brise, die nach Moschus und Jasmin duftete, durch das Haar und über das Gesicht. Irgendetwas sagte mir, dass ich etwas tun sollte, läutete eine stumme Alarmglocke in mir, aber ich war wie betäubt und ignorierte es. Schon bald schlief ich tief und fest.
Der Untergrund war uneben und irgendetwas grub sich in meinen Rücken. Ich wollte gerade die Augen aufschlagen, als ich ihn spürte. Er war offenbar schon eine Weile da. Die Sinneswahrnehmungen hatten sich schon fest in mir etabliert, es fühlte sich nicht an, als wären sie gerade erst aufgeflackert.
Wie konnte ich das nur verschlafen?
Ich versuchte, mich nicht zu verkrampfen, und unterdrückte meinen Instinkt, aufzuspringen und auf Konfrontationskurs zu gehen. Wenn er gekommen wäre, um mich umzubringen, dann hätte er das längst getan, es wäre ein Leichtes gewesen.
Mir hing das Haar über das Gesicht, deshalb ergriff ich die Chance und schlug meine Augen auf. Er saß auf der Mauer, hatte die Füße hochgezogen und sich an einen der höheren Pfeiler gelehnt. Die Sonne ging gerade auf und sorgte mit ihren ersten warmen Strahlen für die perfekte Hintergrundbeleuchtung.
Er blickte hinaus zum Horizont, aber ich konnte seine Augen sehen. Müde, einsam … Verloren.
»Ich weiß, dass du wach bist«, sagte Phoenix.
Ich war nicht überrascht. Er bewegte sich nicht und sagte auch nichts mehr, deshalb setzte ich mich auf und streckte dabei meinen verspannten Körper.
Ich stand auf und ertappte mich dabei, wie ich auf ihn zuging, erstaunt, wie wohl ich mich von Zeit zu Zeit in seiner Gegenwart fühlte, obwohl ich wusste, wie sehr er mich hasste und dass er mich letztendlich umbringen würde. Vielleicht barg das eine Art Frieden. Vielleicht spürte er es auch, weil er wusste, dass ich ihn mit mir nehmen würde, wenn ich konnte.
»Ich sagte doch, dass das Kleid hinreißend an dir aussehen würde.«
Und dann kam das Seltsamste. Er griff hinter seinen Rücken und holte einen Pappbecher hervor, den er mir reichte. Kaffeeduft hüllte mich ein.
Ich nahm den Becher und starrte ihn völlig verblüfft an.
»Trink. Ich brauche kein Gift, um dich umzubringen«, sagte er rundheraus.
Leider wahr.
Der Kaffee war heiß, und doch wusste ich, dass Phoenix schon eine Weile da war. War er gekommen und dann wieder gegangen? Hatte er gesehen, dass ich mich bewegte, und war dann gegangen, um ihn zu holen? Ich nahm einen Schluck und wäre fast daran erstickt.
»Unsere Definitionen von Gift gehen wohl ein wenig auseinander«, sagte ich und hielt ihm den Becher wieder hin.
»Trink das.«
Ich widerstand dem Verlangen, auszuspucken. »Was ist das und wie viel Zucker ist da drin?«
»Kaffee und Ginseng, jede Menge davon. Trink. Du brauchst es.«
Ich musterte ihn misstrauisch. »Warum?«
»Weil sich der Hüter gestern Abend an dir sattgegessen hat.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Und er hat gut gegessen.«
»Woher weißt du das?«, fragte ich und schlang die Arme um mich herum, weil ich mich an das unbehagliche Gefühl erinnerte, das ich hatte, als Irins Blick auf mir ruhte.
»Dein Aussehen sagt mir genug, aber … ich kann dich auch nicht so wahrnehmen wie sonst immer.«
Das war interessant. »Und das macht dir etwas aus? Warum?«
Er antwortete nicht.
Ich lachte halb. »Genau wie in Jordanien«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. »Du brauchst mich. Himmel, du mästest mich doch nur für die Schlachtbank!« Trotzdem nahm ich noch einen Schluck. Wenn es half, mir meine Stärke zurückzubringen, dann würde ich es nicht ablehnen.
Er lächelte, aber das Lächeln verschwand schnell wieder.
»Ihr habt die Schrift also entschlüsselt.«
Unsere Hoffnung, ein paar Tage Vorsprung vor ihm zu haben, war somit dahin.
»Natürlich.«
Ich schaute mich um und fragte mich, wie er es geschafft hatte, durch ein Hotel voller Grigori zu kommen. »Bist du hierher geflogen?«, fragte ich, weil ich mir sicher war, dass ich das unverwechselbare Quietschen gehört hätte, wenn die Treppenhaustür aufgegangen wäre.
»Nein. Ich bin über die Dächer gekommen. Bis zu diesem hier war es ein ganz schöner Sprung – aber wenn ich mich so schnell bewege, trägt mich mein Schwung.«
»Ja. Macht Sinn.« Nichts konnte Phoenix aufhalten, wenn er wie der Wind wurde. Ein Gedanke, bei dem ich schauderte.
Wir standen auf und blickten zum Horizont und zum Vulkan hinüber. Ich wusste, dass er einen Grund haben musste, hier zu sein, und das konnte kein guter sein. Aber er war bei mir, wo ich ihn sehen konnte, und attackierte nicht meine Freunde oder schlich sich von hinten an. Das machte alles irgendwie leichter.
Er musterte mich noch einmal von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass der Hüter von uns bisher noch keine Bezahlung eingefordert hat.«
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Mundwinkel nach oben zuckten. »Ich bin mir sicher, er wird dich lieben.«
Wenn jemand wie Phoenix den Hüter mit Gefühlen versorgte, wäre das wahrscheinlich der ultimative Genuss für ihn.
Phoenix zuckte mit den Schultern. »Deshalb wird er mich nie zu Gesicht bekommen.«
»Warum nicht?« Das schien sich von selbst zu verstehen.
Er lächelte ein Lächeln, dass ich noch nie zuvor gesehen hatte … alles veränderte sich.
»Für einen wie ihn stelle ich so etwas wie Gefühle in einer Tropfinfusion dar. Und nach dem Festessen, das er gerade zu sich genommen hat, ist er sehr stark. Er wird versuchen, mich nie mehr gehen zu lassen.«
»Gut zu wissen«, sagte ich.
Sein Lächeln wurde breiter. Er sprang von der Mauer und stellte sich unangenehm dicht neben mich. »Und? Wie fühlt es sich an?«, fragte er nachdrücklich.
Ich wusste nicht, ob wir kurz davor waren zu kämpfen oder ob gleich welche von seinen Verbannten kommen würden – so wie Phoenix’ Wahrnehmung von mir irgendwie ausgeschaltet war, war ich mir ebenfalls sicher, dass auch meine nicht hundertprozentig funktionierte. Trotzdem wurde ich zunehmend entspannter. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob er mich das empfinden ließ.
»Ich weiß, dass du mich geheilt hast. Damals in Jordanien, als du gesehen hast, dass sich Magda auf dich stürzt. Du heiltest mich, für den Fall, dass sie dich zurückschickt.«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wäre er müde, und verbarg dadurch seine Augen.
»Ich brauchte meine gesamte Kraft. Für dich hätte es sowieso keinen Unterschied gemacht, wenn sie mich gekriegt hätte.«
Da hatte er recht. Wenn sie ihn zurückgeschickt hätte, wäre ich jetzt tot.
»Warum hasst du mich so sehr?«
Phoenix warf einen gefährlichen Blick in meine Richtung. »Ich hatte ein Leben, bevor du gekommen bist. Es war nicht perfekt, aber ich hatte es im Griff. Du hast mich dazu gebracht, Dinge zu wollen, dazugehören zu wollen. Jetzt mache ich erst Halt, wenn ich das erreicht habe.«
»Glaubst du wirklich, du wirst deinen Platz in dieser Welt finden, indem du sie zurückholst?«
Er lächelte wieder. Dieses Mal ohne Wärme. Ich war zu weit gegangen, der Tonfall unseres Gesprächs hatte sich verändert.
»Sie wird sich die Welt nehmen – und ich werde der Sohn sein, der das alles möglich gemacht hat.«
»Ja, das wirst du sein. Kannst du damit leben? Ich weiß nämlich, dass die Person, die einst mein Freund war, niemals damit einverstanden gewesen wäre, diese Form des Bösen in die Welt zu bringen.«
Er sprang wieder auf die Mauer. »Ich war nie dein Freund. Und außerdem gibt es diese Person sowieso nicht mehr. Es ist nur noch der Verbannte geblieben. Ich muss noch Vorbereitungen treffen, aber ich komme zurück. Wir sehen uns heute um Mitternacht hier oben.«
»Und warum sollte ich kommen?«
»Ich will dir noch nicht das Leben nehmen, aber einige deiner Freunde sind weit entbehrlicher. Ich habe nicht nur hier Verbannte, Liebling, ich habe auch noch ein paar zu Hause, die über deinem Vater wachen.«
Meine Hand flog zu meinem Mund.
»Er ist in Sicherheit, keine Sorge. Ich weiß, dass du ihn nicht im Stich lassen wirst.« Damit sprang er vom Dach, seine letzten Worte erreichten mich gerade noch. »Du allein, Violet.«
Er nannte mich beim Namen.
Ich konnte ihn nicht im Auge behalten, weil er so schnell war – nur der Wind blieb. Mir fiel auf, dass er nicht versucht hatte, seine Kraft bei mir einzusetzen, mir diese Gefühle der Lust und der Verführung aufzudrängen. Das machte mich nur noch nervöser.
Phoenix hatte recht. Jetzt hatte der Verbannte übernommen. Das Menschliche in ihm schien fast vollständig ausgelöscht zu sein.
Und mit den Spielchen war jetzt Schluss.