Kapitel Siebzehn

»So spreche ich und zeige euch an, dass euch verderben wird er, welcher euch geschaffen hat.«

Das Buch Henoch 93, 9

Eingewickelt in meinen langen Mantel, den ich zugeknöpft hatte, um zu verbergen, dass ich keine Schuluniform trug, ging ich von unserer Wohnung aus die Straße entlang und um die Ecke. Dann setzte ich meine Mütze auf, wartete fünf Minuten, drehte um und ging in die andere Richtung. Dad war momentan so unberechenbar – ich konnte nicht ausschließen, dass er mir vom Balkon aus nachspionierte, und ich konnte nicht riskieren, dass er mich davon abhalten könnte, ins Hades zu gehen.

Ich hatte die Übersetzung heute Nacht an Griffin und Lincoln geschickt. Es hatte ungefähr fünf SMS gebraucht, und ich hoffte, sie hatten es geschafft, alles zusammenzubasteln.

Sie hatten mir beide zurückgeschrieben, dass sie im Hades sein würden, und als ich die schwere gelbe Eingangstür aufdrückte, waren bereits alle da. Sie saßen an mehreren Tischen, die sie in der Mitte des geschlossenen Restaurants zusammengeschoben hatten.

Dapper reichte Saft herum und mitten auf dem Tisch standen eine Kaffeekanne und Tassen.

Spence warf mir ein Croissant zu, als ich näher kam. »Hey, wie ich sehe, konntest du aus Fort Eden entkommen.«

Ich lächelte. Ich war in letzter Zeit hart zu Spence gewesen, vor allem im Training, aber er hatte niemals gewankt, er war immer derselbe geblieben. Ich ging geradewegs zu ihm und umarmte ihn fest.

»Äh, Eden.« Er wand sich heraus. »Ich dachte, ich hätte meinen Standpunkt in dieser Hinsicht klargemacht.« Er hielt mich auf Armeslänge von sich weg und lächelte dabei teuflisch. »Ich empfinde einfach nicht dasselbe wie du«, sagte er laut und setzte ein scheinheiliges entschuldigendes Lächeln für mich auf.

»Und ich hatte mir solche Hoffnungen gemacht«, spielte ich mit.

»So geht es den meisten«, sagte Spence und schüttelte andächtig den Kopf. »So geht es den meisten.«

Ich haute ihm auf den Arm und nahm neben ihm Platz, während Kaitlin ihr halbes Croissant über den Tisch warf, sodass es Spence direkt an der Stirn traf. Wir mussten beide lachen. Steph stand mit Dapper etwas abseits, die beiden unterhielten sich lebhaft miteinander. Mich beschlich das Gefühl, dass das ein langer Tag werden würde, deshalb schenkte ich mir einen Kaffee ein und nahm einen Bissen von meinem Croissant, während ich mir einen Überblick verschaffte, wer sonst noch zum Wir-werden-alle-sterben-Kriegsrat eingeladen war.

Lincoln und Griffin saßen am anderen Ende des Tisches – natürlich hatte ich seit dem Moment, in dem ich das Gebäude betreten hatte, genau gewusst, wo er war. Griffin warf mir einen Blick zu, der mir wohl sagen sollte: Du solltest an diesem Ende des Tisches sitzen. Ich sah mich an meinem Ende um – auf der einen Seite saß Spence, auf der anderen Seite war ein freier Platz für Steph. Onyx hatte es sich ein paar Plätze weiter gemütlich gemacht, und ich bemerkte, wie er etwas aus einer silbernen Flasche in seinen Kaffee schüttete.

Typisch.

Die Blutergüsse auf seinem Gesicht waren fast ganz verheilt. Er hatte sich in einer schier unmöglichen Geschwindigkeit erholt, ganz anders als Steph. Ich starrte ihn an, bis er aufblickte und mich hämisch angrinste.

Beth und Archer saßen in der Mitte des Tischs und plauderten miteinander. Ich konnte mir vorstellen, dass sie in ihren fünfhundert Jahren eine ganze Menge erlebt hatten. Heute war einfach nur ein weiterer Arbeitstag für sie.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem anderen Ende des Tisches zu. Lincoln saß neben Griffin. Als ich ihn anschaute, warf er mir ebenfalls einen Blick zu. Wir lächelten einander zu, so wie es Freunde tun würden, aber dann sahen wir beide rasch wieder weg. Wie immer raubte es mir den Atem.

Dapper ging zu den »wichtigen Leuten« hinüber und nahm neben Griffin Platz. Samuel und Kaitlin saßen neben Dapper, und ein weiteres Grigori-Paar, Nathan und Becca, saß gegenüber. Ich hatte sie nur flüchtig kennengelernt. Sie arbeiteten in den Außenbezirken der Stadt. Griffin hatte mir einmal erzählt, dass sie so etwas wie eine Grenzkontrolle waren, und nach allem, was er mir nicht erzählt hatte, zu urteilen, hatte ich den Eindruck, dass das ein ziemlich harter Job war. Sie waren jung – etwa so alt wie Lincoln –, und ich wusste, dass Griffin sie als Kämpfer sehr schätzte. Er hatte mir zuvor gesagt, dass wir sie unbedingt dabeihaben sollten, falls es zu einem Kampf käme. Die Tatsache, dass sie jetzt hier waren, sprach Bände.

Das waren alle, die zu diesem Insider-Treffen eingeladen waren. Der überraschendste Teilnehmer war definitiv Onyx. Ich fragte mich, was er getan oder gesagt hatte, um auf die VIP-Liste zu kommen.

Alles in allem war ich froh darüber, dieses Tischende gewählt zu haben – zwischen Spence und Steph zu sitzen war sehr viel einfacher als zwischen Griffin und Lincoln.

»Alles okay?«, unterbrach mich Spence in meinen Gedanken.

Ich blickte nach unten. Ich war so gebeugt von dem Schmerz, den ich mir nicht eingestehen wollte, dass ich mir den Arm um die Taille geschlungen hatte.

»Ähm …« War es das? »Ja, ich fühle mich nur nicht so besonders.« Ich ließ meinen Arm fallen und setzte mich auf.

»Monatliches Unwohlsein?«

»Nein!«, sagte ich und machte mir nicht die Mühe, gegen seinen Seitenhieb zu protestieren. Ich versuchte noch dahinterzukommen, was das überhaupt für ein klopfender Schmerz war.

Griffin fing an Blätter herumzureichen, Kopien der Prophezeiung. Ich nahm eine, auch wenn ich das Original noch in meiner Tasche hatte, und setzte mich aufrecht hin.

»Tod in Versform«, flüsterte mir Spence ins Ohr und ließ die Augenbrauen auf und ab hüpfen.

Doch obwohl Steph und ich uns am Tag zuvor noch totgelacht hatten, konnte ich jetzt, wo ich mehr vom Inhalt verstand, nicht einmal mehr ein Lächeln aufbringen. Stattdessen wich mir alle Farbe aus dem Gesicht.

»Leute, lasst uns ganz hinten anfangen«, sagte Griffin. Dann drehte er sich zu Dapper um und nickte ihm zu.

Dapper beugte sich auf seinem Stuhl vor und holte eine Brille heraus. Ich war fasziniert, wie anders er damit aussah. Dapper ist Clubbesitzer, alles andere als schmächtig und von seiner Art her eher ruppig. Aber mit dieser diamantenbesetzten Brille kam eine Seite von Dapper zum Vorschein, die er nur äußerst selten zeigte, da war ich mir sicher.

»Gut. Ich sage euch jetzt mal, was ich entschlüsseln konnte. Phoenix ist der Verehrer mit dem schrecklichen Verlangen. Darin liegt eigentlich keine versteckte Bedeutung. Der Obolus ist traditionsgemäß eine Silbermünze, die früher auf die Augen der Toten gelegt wurde, als Bezahlung für den Fährmann, der sie in die nächste Welt beziehungsweise ins Jenseits befördern sollte. Phoenix wird etwas bezahlen müssen, wahrscheinlich in Silber, und rot‹ würde ich als Blutopfer interpretieren.«

Die Erklärung entsprach ungefähr der von Dad.

»Wessen Blut?«, rief Spence.

»Da sind wir uns nicht sicher. Griffin glaubt, es handelt sich um Phoenix’ eigenes Blut, aber es könnte auch das von jemand anderem sein. Wenn die Rechnung beglichen ist, wird derjenige, der gerufen wird …«, er blickte auf, »in diesem Fall Lilith, aus dem Tartarus befreit.«

»Die Hölle?«, rief Spence wieder dazwischen.

»Ja«, sagte Griffin und warf ihm einen Halt-die-Klappe-Blick zu.

Dapper studierte das Blatt Papier erneut und zeigte dann darauf. »Dann sind da noch die Verse darüber. Darin geht es um Opfer.«

Ich dachte an Dads Worte zurück. Er verstand echt was davon, wie man ein Gedicht in seine Bestandteile zerpflückte.

»Sechs müssen getötet werden, um sie zurückzuholen. Und genau an dieser Stelle wird es knifflig, aber ich glaube, drei von der gleichen Art, Verbannte also, müssen ins Wasser zurückgeschickt werden und drei andere ins Feuer, und …« Er sah nach unten und blickte dann wieder auf, als würde er all seinen Mut zusammennehmen. »Das kann nur durch die Hand eines Grigori geschehen, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«

Alle außer Onyx schienen wie betäubt da zu sitzen. Selbst Griffin schwieg, und dabei war ich mir sicher, dass er diese Theorie bereits gehört oder sogar selbst vorgeschlagen hatte.

Es war Steph, die sich schließlich verhalten räusperte und zu sprechen begann. »Verbannte können andere Verbannte töten, aber nur eine Grigori-Klinge kann einen Verbannten so zurückschicken, dass dies als Opfergabe an den Tartarus durchgehen könnte.«

»Aber kein Grigori wäre bereit dazu«, sagte Spence.

Damit hatte er grundsätzlich recht, aber ich hätte auch nie gedacht, dass wir die Schrift der Verbannten Phoenix aushändigen würden.

Bis ich es getan hatte.

Griffin stand auf. »Noch immer ist vieles unklar, aber wir haben noch ein wenig Zeit. Dank Stephanie haben wir eine Übersetzung, die Phoenix gewiss noch nicht zur Verfügung steht. Und dank Onyx«, er sah zu ihm hinüber, danach blickte er rasch mich an, »kennen wir jetzt auch den Ort.«

»Du weißt, wo die Heimat von Kallisto ist?«, fragte ich und sah Onyx an. Wollte er darüber heute mit mir reden?

Onyx nahm einen hastigen Schluck von seinem »Kaffee« und schenkte meiner Frage kaum Beachtung.

»Ich will mit euch kommen. Ich gebe euch mein Wissen« – er sah erst Griffin, dann mich selbstgefällig an – »und mein Wort, dass ich es ausschließlich mit euch teilen werde. Es sei denn natürlich, es wird im wahrsten Sinne des Wortes aus mir herausgeprügelt. In diesem Fall werde ich es demjenigen geben, der die schnellste Faust hat.« Lächelnd lehnte er sich zurück und erwartete, dass wir auf seine Forderungen eingingen – typisch Onyx.

»Warum solltest du mit uns kommen wollen?«, fragte Lincoln.

»Ich habe meine Gründe. Sie stehen in keinem Zusammenhang mit dieser Angelegenheit und betreffen euch nicht.«

»Erzähl uns von diesem Ort«, sagte Griffin. Was immer Griffin aus Onyx Forderung herausgehört hatte, beunruhigte ihn offenbar nicht allzu sehr. Lincoln sah aus, als wollte er dagegen protestieren, aber Griffin kam ihm zuvor: »Wir haben keine andere Wahl. Wir brauchen diese Ortsangabe.«

Onyx freute sich diebisch, er ließ sich in seinem Stuhl nach unten gleiten und schwang den Arm über die Lehne, doch mir war der Moment der Erleichterung nicht entgangen, den er nicht hatte verbergen können. Er gab eine dramatische Vorstellung, entspannte seine Schultern und spielte auf Zeit. Ich merkte, dass er es vor allem genoss, dass er den normalerweise undurchdringlichen Lincoln aus dem Konzept gebracht hatte. Onyx gehörte zu den wenigen Leuten, die Lincoln zu irritieren schienen. Das lag wohl an ihrer gemeinsamen Geschichte.

»Das hat mir allein der erste Teil des Gedichts fast verraten. In all den Jahren gab es viele Geschichten über … Pforten. Was einst die Heimat von Atlas und auch Kallisto war. Plato war einer der wenigen Menschen, der dahintergekommen ist. Eine Stadt, die so groß war, dass sie die Welt in sich hätte aufnehmen können. Das war lange vor meiner Zeit auf Erden, aber ich habe es von einem anderen Blickwinkel aus beobachtet. Vielleicht 10 000 vor Christus. Natürlich ist sie längst verschwunden, vielleicht liegt sie irgendwo auf dem Grund des Ozeans, und vielleicht ist nicht mehr als ein besserer Grabstein von ihr geblieben. Eine Insel, die einst den Namen Kallisto – die Allerschönste – trug. Was von ihr geblieben ist, umgibt nun eine Pforte zur Hölle, die immer geöffnet und immer bereit ist.«

»Wo?«, fragte Griffin ungeduldig.

»Wie es scheint, bedarf es einer Reise auf die Kykladen.«

»Griechenland?«, fragte Steph. Sie machte eine Pause, als würde sie vor ihrem geistigen Auge eine Karte heraufbeschwören, was sie vermutlich auch tat, bevor sie mit einem Ruck den Kopf hob. »Santorin! Die südlichste Insel. Dort ist die Pforte.« Und dann blinzelte sie, als wäre ihr gerade ein anderer Gedanke durch den Kopf geschossen, und sie wurde blass. »Thera …«, hauchte sie.

Ich sah mich am Tisch um und entdeckte, dass ein paar andere Gesichter ebenfalls bleich geworden waren.

»Was?«, erwiderte ich. »Was bedeutet das?«

Griffin schluckte. »Die Insel Santorin wurde auch Thera genannt. Es handelte sich dabei um eine ganze Zivilisation, die auf der Spitze der Insel entstand, die gleichzeitig ein … Vulkan war. Etwa 1650 vor Christus brach er aus.«

»Eher um 1630 vor Christus«, korrigierte Onyx. Ich hatte den Eindruck, als sei er damals schon mal in der Gegend gewesen.

»Die Explosion war so mächtig, dass ein Großteil der Insel im Meer versunken ist, und was jetzt noch davon übrig ist, ist nur der äußere Rand. Manche Leute sind der Ansicht, dass dadurch die gesamte minoische Kultur auf der benachbarten Insel Kreta untergegangen ist. Andere« – dabei blickte er Onyx an –, »andere glauben, dass Thera die versunkene Stadt Atlantis beherbergte.«

»Der Vulkan ist also versunken?«

Lincoln stand auf und ging vom Tisch weg, als hätte er etwas zu erledigen. In der Nähe der Bar blieb er stehen, er war immer noch in Hörweite, hatte sich aber abgewandt.

»Ja, das ist er«, sagte Onyx, »aber die Hölle bleibt nicht lange unten – sie hat sich seitdem immer wieder aus dem Wasser erhoben. Und dieser Vulkan ist noch immer sehr aktiv.«

»Wie konnte der Vulkan Menschen auf einer anderen Insel vernichten?«, fragte Becca. »Selbst durch eine große Explosion kann Lava nicht so weit geschleudert werden.«

»Tsunami«, sagte Steph. Nur dieses eine schreckliche Wort.

»Dagegen kommt man nicht an«, sagte Becca und sackte wieder in sich zusammen.

»Ja, weil ein Vulkan allein ein Klacks wäre«, sagte Spence.

Ich zog das erste Gedicht heraus, das Steph übersetzt hatte. »Feuerregen und Aschefall. Sie werden den Vulkan ausbrechen lassen, nicht wahr? Der Vulkan ist die Pforte.«

Niemand antwortete. Das war auch nicht notwendig. Selbst Onyx schwieg.

Dapper fing an, aufzuräumen, er räumte Teller und Tassen ab. Das war seine Art, mit schlechten Nachrichten umzugehen. Wir übrigen saßen nur schockiert da.

Schließlich trat Lincoln wieder an den Tisch. »Wann brechen wir auf?«

Griffin war tief in Gedanken versunken, er brauchte einen Augenblick, bis er antwortete.

»Heute Abend.«

Ich blickte zu Steph hinüber.

Sie zog die Augenbrauen nach oben. »Wag es nicht! Dieses Mal komme ich mit.« Sie verschränkte die Arme.

»Es ist zu gefährlich.«

»Tut mir leid, Violet, aber Stephanie ist jetzt Teil dieses Krieges. Sie hat bewiesen, wie wertvoll sie ist, und es sind immer noch Teile der Schrift übrig, die übersetzt werden müssen. Da sind noch ein paar Symbole, die sie helfen könnte zu entschlüsseln. Wenn sie gern möchte und wenn sie sich damit einverstanden erklärt, aus der Schusslinie zu bleiben und den Anweisungen Folge zu leisten, dann kommt sie mit.«

»Was ist mit der Schule?«, fragte ich und wünschte mir wieder, ich hätte sie nie in diese Welt gebracht. Wie konnte Griffin das tun? Sie war schon einmal gekidnappt worden.

»Wir wissen beide, dass ich es mir leisten kann, eine Zeit lang nicht zur Schule zu gehen. Und auf alle Fälle ist das etwas Größeres als die Schule, Vi. Es ist nicht nur für dich wichtig, ihn aufzuhalten.«

Da hatte sie recht, aber … »Ich kann dich nicht beschützen.«

»Das habe ich auch nie von dir verlangt, ich habe nicht vor, mich an vorderster Front aufzuhalten. Wie wäre es, wenn du dein Ding machst und mich meins machen lässt?«

Ich begriff, dass nichts, was ich sagte, etwas ändern würde, und ich sah auch, dass Griffin nicht vorhatte zuzulassen, dass ich sie dazu zwang, zurückzubleiben.

»Ich werde auch mitkommen. Wir werden zusammen an der Schrift arbeiten und uns aus den Kämpfen heraushalten«, sagte Dapper, während er seine Brille abnahm. Unsere Blicke trafen sich und er schenkte mir ein winziges Nicken, ein Versprechen. Er würde für ihre Sicherheit sorgen. Ich nickte ebenfalls – ich konnte auf ihn zählen.

»Heute Abend um neun am Flughafen. Beth und Archer werden hierbleiben und die Leitung der Stadt übernehmen«, fuhr Griffin fort.

Die beiden nickten.

»Alle übrigen erwarte ich in diesem Flugzeug. Es ist ein Charterflug, bringt also eure Pässe mit«, sagte Griffin. Er legte seine Unterlagen weg und kramte in seiner Tasche.

Ich wollte mich gerade zu Wort melden und erklären, dass ich gar keinen Pass hatte – für Jordanien hatte ich keinen gebraucht, weil wir hineingeschmuggelt wurden –, aber da zog er etwas aus seiner Tasche und ließ es über den Tisch zu mir rüberschlittern.

Ich nahm es – ein Reisepass und andere Ausweispapiere, einschließlich einer Kreditkarte.

»Ist das Zeug legal?«, fragte ich und schaute ein Bild von mir an, von dem ich nicht wusste, wann es gemacht wurde.

»Ja«, sagte er lächelnd. »Und nein. Das sind Standarddokumente für alle Grigori. Wir haben sie, damit wir nicht von Regierungsbehörden ausfindig gemacht werden können. Niemand kann dich je finden, wenn du diese Dokumente verwendest. Bring nur sie mit, nichts anderes, dann ist alles in Ordnung.«

»Die Kreditkarte?«, fragte ich, während ich Steph ein rasches Lächeln zuwarf.

»Für Notfälle«, sagte er und bedachte mich mit einem Denk-nicht-mal-daran-Blick, der weit besser war als alle, die Dad mir jemals zugeworfen hatte.

Als ich gerade alles in meinen Rucksack packte, räusperte sich Onyx.

»Ja, Onyx. Für dich werde ich Dokumente mit zum Flughafen bringen«, sagte Griffin.

Onyx lächelte breit.

»Heute Abend, neun Uhr, Leute«, wiederholte Griffin, bevor er Beth und Archer winkte, damit sie ihm folgten. Sie würden noch eine Menge zu besprechen haben, bevor Griffin die Stadt in ihren Händen zurückließ.

Onyx glitt von seinem Stuhl und ging geradewegs zur Bar. »Schlüssel!«, rief er, als er vor dem herunterziehbaren Gitter stand, hinter dem der ganze Alkohol gelagert wurde.

»Vergiss es«, sagte Dapper, der jetzt die Tische abwischte.

»Oh, Dapper, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Sag mir nicht, du hättest nicht gern ein großes Glas von etwas, das den Geist vernebelt, nachdem du herausgefunden hast, dass die Hölle kurz davor ist, uns einen Besuch abzustatten, und zwar durch den zerstörerischsten Vulkan des ganzen Planeten?«

Dapper wischte weiterhin den Tisch ab.

»Schlüssel!«, bellte Onyx.

Seufzend warf Dapper sie ihm zu. Onyx fing sie auf Anhieb und hatte Sekunden später das Gitter geöffnet.

Steph stand auf und ging zur Tür.

»Wohin gehst du?«, fragte ich und stand ebenfalls auf.

»In die Schule. Ich besuche die letzten Unterrichtsstunden, nehme für alle Fälle die Aufgaben für die nächsten ein bis zwei Wochen mit und sage ihnen, dass ich Dad auf einer seiner Geschäftsreisen begleite. Ich bringe deine Aufgaben auch mit – es sei denn natürlich, du möchtest mitkommen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Hab ich auch nicht erwartet.«

Sie umarmte mich fester als üblich. »Ich warte um acht Uhr in einem Taxi vor eurer Wohnung.«

Ich wollte widersprechen, sie versuchen zu überzeugen, hierzubleiben, aber es war sinnlos. »Okay«, seufzte ich.

Sie drückte mich noch einmal und ging an Spence vorbei nach draußen. Was immer sie dabei zu ihm sagte – er schüttete sich aus vor Lachen.

Sie hatte ihm wohl ebenfalls angeboten, dass sie seine Schulaufgaben mitbringt.

Ich bekam am Rande mit, wie einer nach dem anderen ging, aber ich setzte mich wieder an den Tisch. Ich konnte mich noch nicht bewegen.

Wie konnte Phoenix das nur tun?

Ich hatte eine Seite von ihm kennengelernt, die zu dem, was er jetzt vorhatte, niemals fähig wäre, da war ich mir sicher.

Empfindet irgendein Teil von ihm überhaupt noch irgendetwas? Vielleicht wenn ich versuchen würde, mit ihm zu reden, einen Weg finden würde, ihn zu erreichen

»Was immer du da gerade denkst, hör auf damit.«

Ich schreckte aus meinen Gedankengängen auf und hob den Kopf. Lincoln stand an der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Seinem Blick nach zu urteilen beobachtete er mich schon eine ganze Weile, und ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht einmal bemerkt hatte, wie er näher gekommen war.

»Das ist alles meine Schuld. Wenn ich mich nicht überhaupt erst auf ihn eingelassen hätte … Es liegt alles daran, dass ich ihn nicht lieben konnte.«

Etwas Schmerzliches huschte über Lincolns Gesicht und seine Hände ballten sich zu Fäusten, als müsste er sie zurückhalten. Als hätte er sie am liebsten nach mir ausgestreckt. Ich spürte das Anschwellen seiner Kraft, den Fluss des Honigs, der von ihm ausging und mich einhüllte.

Warum verwendet er seine Kraft in meiner Gegenwart?

»Das Beste, was wir jetzt tun können, ist ihn aufzuhalten, aber, Vi …, ich glaube, du solltest in Erwägung ziehen, nicht mitzukommen.«

»Bist du bescheuert? Du glaubst doch wohl nicht, dass ich alle anderen gehen lasse, sogar Steph, um die Schlacht zu schlagen, die ich verschuldet habe?«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Obwohl ich wusste, was mir noch bevorstand – dass ich das zuerst mal mit Dad regeln musste –, war es absolut keine Option, nicht mitzukommen.

»Wenn du glaubst, dass das je geschehen wird, dann kennst du mich aber schlecht.«

»Ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Aber ich glaube sehr wohl, dass du es es in Erwägung ziehen solltest.«

Ich stand auf und legte meine Hände flach auf den Tisch, um ihn wütend anzustarren. »Nun, ich habe es in Erwägung gezogen.«

Ich schnappte mir meine Tasche und stürmte hinaus, noch bevor Lincoln die Gelegenheit hatte, ein weiteres Wort zu sagen.