Kapitel Vier

»Doch kein Preis ist zu hoch für das Privileg, sich selbst zu gehören.«

Friedrich Nietzsche

Der Ganzkörperspiegel in meinem Schrank zeigte ein Bild, das ich kaum erkannte. Ich trug ein kleines schwarzes ausgestelltes Kleid und hatte mich für Strumpfhosen entschieden. Normalerweise mochte ich keine Strumpfhosen, aber sie waren gut, wenn man Blutergüsse verstecken wollte. Ein silbernes Tuch, das ich mir vor Ewigkeiten von Steph ausgeliehen hatte, drapierte ich über meine Arme, um die blauen Flecken zu verstecken. Zum Glück waren die Verletzungen an meinem Gesicht überwiegend verheilt, und was noch geblieben war, wurde unter einer Schicht Make-up verborgen.

Es hätte schlimmer sein können. Ich hatte es vorhin tatsächlich geschafft, auf meine Kraft zuzugreifen und mich selbst zu heilen. Ich hatte die Aufgabe nicht ganz erledigt, aber es hatte ausgereicht, den Bruch in meinem Arm und den Schnitt an meinem Kopf zu heilen. Auch ein Teil der Schmerzen und der blauen Flecken konnten dadurch gelindert werden, auch wenn mein Arm jedes Mal, wenn ich ihn bewegte, so wehtat, als würde ich ihn in einen Säurebehälter halten. Es würde noch ein paar Tage dauern, bis ich vollständig wiederhergestellt war. Griffin hatte vorgeschlagen, dass ich es noch einmal versuchen sollte, aber im Moment war ich dazu noch nicht bereit.

Ich sah mein Outfit noch einmal prüfend an. Wenigstens Dad würde glücklich sein. Für Väter schien es ein Erfolgserlebnis zu sein, wenn sich ihre Töchter konservativ kleideten, deshalb hatte ich die schwarzen kniehohen Stiefel angezogen, die Zoe mir vor ihrer Abreise geschenkt hatte. Zusammen mit ein wenig Eyeliner rundeten sie mein Outfit ab.

Belanglos, ja, aber momentan beschwor Dad diese Reaktion in mir herauf. Ich hatte ihm nicht erzählt, was ich war oder wer mich so gemacht hatte. Die meiste Zeit fühlte ich mich schrecklich wegen ihm. Und schuldig. Seine Frau hatte ihn die ganze Zeit, in der sie zusammen waren, angelogen, und dann war sie gestorben und hatte ihn als vollkommen gebrochenen Mann zurückgelassen. Mit einer Tochter, die keinen Deut besser war.

Aber er war auch nicht ganz unschuldig.

Ich kam regelmäßig mit blauen Flecken oder Blut auf den Kleidern nach Hause. Ich war dauernd weg – nicht, dass er das nicht auch wäre, aber ein Vater sollte so etwas mitkriegen. Ganz zu schweigen davon, dass ich neulich nach Jordanien geflogen bin, ohne dass es ihm auffiel. Das Einzige, was er hinterfragte, waren die tausend Dollar, die ich von seinem Konto abgehoben hatte, um Onyx für die dringend benötigte Information – über meinen wahrscheinlichen Tod – zu bezahlen. Ein halbes Dutzend fingierter Haushaltsrechnungen später hatte Dad akzeptiert, dass das kein Drama war, und war wieder zurück an seine Arbeit gegangen.

Was soll man machen? Ich war jedenfalls im Begriff, zu unserem vierteljährlichen, manchmal halbjährlichen Familienessen in einem Outfit aufzukreuzen, bei dem er sich entspannt auf seinem Stuhl zurücklehnen würde und das Gefühl hätte, dass alles so war, wie es sein sollte.

Ich schloss die Schranktür, streifte die silbernen Armbänder über, die ich trug, um meine engelhaften Male zu verstecken, und nahm mir vor, neue zu kaufen. Ich war es leid, jeden Tag den gleichen Schmuck zu tragen.

Ich sollte Dad in The Orchard, unserem Lieblings-Thairestaurant, treffen. Als ich jünger war, hat er mich drei oder vier Mal pro Woche dorthin ausgeführt, immer wenn wir keinen Babysitter hatten. Es war das, was bei uns einer selbstgekochten Mahlzeit am nächsten kam. Er kannte das Personal und es gefiel ihm dort. Die Kellner nannten ihn »John« statt »James«, und ich glaube, in gewisser Weise gefiel ihm das am besten.

Probleme? Wir?

Ich hatte beschlossen, zu Fuß zum Restaurant zu gehen. Es war in der Nähe unseres Wohnblocks und ich war sowieso früh dran. Außerdem wusste ich, dass sich Dad verspäten würde.

Ich war noch nicht weit gegangen, als sich meine engelhaften Sinne meldeten. Zuerst roch ich die Blumen, was immer nur bei ihm so war – dieser charakteristische Duft, der von Moschus und Jasmin dominiert wurde, eine Kombination, die Lust auf mehr machte. Als Nächstes kam der Geschmack von knackigen, reifen Äpfeln dazu, und ich sah das Aufflackern der Macht, die Morgen und Abend widerspiegelte. Auch wenn er wollte, dass ich wusste, dass er da war, nahmen ihn meine Sinne nicht so gut wahr wie andere Verbannte, das Aufflackern war sanfter, aber nervtötend intensiv.

Vor dem Schaufenster eines Kaufhauses blieb ich stehen und starrte eine Schaufensterpuppe an, die ein umwerfendes trägerloses schwarzes Kleid mit raffiniertem Spitzenoberteil trug, von dem der Stoff in einem vollendeten Faltenwurf zu Boden fiel. An der Seite hatte es einen langen Schlitz. Die Schaufensterpuppe zeigte keinerlei Emotionen, obwohl sie eines der schönsten Kleider trug, die ich je gesehen hatte. Ich schloss meine eigenen Gefühle weg und versuchte, ihre Emotionslosigkeit nachzuahmen, während ich wartete.

Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass er direkt hinter mir war. Er war so nah – ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren, die flackernden Gefühle, die er mir schickte, empfinden. Es war die Art von Gefühlen, die mein Inneres mit schrecklichem Entzücken erfüllte. Ich konzentrierte mich darauf, so zu sein wie die Schaufensterpuppe.

»Hör auf damit«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Er stellte sich neben mich. Der Druck ließ nach und ich konnte wieder atmen.

»Das würde hinreißend an dir aussehen. Möchtest du, dass ich es für dich kaufe? Ich könnte sogar das Schaufenster einwerfen, wenn du möchtest«, sagte er neckend und gleichzeitig auch ernst.

Ich blickte die Straße hinunter. Einen Augenblick vorher war sie noch voller Menschen gewesen, die sich aus Gebäuden drängten, ausgingen oder auf dem Weg nach Hause waren. Jetzt war es ruhig. Abgesehen von ein paar zögerlichen Passanten sah es aus, als wäre die Gegend evakuiert worden. Sogar der Verkehr hatte deutlich nachgelassen, die Fahrzeuge krochen vorüber, als wären die Motorengeräusche irgendwie gedämpft worden. Ich wusste, dass es Phoenix war. Ich wusste nur nicht, ob es eine Illusion war, die er in meinem Kopf erschaffen hatte, um eine kranke Art von Privatsphäre für uns zu erzeugen, oder ob er etwas Schreckliches in die Köpfe derer, die uns umgaben, hatte einsickern lassen, etwas so Furchtbares, dass sie geflohen waren.

Ich konnte unsere Spiegelbilder im Schaufenster erkennen. Er war größer als ich, auch wenn seine Haltung oft etwas gebeugt war. Er kleidete sich neuerdings sehr elegant. Heute trug er eine schwarze Hose und ein dunkelgraues Hemd. Er sah gut aus und gleichzeitig gefährlich, und unwillkürlich starrte ich in der Fensterscheibe auf sein Haar – die Art und Weise, wie das Licht über den schwarzen Haaransatz tanzte, in dem kleine Wellen tiefen Violetts und Strähnen schimmernden Silbers aufleuchteten. Selbst sein Spiegelbild war faszinierend.

Er beobachtete mich ebenfalls. Ich wusste, was er dachte, als er so dastand und mich auf dieselbe Art und Weise musterte, wie ich ihn, und ich hasste es, dass wir so gut zusammen aussahen. Ich spürte, dass auch er das hasste.

Dass er mich hasste.

Aber da waren auch noch andere Gefühle. Es gelang ihm nicht, sie vollständig zu verbergen – oder er wollte es nicht. Und jedes Mal, wenn er diese berauschenden Gefühle der Lust und Verführung in mich fließen ließ, spürte ich, dass sie mit einer Aufrichtigkeit durchsetzt waren, die er sogar vor sich selbst leugnen würde.

Doch nichts davon spielte eine Rolle. Nicht mehr.

Er fuhr zusammen und machte einen kleinen Schritt nach hinten in die Schatten des Spiegelbilds. Ich fragte mich, ob das eine Reaktion auf mich und meine Gefühle oder auf seine eigenen war.

»Wir müssen uns auf ein Gebäude einigen«, sagte er. Seine Stimme war glatt und selbstsicher.

Ich nickte. Es war das Letzte, was wir vor unserem Handel noch vereinbaren mussten. Wir hatten es absichtlich hinausgezögert. Sonst hätte zu viel schiefgehen können. Wenigstens hatte ich jetzt endlich Neuigkeiten für die anderen.

Er übte wieder ein wenig Druck auf mich aus, tief in mir liebkosten mich überwältigende Gefühle. Es war berauschend.

Träge zog ich meine Schutzmauern hoch und biss die Zähne zusammen. »Ich sagte, hör auf damit oder ich gehe.«

»Aber ich könnte diesen Austausch sehr viel angenehmer gestalten.«

Er versuchte es dieses Mal stärker, und wie Rauch, der unter einer Tür durchzog, stieg Lust in mir auf und mein Körper sehnte sich nach mehr.

Phoenix lachte. »Du hast einen solchen Appetit. Ich weiß nicht, warum du ihn verleugnest«, sagte er und bedrängte mich mit seinen Worten.

»Weil das nicht ich bin. Ich will nicht, dass deine Gefühle durch mich strömen. Das ist wie eine Art Gift.«

Er hörte nicht auf, aber er übte auch nicht mehr Druck aus. Stattdessen beugte er sich nah zu mir, näher, als es angenehm gewesen wäre, und sprach mir leise ins Ohr. »Ich hätte dir alles gegeben.«

Ich hielt meine Schutzmauern dort, wo sie waren, gefangen in diesem Moment. Sie waren halb hochgezogen, halb heruntergelassen, einen Augenblick lang unsicher, in welche Richtung sie sich bewegen sollten. Aber dann kam ich wieder zu Sinnen und meine Schutzmauern schossen nach oben. Ich trat zurück und wandte mich ihm zu, um zu zeigen, dass ich keine Angst hatte.

»Nein, du hättest mir alles, was mich ausmacht, genommen, bis ich nur noch deine Marionette gewesen wäre. Vielleicht hättest du das nicht vorgehabt – aber du hättest nicht anders gekonnt. Und außerdem …« Ich verstummte. Darüber konnte ich auf keinen Fall diskutieren. Ich konnte nicht darüber sprechen, dass ich niemanden wahrhaftig lieben konnte, niemanden außer Lincoln.

Phoenix zuckte die Schultern, doch sein Gesichtsausdruck blieb ernst. »Das werden wir wohl nie wissen.« Er sah mir direkt in die Augen, vergewisserte sich, dass er meine volle Aufmerksamkeit hatte. »Er allerdings auch nicht.« Als wäre ich wieder in Jordanien, spürte ich die Tragik von Rudys Tod, hörte, wie Phoenix seinen Verbannten zurief, dass sie verschwinden sollten. Seit dies geschehen war, fragte ich mich, warum er sich nicht einfach die Schrift geschnappt hatte und abgehauen war. Er verlor Verbannte und wir waren einander zu ebenbürtig – es war kein kluger Kampf. Wenn er einfach nur irgendein Verbannter wäre, dann hätte ich das verstanden. Sie waren im Allgemeinen gleichgültig und verrückt genug, jedes Risiko auf sich zu nehmen – Phoenix jedoch nicht. Er war anders – besonders.

Er beobachtete mich immer noch, und da wurde mir klar, dass er damals absichtlich so lange gewartet hatte.

»Du wolltest, dass Rudyard stirbt«, warf ich ihm vor, wobei ich es kaum schaffte, die Worte aus meinem Mund zu pressen. Es war zu schrecklich, und selbst nach allem, was er getan hatte, konnte ich nicht glauben, dass das wahr war.

Seine Augen flackerten und wurden dann schmaler. Zuerst glaubte ich, dass ihn meine Anklage überraschte, doch dann gähnte er einfach nur gelangweilt.

»Ein vertretbares Opfer.« Er steckte die Hände in die Taschen und demonstrierte, dass es ihm völlig gleichgültig war.

Er hatte das alles geplant. Hatte dafür gesorgt, dass Lincoln und ich niemals …

Mein unverletzter Arm schoss so schnell nach vorne – ich hatte gar nicht realisiert, dass ich beschlossen hatte, ihn anzugreifen. Mit der geballten Faust schlug ich ihm hart ins Gesicht. Das hatte er nicht erwartet. Ich traf ihn hart am Kiefer, sodass er ins Wanken geriet.

Dann stand er wieder aufrecht da, als wäre nichts passiert. Er fuhr sich nicht einmal mit der Hand ins Gesicht, um sich die Stelle zu reiben, von der ich wusste, dass sie schmerzen musste. Tatsächlich ließ er seine Hände in den Taschen.

Mistkerl.

Ich hielt meine Hände zu Fäusten geballt und erwartete seine Vergeltung. Stattdessen knurrte er nur: »Welches Gebäude?«

»Maddox«, sagte ich rasch, ich war noch immer etwas schockiert.

»Gut. Wir werden auf dem Brighton sein. Morgen Abend um elf. Keine Tricks.«

»Keine Tricks«, stimmte ich zu und hatte den Verdacht, dass ich nicht die Einzige war, die log.

»Und du kannst auch damit aufhören, mir deinen Lakaien auf den Hals zu hetzen«, fügte ich hinzu. »Wir haben sie alle zurückgeschickt, Phoenix. Bestimmt hast du die Nase voll davon, Kämpfer zu verlieren.«

Er lächelte kalt. »Ich will nur sicherstellen, dass du keine Bedenken mehr hast.«

Ich funkelte ihn an. »Das Glück hast du nicht«, sagte ich höhnisch. Meine Furcht davor, meinen Dolch zu gebrauchen, war an dem Abend verschwunden, an dem ich Jude zurückgeschickt hatte. Aber ich war mir sicher, dass er das wusste.

»Und ich dachte, du würdest das zusätzliche Training zu schätzen wissen.«

Ein Schauder lief mir über den Rücken. Die Art, wie er das sagte und auf meine Reaktion wartete – plötzlich war ich davon überzeugt, dass er mich beobachtet hatte, dass er mir auf meinen zusätzlichen Trainingseinheiten gefolgt war.

Er wandte sich zum Gehen, dann blieb er stehen und blickte zurück. »Violet …«

»Was?«, fauchte ich.

»Danke«, sagte er und berührte jetzt sein Gesicht. Und dann war er verschwunden – mit einem kräftigeren Windstoß als sonst, der mich einen Schritt nach hinten zwang, bevor ich wieder Halt fand.

»Mist«, murmelte ich nervös, atmete ein paarmal beruhigend ein und versuchte, das Beben meiner Hände abzuschütteln.