Kapitel Zwei
»Die Defekte und Fehler des Verstandes
sind
wie Wunden des Körpers. Auch wenn alles Vorstellbare unternommen
wird, um sie zu heilen, Narben werden trotzdem bleiben.«
François de la Rochefoucauld
Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder die Alte werden würde, nach allem was in Jordanien geschehen war. Und ob ich das überhaupt wollte. Rudyard zu verlieren … und Nyla – die unglaubliche Art und Weise, wie ihre Seelen miteinander verflochten gewesen waren, und wie sie dann so brutal auseinandergerissen wurden. Der Schrei, das letzte Geräusch, das über Nylas Lippen gekommen war, hallte noch immer in meinen Ohren nach. Verfolgte mich. Und auch wenn ich so tat, als ginge es mir gut – es brauchte all meine Kraft, um mich dazu zu zwingen, nicht mit ihr zu schreien.
Das Härteste daran waren die Gedanken, die sich in mein Gehirn schlichen, wenn ich sie nicht daran hinderte. Die egoistischen Gedanken, die mich wünschen ließen, Lincoln und ich hätten nicht gewartet und hätten unseren Seelen vor Rudyards Tod erlaubt, vollständig miteinander zu verschmelzen, bevor wir wussten, dass wir uns dadurch gegenseitig zu solch einem qualvollen Schicksal wie Nylas verdammen würden.
Ich schauderte, schlang mir die Arme um die Taille und schob rasch diese Gefühle, für die ich mich selbst hasste, beiseite.
Steph wartete bereits an meinem Spind auf mich. Sie unterhielt sich mit Marcus, ihrem Exfreund. Irgendwie war es ihnen gelungen, Freunde zu bleiben. So etwas konnte auch nur Steph schaffen.
Vielleicht sollte ich mir ein paar Tipps geben lassen.
Als ich ankam, verabschiedete er sich bereits, indem er ihr einen Kuss auf die Wange drückte, bevor er davonstürzte, um seine Freunde einzuholen.
Ich lächelte, als ich auf die Mappe blickte, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Ganz oben lag eine Englischarbeit – mit einer dicken, rot umrandeten Eins plus. Bei all der außerschulischen Belastung sollte man annehmen, dass ihre Noten darunter leiden würden, aber Steph behielt alles im Griff.
Sie trat nah an mich heran und senkte die Stimme.
»Ich habe von deinem Kunstunterricht gehört. Alles in Ordnung?«, fragte sie, wobei sie nervös über ihre Schulter blickte, als würde sie jeden Augenblick damit rechnen, dass Geheimagenten von der Decke fielen.
Ich unterdrückte einen Seufzer. »Ja, das war meine Schuld.«
»Gab es, du weißt schon … Hat Phoenix eine Botschaft geschickt?«
»Nein«, sagte ich ein wenig schärfer, als ich vorgehabt hatte. Wie es aussah, war das die einzige Frage, die mir die Leute zurzeit stellten.
Sie nickte und sah besorgt aus, aber sie spürte auch, dass ich gern das Thema wechseln wollte. »Sal hat mir heute eine SMS geschrieben«, leitete sie elegant über. »Sie haben gefragt, ob sie zurückkehren dürfen, aber es läuft nicht gut.« Sie machte ein finsteres Gesicht. »Spence’ Entscheidung hierzubleiben, ohne das mit der Akademie zu besprechen, war nicht unbedingt hilfreich. Er glaubt, es wird noch ein paar Wochen dauern, bis sie eine Entscheidung treffen.«
Es war sechs Wochen her, seit Salvatore und Zoe nach New York zurückgekehrt waren. In mancherlei Hinsicht schien es erst gestern gewesen zu sein, dass wir alle in Dappers Wohnung gestanden und die Schrift der Verbannten enträtselt hatten, nachdem ich den Verbannten Jude beziehungsweise Judas »zurückgeschickt« hatte.
Ich lächelte und versuchte, Mitgefühl für Steph aufzubringen. Ich freute mich für sie und Sal, den italienischen Grigori, in den sie sich verliebt hatte, es war nur manchmal schwierig, mich selbst davon zu überzeugen.
»Stehen sie sehr unter Druck, die Einzelheiten darüber, was in Jordanien geschehen ist, preiszugeben?«, fragte ich, wobei ich mich schuldig fühlte. Griffin hatte all denen ein Redeverbot erteilt, die mit in dieser Höhle gewesen waren, als Phoenix die große Enthüllung gemacht hatte, dass ich die erste Grigori sei, die von einem der höchstrangigen Engel, einem der Einzigen, gemacht wurde. Es war ein schmaler Grat, auf dem sich Griffin da bewegte – die Information zurückzuhalten, bis er sich absolut sicher war. Deshalb hatte er mir gegenüber auch ganz deutlich gemacht, dass er nichts von dem wissen wollte, was ich vielleicht über dieses Thema wusste – wie zum Beispiel, wie der Engel, der mich gemacht hat, meine Träume heimsuchte und, na ja, alles bestätigte.
»Ich glaube, der Rat hat es aufgegeben, irgendetwas aus ihnen herauskriegen zu wollen. Sal sagte, zumindest seien haufenweise Gerüchte im Umlauf.«
Ich zuckte mit den Schultern. Das hatten wir erwartet. Außer den anderen Grigori waren in der Höhle noch haufenweise verbannte Engel gewesen. Wir waren uns sicher, dass sie die Neuigkeiten verbreiten würden – zusammen mit ihrem heftigen Verlangen, derjenige zu sein, der mich umbringen würde.
»Sie werden eine Lösung finden«, versicherte ich ihr und schob die anderen Gedanken gekonnt beiseite. »Sal wird einen Weg finden.«
Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Ja, er sagte, dass Zoe an etwas arbeitet. Es ist nur … du weißt schon.«
»Ja.« Ich schluckte und versuchte, mich zusammenzureißen.
Oh, ich weiß.
Eine Tasche plumpste schwer auf meine Füße. Ich drehte mich um und sah, wie Spence an den Spinden hinunterglitt und sich auf den Boden fallen ließ.
»Diese Schulsache war eine schlechte Idee«, stöhnte er. »Eden, du musst etwas unternehmen, deine Autorität spielen lassen oder so.«
»Keine Chance, Mann«, sagte ich, weil er mir überhaupt nicht leidtat. Griffin hatte Spence gezwungen, seine Ausbildung zu beenden, wenn er vorhatte, in dieser Stadt zu bleiben. »Jedenfalls hattest du eine großartige Zeit in Sport, wie ich gehört habe«, fügte ich hinzu und zog die Augenbrauen nach oben. Es war seine zweite Woche an der Schule und Spence hatte bereits die Grenzen des menschlich möglichen Sports überschritten.
Er sah mich verlegen an. »Du hast es gesehen, was?«
»Nein, aber alle reden seit dem Mittagessen darüber. Offensichtlich bist du Gottes Geschenk an den Basketballplatz.«
»Hättest du nicht wenigstens versuchen können, dich anzupassen?«, fragte Steph gereizt, wenn auch aus anderen Gründen, wie ich vermutete.
Spence hielt inne, aber dann ließ er sich noch weiter nach unten sinken und seine Hände auf den Boden klatschen. »Ich musste Dampf ablassen.«
Steph verdrehte die Augen und sagte dann rundheraus: »Er ist durch den unangekündigten Test in Chemie gerasselt.«
»Und Geschichte«, fügte Spence hinzu. »Und dann habe ich nicht einmal einen Kampf bekommen.« Er funkelte mich an.
Er sah so niedergeschlagen aus, dass ich fast Mitleid mit ihm bekam, aber genau da schlenderte Lydia Skilton vorbei, mit drei ihrer Möchtegern-Lydias im Schlepptau. Beim Gehen schien ihr rosa Ballerina-Tutu – kein Witz – ganz von selbst hochzurutschen, während sie sich wie in Zeitlupe über die Lippen leckte und affektiert mit den Fingern in Spence’ Richtung winkte.
»Ciao, Spence. Bis morgen.«
Spence setzte sich ein wenig auf und wandelte sich vom selbstmitleidigen Idioten zum relaxten heißen Typen, als er träge lächelnd seine Hand hob.
»Ciao, Lydia.« Er starrte auf ihren Hintern, bis sich die Türen am Ende des Korridors hinter ihr schlossen.
»Entschuldigt, aber bevor ich jetzt auf die Toilette gehe und mich übergebe, muss ich es genau wissen – hast du gerade tatsächlich Lydia Skilton zugezwinkert?«, fragte Steph angewidert, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich genauso aussah.
Spence sank wieder zurück auf den Boden und nahm seine vorherige Das-Leben-hat-mir-übel-mitgespielt-Haltung ein und zuckte mit den Schultern. »Das Mädchen ist heiß.« Dann sprach er schnell weiter, bevor Steph eine bissige Bemerkung machen konnte, und sah mich dabei mit einem erwartungsvollen Funkeln in den Augen an. »Gehen wir?«
Ich schluckte, ebenfalls erleichtert, und schnappte meine Trainingstasche. »Ja.«
Ich wand mich aus meinem Malkittel, wischte dabei meine immer noch kohleverschmierten Hände daran ab und zog eine schwarze Leggins unter meine Schuluniform, bevor ich sie auszog. Ich zog immer ein schwarzes Unterhemd darunter an, um mich schnell und leicht umziehen zu können.
»Training?«, fragte Steph.
Ich zuckte mit den Schultern. Das war keine Überraschung. Das Training war jedenfalls der beste Teil meines Tages.
»Lincoln?«, fügte sie rasch hinzu und schaute an mir vorbei den Korridor entlang. Sie musste schon eine Weile vorgehabt haben, diese Frage zu stellen. Seit Wochen hatte sie das Thema nicht mehr angesprochen.
»Nein«, sagte ich und versuchte, das Thema damit zu beenden.
Das hieß nicht, dass ich Lincoln nicht mehr sah, aber in einer Art unausgesprochener Übereinkunft – oder auch Vermeidungsstrategie – hatten wir geglaubt, dass es so besser wäre. Bis die Dinge leichter würden. Ich war mir nicht sicher, ob das für ihn funktionierte.
»Oh«, sagte sie und warf mir einen mitleidigen Blick zu, was ich hasste.
Ich zog einen schwarzen Pullover an und schnallte mir den Gürtel mit dem Dolch um die Taille. Steph sah aufmerksam zu, sie wusste, was ich da machte, aber sie konnte den Dolch mit ihren rein menschlichen Augen nicht sehen. Es erstaunte – und irritierte – sie immer noch, welche Streiche das Übernatürliche ihrem Gehirn spielen konnte. Schließlich stopfte ich meine Tasche in den Spind und holte eine Baseballkappe heraus, die ich mir erleichtert aufsetzte.
»Alles bestens«, sagte ich mit einem Hauch falscher Fröhlichkeit. »Willst du, dass ich dich noch in die Bibliothek begleite?« Wir hatten die Schrift der Verbannten in den Tagen, nachdem wir sie entdeckt hatten, kopiert, und Steph arbeitete fast jeden Tag daran, sie zu entziffern. Bisher hatte sie noch nicht viel. Aber sie hatte mehr Theorien als Griffin und auch als die Akademie.
»Eigentlich gehe ich ins Hades. Die Bücherauswahl in der Bibliothek geht mir langsam aus, und Dapper hat ein paar interessante Bücher, von denen er sagt, dass ich sie mir anschauen kann, aber ihr wisst ja, wie er ist.« Sie verdrehte die Augen. »Er lässt sie mich nicht mitnehmen.«
»Bist du sicher, dass es okay für dich ist, dorthin zu gehen?« Ich machte mir noch immer Sorgen darüber, dass Steph ein Teil dieser Welt war, und das Hades wurde gerade zu einem Knotenpunkt für die Grigori-Aktivitäten in dieser Stadt. Sie wusste so viele Dinge, die normale Menschen niemals erfahren würden, und sie war gegenüber den Mächten, von denen sie umgeben war, schutzlos.
Außerdem lebte dort immer noch Onyx, ein ehemals Respekt einflößender Feind, der inzwischen zwar vollkommen menschlich, aber keineswegs gut war. Wie es aussah, war das zu einem dauerhaften Arrangement geworden.
»Ja. Ich glaube, Samuel und Kaitlin werden auch dort sein«, sagte sie. Es linderte meine Besorgnis nicht, dass zwei weitere Grigori dort sein würden. Im Gegenteil, dass Steph von Grigori eskortiert wurde, bestätigte nur, wie wichtig sie geworden war.
»Okay, na ja, wir können zusammen mit dem Bus hinfahren. Wir trainieren heute im Park«, sagte ich und beschleunigte meine Schritte, weil ich mich darauf freute, mich zu bewegen.
»Endlich!«, beschwerte sich Spence.
»Herrlich«, sagte Steph, als sie den Regen entdeckte, der gegen das Fenster prasselte. »Besser du als ich, nehme ich an«, fügte sie hinzu, während sie ihren Burberry-Karo-Schirm zückte. Sie warf mir ein fieses Grinsen zu. »Aber andererseits darfst du die nächste Stunde oder so Spence vermöbeln.«
Sie nahm es ihm tatsächlich übel, dass Salvatore nicht hierher zurückkehren konnte, aber … ganz unrecht hatte sie nicht. Sie lächelte und knuffte mich liebevoll.
Kurz darauf sagte Spence, der ein paar Schritte vor uns ging: »Das habe ich gehört.«
Ich erwiderte Stephs Lächeln und im nächsten Moment hatten wir uns eingehakt und lachten. Sie hatte so eine Art, die Dinge besser zu machen. Sie war nicht nur meine beste Freundin, sie war meine Familie.