Kapitel Neununddreissig

»Und der Engel sagte: Ich habe gelernt, dass jeder Mensch nicht von der Liebe zu sich selbst, sondern von der Liebe zu anderen lebt.«

Leo Tolstoi

Es gab so viel zu tun, aber keiner von uns wusste, wo anfangen. Irgendwie landeten wir alle wieder im Hades. Als Lincoln, Spence und ich in Dappers Wohnung ankamen, waren alle anderen schon da.

Die Gespräche plätscherten vor sich hin, während wir die letzten paar Tage rekapitulierten. Griffin erzählte uns, wie er es geschafft hatte, so viele Grigori vom Festland anzuwerben, um unsere Sache zu unterstützen, und Lincoln füllte die Lücken, indem er erklärte, wie er erneut zu Irin gegangen war, um ihnen und den Einzelgängern sicheren Zutritt zur Insel zu verschaffen. Ich fragte mich, ob sich Irin wieder von ihm genährt hatte, aber als würde er meine Gedanken lesen, versichert mir Lincoln, dass der Hüter einfach eingewilligt hätte, weil er noch immer auf Wolke sieben geschwebt wäre, von was immer Phoenix ihm als Bezahlung geschickt hatte.

Von dort war Lincoln in jener Nacht, als ich mit Phoenix fortging, gerade zurückgekommen. Ich konnte jetzt das Bedauern in seinen Augen sehen und wie sehr es ihn schmerzte, dass es Phoenix gelungen war, mich mitzunehmen, weil er selbst zu spät zu mir gelangt war.

Wilde Theorien wurden darüber aufgestellt, was Lilith vorhatte, jetzt wo sie wieder da war, worauf sie ihre zerstörerische Energie richten würde. Das Einzige, worin sich alle einig waren, war, dass es nicht lange dauern würde, bis sie wieder auf der Bildfläche erscheinen würde.

Ich ging zur Minibar, wo Onyx Getränke ausschenkte wie ein Profi.

»Du hast mich einmal gefragt, ob ich bereit für die großen Entscheidungen wäre«, sagte ich und schnappte mir eine Cola.

»Und?«

»Ja, bin ich. Und du?«

Er kippte sich einen großen Schluck Whisky hinter die Binde und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, der mit seinen früheren Feinden gefüllt war. »Ich glaube, das habe ich schon.«

Ich nickte. »Du bist herzlich eingeladen, bei uns zu bleiben«, sagte ich und gab ihm mein Wort darauf. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht gut, Violet.«

»Das weiß ich, Onyx, aber du bist auch nicht böse.«

Er nickte kurz. »Du hast auf dieser Insel eine ganze Menge Leute gerettet, mich selbst eingeschlossen.«

Mir kamen die Tränen und ich schüttelte den Kopf. »Es war meine Schuld. Ich habe Phoenix geholfen, Lilith zurückzuholen.«

Er wartete, bis ich mich wieder gefasst hatte.

»Wenn du den Deal nicht ausgehandelt hättest, wäre es trotzdem geschehen, nur anders. Du hast das Beste daraus gemacht. Ich bin überrascht, dass du das alles geschafft hast.«

So hatte ich es wirklich noch nicht betrachtet.

Dapper kam zu uns an die Bar. »Ich brauche dich morgen zum Arbeiten, Onyx. Trish sagte, ein paar Leute von der Belegschaft hätten sich krankgemeldet.«

Ich merkte, dass Onyx versucht war zu sagen, dass er ihn mal gernhaben könne, aber dann überraschte er uns beide, indem er Dapper einfach ein volles Glas reichte. »Geht in Ordnung.«

Dapper nippte an seinem Getränk, um seinen Schock zu verbergen, er nickte und krächzte: »Prima.«

Onyx brummte und ging weg. Sobald wir allein waren, beugte ich mich zu Dapper vor. »Ich weiß, dass du Onyx und Steph geheilt hast.«

Dapper heftete seinen Blick auf mich.

»Ich sag es auch nicht weiter«, bot ich an.

Ich sah, wie die Anspannung von ihm wich, als sich seine Schultern und sein Mund entspannten. Verlegen räusperte er sich.

»Danke.«

»Ähm.«

Wir wirbelten herum und sahen Griffin. »Außer dass ich es bereits weiß und es mir lieber wäre, wenn ich nicht mehr vortäuschen müsste, nichts zu wissen.«

»Ich auch«, sagte Lincoln, der jetzt auf uns zukam.

»Hat euch noch nie jemand gesagt, dass es unhöflich ist, anderer Leute Gespräche zu belauschen?«, fauchte Dapper.

»Ich fürchte, ich bin da ganz allein dahintergekommen, mein Freund. Lincoln auch, wie ich annehme. Es gab nicht mehr viele Möglichkeiten, als wir erst mal Violets Kräfte ausgeschlossen hatten«, sagte Griffin, der jetzt die Stimme senkte.

»Nur Menschen?«, fragte Lincoln.

Dapper grunzte, offenbar gab er auf. »Nur überwiegend Menschliche.«

Und dann wusste ich mir nicht mehr anders zu helfen. »Dapper, was bist du?«

Dapper nahm seinen Putzlappen und fing an, die Bar abzuwischen. »Nur ein Clubbesitzer. Mehr möchte ich jedenfalls verdammt noch mal gar nicht sein.«

Wir beließen es dabei und nahmen wieder andere Gespräche auf. Wenn Dapper seine Angelegenheiten privat halten wollte, war das seine eigene Entscheidung. Ich war froh, dass Griffin und Lincoln das auch so zu sehen schienen.

Ich machte es mir auf meinem Barhocker gemütlich, schaute im Zimmer herum und lächelte. Meine Freunde, meine Familie, waren zu Hause und in Sicherheit. Gut, wir hatten große Probleme und dieser entspannte Moment würde nicht lange anhalten, aber vorerst war alles in Ordnung.

Steph fand mich ein wenig später, ich hatte mich im Badezimmer versteckt.

»Alles okay?«, fragte sie.

»Ja. Bei dir?«.

Sie setzte sich neben mich auf die Badewannenkante. »Ja. Danke übrigens«, sagte sie und fasste an ihre Halskette.

»Gern geschehen. Ich würde es trotzdem vorziehen, wenn du gar nicht erst in diesen Wahnsinn hereingezogen worden wärst.«

Sie rückte näher zu mir. »Ich weiß, aber genau da möchte ich sein, Vi.«

»Ich weiß.« Ich stand auf und nahm ihre Hand. »Komm, Salvatore hat wahrscheinlich schon einen Suchtrupp losgeschickt.« Das brachte mir ein Lächeln ein. »Ja, ja, ich weiß … Du liebst ihn.«

Sie folgte mir hinaus, wobei sie noch immer meine Hand hielt und mit ihrer Hüfte gegen meine stieß. »Das tue ich echt.«

Wir hakten uns unter und gingen lachend hinaus – und hinein in ein stilles Wohnzimmer.

»Was ist los?«, fragte Steph, immer noch lachend.

Doch sie hörte auf damit, als sie ihren Bruder im Türrahmen stehen sah.

»Jemand sagte, er hätte dich hier hereinkommen sehen«, sagte Jase, dem gerade klar wurde, dass er irgendwo hineingeplatzt war.

»Jase! Hey! Ja, ich bin gerade zurückgekommen«, sagte Steph zögernd, weil sie nicht wusste, wie viel sie sagen sollte.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an die SMS, die er mir geschickt hatte. Ich drückte Stephs Hand.

»Ja. Total abgefahrener Ausflug. Wir … ähm … Wir sind weiter oben an der Küste gestrandet und sind mit einer Mitfahrgelegenheit zurückgekommen. Jemand …, der unten arbeitet, hat uns gesagt, wo du bist, deshalb sind wir hochgekommen, um nach dir zu suchen.«

Oh, mein Gott, das läuft nicht gut.

Jase schnaubte. »Und ganz zufällig seid ihr dann auf Lincoln und seinen Kumpel Griffin gestoßen? Und auf meinen Boss, der mysteriöserweise zur exakt selben Zeit weg war wie ihr alle!«

Verdammt, er ist ein ziemlich guter Beobachter.

»Jase … Ich … ich …«, aber Steph wusste nicht weiter. Und ich auch nicht.

»Sie war mit mir unterwegs«, sagte Salvatore von hinten. Er trat nach vorne und legte seinen Arm um Steph. »Wir waren nämlich alle zusammen weg und haben sehr wichtige Dinge erledigt. Ich entschuldige mich, Jase, aber Steph kann dir nicht sagen, wo sie war oder was sie gemacht hat. Reicht es zu wissen, dass sie mit Leuten zusammen war, die sie lieben so wie du? Dass sie jetzt wohlbehalten wieder zu Hause ist und dir vielleicht eines Tages mehr darüber erzählen wird?«

Jase sah vollkommen baff aus.

Da war er nicht der Einzige. Ich hatte noch nie so viele Wörter auf einmal aus Salvatores Mund kommen hören.

Griffin wählte diesen Moment, um einzuschreiten. »Salvatore hat recht, Jase. Wir wünschten, wir könnten dir mehr sagen. Doch alles, was er gesagt hat, entspricht der Wahrheit, und du entscheidest selbst, was du daraus machen willst.«

Ich konnte Griffins Kraft herumwirbeln sehen, er setzte seine Fähigkeit, Wahrheit zu vermitteln, ein. Eine Schicht Nebel legte sich über Jase und Ehrlichkeit drang tief in ihn ein. Stephs große Augen verrieten mir zudem, dass ihre Halskette gut funktionierte, da sie die Illusion durchbrach, die solche Dinge normalerweise vor dem menschlichen Auge verbarg.

Jase blickte sich im Zimmer um. Er schwieg so lange, dass die Leute bereits anfingen zu gehen – zuerst Samuel und Kaitlin, dann Nathan und Becca und schließlich auch Dapper, der beim Hinausgehen Jase tröstend die Hand auf die Schulter legte. »Alles wird gut, Junge. Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen. Ich wünschte bei mir wär das so, verdammt noch mal.«

Onyx folgte ihm mit federndem Schritt. Er lächelte uns breit an. »Und ich dachte immer, ihr pfuscht nicht an Menschen herum.«

Steph zwängte sich mit Salvatore neben Spence und Zoe aufs Sofa und wartete nervös ab. Lincoln und Griffin machten es sich an der Minibar bequem, während ich im Niemandsland zurückgelassen wurde.

Schließlich ging ich zu ihm hinüber. »Jase?«

Sein Blick richtete sich auf mich. »Da passiert gerade etwas richtig Großes, nicht wahr?«

Ich lächelte traurig. »Ja, aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass es besser ist, wenn du nichts darüber weißt.«

Er sah Steph an. »Ist das sicher für sie?«

Ich wünschte, es würde sich nicht anfühlen, als würde ich lügen. »Ja.«

»Und du?« Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Lincoln sich bewegte.

»Mir geht es gut.«

Er fuchtelte mit der Hand in Richtung Salvatore, der uns nervös beobachtete. »Er und meine Schwester also …?«

Ich lächelte. »Ja. Er ist ein guter Kerl.«

Jase nickte, als hätte er das auch schon gemerkt.

»Gut, dann werde ich einfach so tun, als hättet ihr oben an der Küste irgendwo am Strand gelegen?«

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen. »Besser, als wenn wir dich anlügen.«

»Stimmt.« Seine Mundwinkel zuckten verschmitzt nach oben.

»Wenn Steph also mit ihm auf den Ball geht, bedeutet das wohl, dass ich einfach dich dorthin ausführe?«

Lincoln stand abrupt auf. Ich spürte, wie sich seine Wut aufbaute, und musste mich zwingen, nicht hinzuschauen.

Jase jedoch tat es, und was immer er sah, ließ ihn nur noch hartnäckiger werden. »Samstagabend, oder? Ich hole dich um sechs ab und wir können auf dem Weg noch was essen gehen.«

»Oh.« Mein Mund war ganz trocken. Ich konnte mich nur noch darauf konzentrieren, Lincolns Wut zu spüren.

»Oh«, sagte ich wieder. Ich wollte ihn wirklich nicht verletzen.

Steph sprang auf. »Warum gehen wir nicht alle zusammen? Weißt du, als Gruppe.«

»Ja. Eine Gruppe wäre gut.« Doch ich konnte noch immer Lincoln hinter mir wahrnehmen, deshalb fügte ich hinzu: »Jase, ich bin eigentlich nicht mehr zu haben … auf diese Weise.« Ich schluckte schwer, weil ich nicht wusste, ob ich gerade das Richtige tat. Ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, und ich wollte auf keinen Fall Lincoln verletzen. Nur weil wir nicht zusammen sein konnten …

»Oh«, sagte Jase und warf einen weiteren Blick in Lincolns Richtung. »Ich wusste nicht, dass du mit jemandem ausgehst.«

»Ich gehe nicht … Es ist nur so, dass …« Ich holte tief Luft. »Es wäre dir gegenüber einfach nicht fair, Jase. Es tut mir leid.«

Er trat auf mich zu und streckte die Hand nach meinem Gesicht aus. Ich ergriff sie, bevor sie mich berührte. »Jase. Ich meine es ernst«, sagte ich, überrascht von meiner Reaktion.

Lincoln musste es ebenfalls gespürt haben, denn ich merkte, dass er sich entspannte. Ich wusste, er würde verstehen, was ich als Nächstes sagte. »Der Ball wird lustig werden – wenn es okay ist, dass wir als Freunde hingehen?«

Jase blickte wieder in Lincolns Richtung, dann sah er wieder mich an. Er trat einen Schritt zurück. »Steph, in zwanzig Minuten gehe ich, und du kommst besser mit, wenn wir uns noch überlegen wollen, was wir Mum erzählen.«

Steph nickte. »Wir treffen uns vor der Tür.«

Jase ging auf die Tür zu, dann blieb er stehen und blickte zurück zu mir. Er hatte ein umwerfendes Lächeln, das die meisten Mädchen umgehauen hätte.

»Freunde sein ist in Ordnung, Vi.« Er stützte seine Hand gegen den Türrahmen und sein Lächeln wurde breiter. »Vorerst.«

Entweder er hatte viel Übung darin, andere Typen sauer zu machen, oder er hatte eine wirklich gute Intuition, denn er war blitzschnell draußen.

Großer Gott.

Spence brach das unangenehme Schweigen. »Los, komm, Zo. Wir setzen dich im Hotel ab, dort kannst du dann später noch wegen Music Man schmollen. Ich kann nicht glauben, dass die Akademie für deine Unterkunft bezahlt!« Er zog sie vom Sofa.

»Na, das wirst du, wenn ich dir die schmutzigen Geschichten erzähle, die wir über Mr Carven kennen. Und außerdem«, sagte sie, während sie mir einen säuerlichen Blick zuwarf, »bin ich mir ziemlich sicher, dass ich den Music Man zuerst gesehen habe.«

Ich hatte ganz vergessen, dass Zoe vor ein paar Monaten Jase angegraben hatte. Ich warf ihr einen besorgten Blick zu, aber ihre Verärgerung verwandelte sich in ein freundliches Lächeln.

»Schon in Ordnung.«

Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus – ich konnte es im Moment nicht mit noch jemandem aufnehmen. Ich ergriff die Gelegenheit, ebenfalls den Abflug zu machen. »Ich komme mit euch mit«, sagte ich und schnappte mir meine Tasche.

Ich stand mitten auf dem Gehweg, ohne mich zu bewegen. Wegzukommen war schön und gut gewesen, aber sobald ich mich verabschiedet und Spence und Zoe in ein Taxi verfrachtet hatte, wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wohin ich gehen sollte. Ich konnte Dad noch nicht gegenübertreten, ich wusste, er würde endlos viele Fragen stellen, die ich beantworten müsste. Erst mal musste ich einen klaren Kopf bekommen.

Ich spürte seine Anwesenheit, als Lincoln sich näherte. Ich ging schneller, doch er war innerhalb von Sekunden neben mir. Er zog seinen Mantel aus und wickelte ihn um mich.

»Komm«, sagte er. »Ich schlafe auf dem Sofa.«

Ich ließ zu, dass er mich den ganzen Weg bis zu seiner Wohnung führte, und wir verfielen in ein angenehmes Schweigen, das irgendwie mehr sagte als alles, was wir wagen würden, laut auszusprechen.

»Ich lasse dir ein Bad ein«, war alles, was er sagte, als wir dort ankamen.

Ich blieb in der Wanne so lange es ging, bevor mich meine hungrige Seele wieder zu ihm hinauszerrte.

Während Lincoln kurz unter der Dusche verschwand, nahm ich meinen Pinsel und zog das Tuch von einem Abschnitt der Wand. Ich hatte in letzter Zeit nicht viel über das Wandgemälde nachgedacht und ich war noch immer nicht bereit, die ganze Sache anzugehen, aber jetzt fühlte ich mich inspiriert und skizzierte auf einer Seite etwas, was sich richtig anfühlte – eine einzige Lilie mit einem langen Stiel.

Lincoln kochte Abendessen. Pasta. Ich bat ihn darum, extra viel Basilikum zu verwenden, was ihn aus irgendwelchen Gründen zum Lächeln brachte, und ich sog jede Nuance des Aromas ein, während es kochte.

Mmmm … Zuhause.

Wir aßen schweigend, bis ich Kaffee machte. Ich tat Zucker in Lincolns Kaffee. Ich wusste, er würde sagen, dass er einen Löffel Zucker will, wenn ich ihn fragte. Deshalb fragte ich nicht und tat einfach die zwei Löffel hinein, die er, wie ich wusste, eigentlich wollte. Er lächelte, während er zusah.

»Er mag dich«, sagte er schließlich. Ich wusste, er meinte Jase. Als ich nicht reagierte, fügte er hinzu: »Am liebsten wäre ich ihm an die Kehle gesprungen.«

Ich konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. »Da bin ich aber froh«, sagte ich, obwohl ich genau wusste, dass ich das nicht hätte sagen sollen.

Er fing an zu lachen, kaschierte es aber schnell durch ein Husten. »Du solltest schlafen gehen«, sagte er beim Abräumen.

Ich wollte nicht schlafen. Ich wollte ihn anfassen, wollte, dass er ganz mir gehörte.

Ich folgte ihm zu seinem Schlafzimmer, wo er im Türrahmen stehen blieb. Ich ging schnurstracks zum Bett und setzte mich auf die Kante.

»Willst du über deine Mum reden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist weg.«

»Glaubst du nicht, dass sie zurückkommen wird?«

»Ich hoffe nicht.« Ich schüttelte mein Haar, sodass es einen Vorhang vor meinem Gesicht bildete. »Ich will sie nie wiedersehen.«

»Wir werden sehen«, sagte er leise, aber dabei beließ er es, und dafür war ich ihm dankbar. Ich war jetzt nicht in der Lage, über das Wie und Warum ihrer Rückkehr nachzudenken. Oder über irgendetwas anderes. Zumindest konnte ich mich darauf verlassen, dass sie sich was mich betraf an ein konstantes Muster hielt. Dauerhafte Abwesenheit. Wofür auch immer sie hier war, ich hoffte, sie würde sich von mir fernhalten. Und von Dad.

»Hier ist … eine extra Decke am Fußende, falls dir kalt wird.«

Ich nickte, mein Mund war trocken.

»Gute Nacht, Violet.«

Er wandte sich zum Gehen und zog die Tür hinter sich zu.

»Bleib!«, sagte ich, bevor ich die Möglichkeit hatte, darüber nachzudenken. Aber ich wollte es auch nicht zurücknehmen.

Er machte die Tür wieder auf, nur einen Spalt, und etwas Neues lag in seinem Blick. Er presste den Kiefer zusammen und stützte sich mit der Hand am Türrahmen ab, als würde er sich selbst zurückhalten, und ich spürte, wie seine Kraft aufloderte und ihn schützte.

»Ich kann nicht«, sagte er.

»Ich weiß. Aber bleib trotzdem. Nur bis ich einschlafe.«

Ich hörte, wie er auf der anderen Seite des Zimmers schluckte. »Das ist … keine gute Idee.«

»Vielleicht. Aber ich kann nicht allein sein«, sagte ich und blickte zu Boden. »Ich kann meine Augen nicht schließen. Ich kann nicht …«, begann ich und merkte erst, dass ich weinte, als ich die Tränen auf mein Bein tropfen sah. Ich hielt den Kopf gesenkt, damit er es nicht sehen konnte. Ich wusste, dass ich unfair war, dass das alles nur noch schwerer für uns machen würde, aber das war mir egal. Vielleicht glaubte ich auch, dass es nicht noch schwerer werden konnte.

Es war so lange still, bis es unerträglich wurde. Ich würde ihn nicht zwingen, deshalb legte ich mich hin und drehte ihm den Rücken zu, um ihm eine Gelegenheit zur Flucht zu bieten. Ich nahm an, er sei gegangen, aber ein paar Minuten später hörte ich die Dielen knarren und spürte, wie sich die Decken neben mir bewegten. Mein ganzer Körper spannte sich an und ich bewegte mich nicht. Nicht einen Zentimeter. Ich hatte zu große Angst, ihn zu verscheuchen.

So lagen wir dann da, völlig erstarrt, und wagten kaum zu atmen, bis ich hörte, wie er die Luft ausstieß und endlich mehr von seinem Gewicht auf das Bett sinken ließ. Ich tat das Gleiche, rückte in eine bequemere Position, blieb aber auf meiner Seite des Bettes, weil ich zu nervös war, ihm das Gesicht zuzuwenden.

Mit einem Geräusch, das irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Knurren lag, rückte er näher, schlang mir den Arm um die Taille und vergrub sein Gesicht in meinem Nacken, sodass ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren konnte.

Oh mein Gott!

Bevor er die Chance bekam, es sich anders zu überlegen, nahm ich seinen Arm und zog ihn ganz um mich herum. Vollkommen eingeschlossen in seiner Umarmung explodierte in mir ein Feuerwerk der Gefühle, während seine Finger sanft, aber bestimmt, meinen Arm streichelten. Ich atmete wieder aus und ließ mich in seine Umarmung sinken, wobei meine Seele endlich einmal einer Meinung mit mir war. Ich spürte, wie er ein wenig von mir wegrückte.

Oh.

»Tut mir leid, Vi. Du bist stärker als ich.«

Ich wäre fast aus dem Bett gefallen. Wie konnte er nur glauben, dass ich stärker wäre als er?

Wir lagen eine Zeit lang schweigend da, während ich über das nachdachte, was er gerade gesagt hatte. Ich blickte auf die letzten paar Wochen zurück und mein Verhalten ihm gegenüber. Dann versuchte ich das Ganze aus Lincolns Perspektive zu betrachten und merkte, dass zu dieser Zeit immer auch noch etwas anderes vor sich gegangen war. Etwas, das mein Verhalten erklärte, ohne dass er merkte, dass er der Grund dafür war. Obwohl er es war. Immer.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass er zu hart zu sich selbst war. Auf dem Vulkan hatte er mir so viel mehr gesagt, als er je vorgehabt hatte. Er hatte es getan, um mich zu retten, aber auch … Es nutzte nichts, vor dem davonzulaufen, was er gesagt hatte, dass er mit mir zusammensein wollte, auch wenn er wusste, dass mich das zerstören könnte.

Ich holte tief Luft. Ich hatte ihm nie gesagt, dass ich genauso schuldig war, dass ich ihn genauso begehrte. Klar war da immer noch die Angst und das tiefe Bedürfnis, ihn nicht zu verletzen, aber er musste die Wahrheit erfahren.

Ich wand mich ein wenig und schob seinen Arm wieder ein wenig nach oben. Ich spürte das Klopfen seines Herzens an meinem Rücken.

»Linc?«, begann ich, während sich mein Atem beschleunigte. »Du wirst es mir schon sagen müssen, wenn ich mich jetzt nicht zu dir umdrehen soll.«

Wenn ich geglaubt hatte, er sei vorher erstarrt gewesen, dann hatte ich mich getäuscht. Alles an ihm war jetzt totenstill. Ich wartete, aber da war nichts.

Das ist es.

Ich fing an, mich zu ihm umzudrehen, aber er hielt mich mit den Armen fest, um mich daran zu hindern.

»Violet«, sagte er, seine Stimme war leise und voller Verlangen. »Nicht. Umdrehen.«

Ich lächelte. Eine Welle der Enttäuschung von meiner bösen Hälfte und eine der Erleichterung von meiner besseren Hälfte schwappten über mich hinweg. Ich würde ihm seine Seele nicht rauben.

Nicht heute Abend.

»Glaub nie, dass ich stark bin, Linc. Nicht, wenn es um uns beide geht. Ich bewege mich verdammt nah an einem Abgrund, immer kurz davor hinabzustürzen.« Meine Wahrheit. Und meine Warnung.

Er machte es sich hinter mir gemütlich, lockerte seinen Griff und küsste mein Haar, bevor er mir zuflüsterte: »Nun, das sind ja dann schon zwei Abgründe. Damit lässt sich arbeiten.«

Ich wollte nicht schlafen, wollte keinen Augenblick dieses Gefühls der … Nähe verpassen.

»Versprich mir, dass wir einen Weg finden«, murmelte ich. Denn Hoffnung musste es geben, oder? Hoffnung, dass eines Tages …

Mein Körper entspannte sich, mein Geist wurde ruhig, meine Seele war vorerst befriedigt. Innerhalb von Sekunden war ich eingeschlafen, aber erst als ich gehört hatte, wie er »Versprochen« flüsterte.

Als ich am Morgen aufwachte, war ich allein. Doch ich wusste, dass er den größten Teil der Nacht bei mir verbracht hatte, spürte, wo sein Arm mich festgehalten hatte.

Ich ging hinaus und fand ihn schlafend auf dem Sofa vor. Irgendwann würde Spence aufwachen, und Lincoln würde es nicht riskieren wollen, dass er denken könnte, zwischen uns wäre was gelaufen. Ich hatte Gewissensbisse, die schon vorher absehbar gewesen waren. Ich wusste, das würde mich teuer zu stehen kommen. Uns beide. Diese eine Bitte zu bleiben. Ich spürte bereits förmlich das Wiederaufblühen des Schmerzes, ihm so nahe gewesen zu sein.

Trotz der Versuchung, ihn aufzuwecken und ihm dafür zu danken, dass er sich um mich gekümmert hatte, entschied ich mich dagegen. Er würde sowieso wieder nur in eine seine Gardinenpredigten verfallen, in denen er mir sagen würde, dass wir niemals zusammensein konnten, und das wusste ich bereits. Außerdem sah er so friedlich aus, so schön, dass ich es einfach nicht fertigbrachte.

Stattdessen schrieb ich ihm eine Notiz mit sorgfältig gewählten Worten, weil ich wusste, dass Spence sie ebenfalls sehen könnte.

Danke, dass du mir letzte Nacht einen Platz zum Schlafen gegeben hast, und danke auch für die extra Decke.

Vi.

Weil er eine ausgesprochen tolle extra Decke gewesen war und ich hoffte, dass ihn meine Worte, nur dieses eine Mal, zum Lächeln bringen würden, anstatt zum Stirnrunzeln.