Kapitel Eins

»Die Erinnerung kann ein Paradies sein, aus dem wir nicht vertrieben werden können, aber ebenso eine Hölle, der wir nicht entkommen können.«

John Lancaster Spalding

Sanfte schwarze Linien bluteten aus mir heraus – meine Seele sprach zu mir, eine verzweifelte Bitte um Erlösung. Kohle war nicht mein bevorzugtes Medium, aber neuerdings schien es mir angemessen. Ich stand mit dem Rücken zum Fenster, und die Sonne zeichnete einen hellen Schein um meinen Schatten, der auf das verbleibende Weiß meiner Leinwand fiel. Darüber hinaus schnitt die Kohle kräftigere, schärfere Linien, während ich mich in meine Arbeit vertiefte und mich darin verlor. Diese Wirkung hatte die Kunst auf mich – sie ließ die Zeit beinahe stillstehen.

Beinahe.

Ich hatte mich verändert, auch wenn ich mich bemühte, es nicht zu zeigen. Mich selbst konnte ich nicht täuschen. Das Einzige, was ich tun konnte, war, mich an die Regeln zu halten. Das war das einzig Mögliche. Schule, Training – und Nachforschungen, wenn ich dazu in der Lage war. So hatte ich das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, was nie so wichtig gewesen war wie jetzt – und nie so zerbrechlich. Die vergangenen Ereignisse hatten Tatsachen geschaffen, die wir nicht verleugnen konnten. Phoenix hatte, was wir wollten, und wir hatten das, wofür er bereit war, alles zu tun, um es zu bekommen. Und wenn ich dabei sterben sollte? Na ja, er würde das wahrscheinlich als wohlverdienten Sieg betrachten.

Das hieß nicht, dass ich es ihm leicht machen wollte. Wenn die Grigori-Schrift in den Händen der Verbannten bliebe, würde eine unfassbare Zahl unschuldiger Leben auf dem Spiel stehen. Also blieb uns nichts anderes übrig, als auf seinen vorgeschlagenen Handel einzugehen. Das war alles andere als ideal. Wenn wir Phoenix die Schrift der Verbannten aushändigten, würde er etwas so Zerstörerisches tun, dass wir uns den Preis dafür nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten.

Oder wie viele ihn bezahlen müssten.

Wie berechnet man den Preis, den man bezahlen muss, wenn die Mutter der Finsternis aus der Hölle aufersteht?

Ich schmeckte den Apfel – süß und jung –, roch die Blumen – so schwer von Pollen, dass die Luft ganz dick wurde. Ich zuckte zusammen, weil sie so nah waren, aber ich reagierte langsam, weil ich noch immer in meine düsteren Gedanken versunken war – die Kohlestriche waren jetzt starr und angestrengt. Auch das Flügelschlagen setzte ich zusammen mit dem Aufblitzen von Morgen und Abend auf meiner Staffelei um.

Endlich wurde ich durch Miss Kinkaids unverwechselbares Räuspern aufgeschreckt. Sie beugte sich über mein Kunstwerk. Ich brauchte nicht zu raten, weshalb.

»Ähm, Violet …«

Aber jetzt, wo ich mir meiner Umgebung wieder bewusst geworden war, begannen in meinem ganzen Körper die Alarmglocken zu schrillen.

Verdammt, nicht schon wieder.

Griffin würde verärgert sein.

»Miss Kinkaid, Sie müssen vom Fenster weggehen«, sagte ich und schnitt ihr das Wort ab, bevor sie mit ihrer Kritik anfangen konnte. Ich war bereits aufgestanden und holte ein paarmal tief Luft, um meine engelhaften Sinne zu beruhigen. Es war schon schlimm genug für normale Grigori, die einen, gelegentlich auch zwei Sinne hatten. Ich war die Erste, die über alle fünf verfügte – und das war mehr als anstrengend.

»Ich, na ja wie bitte?« Sie schlug sich die Hand vor die Brust, als hätte ich gerade ihre schiere Existenz beleidigt.

Ich verdrehte die Augen.

Jedes Mal die gleiche Reaktion.

»Ja. Jetzt. Und ihr anderen auch!«, rief ich meiner Kunstklasse zu. Zum Glück waren wir eine relativ kleine Gruppe von fünfzehn Leuten. »Mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand!«, befahl ich, während ich mein Handy schnappte, »BIU3« tippte, auf »Senden« drückte und es fallen ließ.

Bin im Unterricht, drei Verbannte unterwegs.

Ja, wir hatten uns sogar Abkürzungen für meine … Unaufmerksamkeit … einfallen lassen. Manchmal konnte ich nicht verhindern, dass ich meine Verteidigung sinken ließ – vor allem wenn ich malte, vergaß ich einfach alles andere.

Meine Mitschüler sahen mich an, als wäre ich ein Freak, und obwohl ich keine Zeit hatte, mich darum zu kümmern, ging es mir auf die Nerven.

Vielleicht weil sie recht hatten.

»Tut mir wirklich leid, aber bewegt euch! Alle!«, rief ich und fing an, die Leute buchstäblich von der einen Seite des Raumes auf die andere zu zerren – meine Kommilitonen rissen wegen meiner übermenschlichen Kraft Augen und Mund auf. Das Geschrei würde später losgehen, wenn ihnen klar werden würde, dass das alles kein dummer Scherz war. Momentan schafften es alle, einigermaßen cool zu wirken, nur für den Fall, dass es irgendwo eine versteckte Kamera gab. Ich konnte bereits sehen, dass Tristan Newland sein Handy hoch hielt.

Verbannte kamen hierher, sie waren schon fast da. Ich verfluchte mich selbst. Wenn ich meine Schutzschilde nur noch eine halbe Stunde aufrechterhalten hätte. Dann wäre ich außerhalb des Schulgeländes gewesen und diese ganze Angelegenheit wesentlich einfacher.

Die Sache ist, dass sich verbannte Engel an nicht viele Regeln halten müssen – oder sich darum scheren würden, sie einzuhalten. Während es schwierig für sie ist, Grigori – Engel-Menschen-Mischlinge wie mich – zu Hause aufzuspüren, was an den Schutzbarrieren liegt, die jedes Zuhause natürlicherweise hat, ist man als Grigori an allen anderen Orten, einschließlich der Schule, vogelfrei.

Ich zog meinen Pulli aus. »Die Fenster zerspringen gleich! Schließt die Augen!«, befahl ich meinen Mitschülern, die allmählich reagierten. Aber nur die Hälfte von ihnen nahm mich wirklich ernst und verbarg das Gesicht zwischen den Knien. Vielleicht glaubten sie, ich würde sie als Geiseln nehmen. Wahrscheinlich machte es auch keinen so guten Eindruck, dass ich meinen sehr tödlich aussehenden Dolch aus seiner »geblendeten« Scheide zog. Die Blendung diente der Tarnung, damit niemand auch nur ahnte, dass er dort war.

»Oh, du lieber Gott«, wimmerte Miss Kinkaid.

Doch es blieb keine Zeit, ihnen zu helfen, denn in diesem Moment krachten drei Verbannte mit der Wucht eines Güterzuges durch die Fenster. Fast das ganze Glas und das Holz darum herum regneten in das Zimmer und über alle, die sich dort befanden.

Angeber!

Ich sah, dass ein paar meiner Mitschüler von umherfliegenden Glasscherben getroffen wurden, aber das war nichts Ernstes. Noch nicht.

Drei gegen einen war schlecht. Drei gegen einen, der auch noch fünfzehn schutzlose Menschen verteidigen musste, war noch schlimmer. Ein weißhaariger Verbannter erblickte mich sofort und kam auf mich zugestürzt. Ich hatte weniger als eine Sekunde, um zu reagieren, weil ich wusste, dass ich nicht zulassen durfte, dass die anderen beiden an meinen Mitschülern ihre eigene Vorstellung von Kunst auslebten – Verstümmelung und Folter.

Als der Verbannte gerade neben mir landen wollte, ließ ich den Dolch fallen, rollte herum, wobei seine Faust mich nur knapp verfehlte, und hatte dadurch gerade genug Zeit, den nächsten rötlich-blonden Verbannten zu ergreifen und wie eine Bowlingkugel in den dritten zu schleudern, bevor sich der Weißhaarige wieder auf mich stürzte. Für diesen Schachzug musste ich bezahlen – mein Kopf schlug in das Pult neben mir und spaltete die Schreibfläche in zwei Hälften.

Der Weißhaarige warf mich zu Boden und setzte sich rittlings auf mich, dann bearbeitete er mein Gesicht mit den Fäusten. Das alles geschah innerhalb von Sekunden. Es gelang mir, mich so weit aus seinem Griff zu winden, dass ich ihm das Knie in den Bauch rammen konnte, dann kroch ich rückwärts und sprang auf die Füße.

Zwei weitere Gestalten sprangen durch das inzwischen glaslose Fenster und landeten elegant hinter den drei Verbannten. Sie zögerten nicht, zückten einfach ihre Dolche und stürzten sich ins Getümmel. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, dann schlug ich dem Verbannten, der sich mir näherte, die Faust ins Gesicht. Der Schlag hatte so viel Wucht, dass er gegen die Wand geschleudert wurde. Dadurch erhielt ich die Gelegenheit, mir meinen Dolch zu schnappen und auf die Kraft zuzugreifen, die tief unten in meiner Magengrube angesiedelt war. Ich beschwor sie herauf.

Mein unverkennbarer violetter Nebel hüllte den Raum ein, und ich lächelte, als er mich umgab. Die Verbannten hörten alle auf, sich zu bewegen, lahmgelegt durch meine Kraft und unfähig, sich zu wehren.

Ich spürte ein Rinnsal warmes Blut, das mir seitlich am Gesicht herunterlief. Das Aufschlagen auf dem Pult hatte wohl mehr Schaden angerichtet als vermutet.

»Hey, Leute«, sagte ich zu Beth und Archer und biss mir auf die Lippe.

Meine Mitschüler fingen an zu schreien oder zu weinen, was ich ihnen wirklich nicht verübeln konnte.

Beth und Archer zogen gleichzeitig die Augenbrauen nach oben. »Das ist das vierte Mal in fünf Tagen, Violet.«

Ich ging hinüber zu dem Weißhaarigen, der an der Wand zusammengesackt war. Er konnte mich hören und wenn nötig auch sprechen. Er beobachtete, wie ich mich ihm näherte, wusste, was ich ihm antun konnte. Genau dasselbe, was sie zu mir geführt hatte, sagte ihnen jetzt, wie mächtig ich war.

Ja, offensichtlich … ich strahlte das ja förmlich aus.

Er war jung. Nicht nur vom Aussehen, sondern auch von der Erfahrung her. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er kaum mehr als ein Jahr hier war, was mehr war, als ich bei den anderen beiden schätzen würde. Ein jahrtausendelanges Engelleben bereitete sie nicht wirklich darauf vor, menschliche Gestalt anzunehmen. Dieser hier wirkte linkisch, als hätte sein Körper die falsche Größe. Wenig überraschend, dass er männlich war. Alle entscheiden sich, männlich zu sein, zumindest die meisten. Ihrer Meinung nach war das Männliche dem Weiblichen, dem schwachen Geschlecht ohne Macht, überlegen.

Idioten.

Der Verbannte sah nicht älter aus als ich, sein leuchtend weißes Haar stand nach oben. Er hatte eines von diesen Oma-Haarfärbemitteln benutzt und es hatte einen Lilastich bekommen. Ich hätte fast gelacht, als ich mir vorstellte, wie er menschlich geworden war und die Wochen danach damit verbracht hatte, mit Haarfarben herumzuexperimentieren.

Miss Kinkaid kam auf die Beine und lehnte sich zitternd wie ein neugeborenes Fohlen an die Wand, um Halt zu finden.

»V-V-Violet, leg … Leg diese W-Waffe weg. Wir müssen die … Polizei rufen«, sagte sie, wobei fast jedes ihrer Worte in einem schluckaufartigen Schluchzen unterging.

Ich seufzte. Das war nicht gut. Und selbst wenn wir das wieder hinkriegten – ich fragte mich, ob diese Menschen nicht später in ihrem Leben psychische Schäden davontragen würden. Griffin, der Anführer der Grigori in unserer Stadt, versichert zwar immer, dass das nicht der Fall sei, aber trotzdem …

Wenigstens waren die Kunsträume in einem separaten Gebäude untergebracht, sonst wäre inzwischen bestimmt schon die ganze Schule herbeigestürzt. Aber ich konnte hören, dass bereits Leute in unsere Richtung liefen.

»Ich wünschte, es wäre so einfach«, murmelte ich vor mich hin und ließ den Verbannten nicht aus den Augen, der mich mit einem Lächeln umgebracht und dann auch alle anderen im Raum getötet hätte. Verbannte sind nun mal gründlich.

»Willst du, dass ich einen Menschen aus dir mache?«, fragte ich, während ich einen Blick auf die anderen Verbannten warf. Bei einem direkten Angriff wie diesem war es nicht notwendig, dieses Angebot zu machen, und ich kannte ihre Antwort sowieso, aber ich hatte trotzdem das Bedürfnis, es auszusprechen.

Ja, total mitfühlend.

Der Verbannte antwortete nicht, er sah mich nur weiterhin an, als würde er sich gerade vorstellen, wie er mir den Kopf abreißt. Ich umklammerte meinen Dolch noch fester.

Archer räusperte sich. Leider wusste ich auch, warum.

Ich unterdrückte einen frustrierten Seufzer. »Hat jemand von euch eine Botschaft für mich?«, fragte ich und hielt mich damit an unsere neuesten Benimmregeln.

Der Verbannte zögerte nicht, um seine Worte abzuwägen, während die anderen einfach knurrten.

»Ich werde dich in jeder Hinsicht übertreffen! Ich bin mächtiger, als du dir vorstellen kannst, und wenn ich dich töte, werden sich die anderen vor mir verneigen!«, rief er, unfähig, den Zorn seiner menschlichen Gestalt in Schach zu halten, ein Gefühl, das sein vorheriges, körperloses Selbst nicht verarbeiten konnte. Er gab sich bereits seinen Wahnvorstellungen hin.

Nicht unbedingt die Botschaft, auf die ich gewartet hatte, aber gut genug.

Gleichzeitig mit Miss Kinkaids Schrei rammte ich ihm den Dolch durch die Brust und stellte sicher, dass es eine schnell tötende Wunde wurde. Der Dolch brauchte nicht durch das Herz zu gehen, es gab viele andere Stellen, die das Ende eines Verbannten bewirken würden. Das einzig Wichtige war, dass die Wunde mit einer Grigori-Waffe zugefügt wurde und dass der Stich tödlich war. Ansonsten ist es so gut wie unmöglich, verbannte Engel loszuwerden.

Archer zögerte nicht, er erledigte einen der Verbannten und wirbelte auf der Stelle herum, um dem anderen gegenüberzutreten. Seine Klinge schlitzte dem Verbannten geradewegs die Kehle auf.

Ich schaute weg. Archer war noch von der alten Schule, und er war sehr gut.

Zwei meiner Mitschüler, Jeff Willis und Meredith Faro, wählten genau diesen Moment, um von Schock in absolute Hysterie zu geraten. Jeffs Tonlage war dabei am höchsten. Wenigstens versuchte dieses Mal niemand abzuhauen.

Es würde nicht lange dauern, Beth befasste sich bereits mit den anderen Schülern. Jeder Grigori hatte eine bestimmte Stärke und wir waren alle ein wenig verschieden. Beths Stärke betraf das Gedächtnis. Wie all unsere Gaben hatte jedoch auch sie ihre Grenzen. Beth hatte etwa zehn Minuten lang die Gelegenheit und nur eine Kapazität von einer halben Stunde, um Erinnerungen zu löschen, außerdem musste sie auf jeden Fall das Zielobjekt berührt haben.

Sie fing mit Miss Kinkaid an, die jetzt still war, obwohl sie ihren Mund zu einem stummen Schreckensschrei weit geöffnet hatte. Beth streichelte tröstend ihre Hand.

»Es ist okay. Jetzt ist alles gut.«

Sie ging an ihr vorbei zu den Nächsten, dabei berührte sie jeden auf die eine oder andere Weise, auch diejenigen, die sich vor ihr duckten. Dann starrte sie jeden einzelnen eindringlich an.

»Hilfe ist unterwegs«, sagte sie beruhigend. »Würdet ihr bitte alle mal kurz zu mir schauen?«, fuhr sie fort, wobei sie ein wenig Süße in ihre Stimme legte, die alle in eine leichte Trance versetzte. Beth gehörte auch noch zur alten Schule.

Archer sprang aus dem Fenster und verschwand, während ich umherging und mich vergewisserte, dass alle Hinweise auf die Anwesenheit von Verbannten verschwunden waren. Ihre Körper waren dabei der leichteste Teil. Sobald sie »zurückgeschickt« wurden, verschwand ihre körperliche Form, aber ab und zu blieben andere Überbleibsel zurück. Für gewöhnlich waren es Waffen, aber kürzlich hatten wir damit angefangen, auf andere Dinge zu achten, die eine Botschaft enthalten konnten, auch wenn ich wusste, dass sich Phoenix mit solchen Spielchen nicht aufhalten würde. Er überbrachte Botschaften am liebsten persönlich.

»Ihr wart wie an jedem anderen Tag im Kunstunterricht. Vandalen haben Chaos in der Gegend angerichtet und genau wie letzten Freitag«, Beth warf mir einen vielsagenden Blick zu, »kam eine Motorradgang angefahren und warf Steine durch die Fenster. Zum Glück hat Miss Kinkaid so geistesgegenwärtig reagiert, dass ihr euch alle rechtzeitig in der Ecke zusammendrängen konntet. Einige von euch wurden von herumfliegendem Glas getroffen, aber es geht euch allen gut und ihr wisst, dass ihr jetzt in Sicherheit seid. Leider ist es keinem von euch gelungen, einen Blick auf die Täter zu erhaschen. Stimmen mir alle zu?«

Meine Lehrerin und meine Mitschüler nickten alle.

Beth wartete, bis sie zufrieden war. »Okay, jetzt bleibt ihr ruhig hier sitzen, bis wir weg sind. Beachtet uns gar nicht, und wenn wir weg sind, werdet ihr euch nicht mehr an uns erinnern, außer an Violet, die eure Mitschülerin ist und zusammen mit euch Übrigen in der Ecke in Deckung gegangen ist.«

Alle nickten wieder.

Ich schrak zusammen, als Archer mit backsteingroßen Steinen, die er vorne in sein Road-Runner-T-Shirt gelegt hatte, wieder durch das Fenster gesprungen kam. Er verteilte sie im Zimmer, um das zerbrochene Glas zu erklären. Ein paar davon ließ er auf das Pult fallen, das ich mit meiner Stirn zerschmettert hatte.

»Zum Glück gibt es an deiner Schule keine Videokameras, dann wäre das nämlich viel schwieriger«, merkte er an.

Rasche Schritte erklangen auf dem Korridor. Beth und Archer spannten sich an.

»Schon gut, es ist nur Spence«, sagte ich. Ich konnte Grigori wahrnehmen, nicht so leicht wie Verbannte, aber ich war jeden Tag mir Spence laufen – ich kannte seinen Gang gut genug, um sicher zu sein, dass er es war.

Spence schlitterte regelrecht in den Raum, dann sah er meine Mitschüler an, erkannte, dass sie momentan wie betäubt waren, und brauchte einen Augenblick, um alle Puzzleteile zusammenzufügen. Er schnaubte. »Ich habe es verpasst, nicht wahr? Mann, Eden, du hättest mich wenigstens anrufen können!«

Klar. Ich fühlte mich schlecht. Er war ganz in der Nähe gewesen und liebte es zu kämpfen.

»Tut mir leid, ich habe kaum Zeit gehabt, Beth und Archer zu rufen.«

Wir wussten alle, dass sie für solche Fälle die erste Adresse waren. Beths Fähigkeit, Probleme … verschwinden zu lassen, war unerlässlich.

»Schutzschilde?«, fragte Spence, gerade als ich das Summen eines weiteren Neuankömmlings spürte.

»Ja«, gab ich zu. Ich hasste, dass ich noch immer nicht stark genug war.

Mit einem weiteren dumpfen Schlag wirbelte ein weiteres Beinpaar durch das Fenster. Ich verdrehte die Augen zur Decke.

Mussten wirklich alle hierherkommen?

Lincoln nahm die Szene ungefähr genauso auf wie Spence. Gleich danach ruhte sein Blick auf mir. »Du bist verletzt.« Er knurrte fast.

Ich seufzte. »Nein. Ich bin okay. Dumm, aber okay«, sagte ich, wobei ich versuchte, ihn nicht anzublicken. Nicht dass das einen Unterschied gemacht hätte. Allein seine Anwesenheit brachte jeden Teil von mir – menschlich oder engelhaft – zum Hyperventilieren.

Er sah mich an, als wollte er näher kommen, aber aus einem nachdenklichen Blick auf meinen Kopf musste er wohl geschlossen haben, dass die Wunde nicht allzu schlimm war, und wandte sich stattdessen an Beth. »Wie viel Zeit haben wir?«

»Etwa dreißig Sekunden bis dieser Haufen da wieder zu sich kommt«, sagte sie, während sie Tristan das Handy aus der Hand nahm und offensichtlich sein neuestes Filmmaterial löschte.

»Und ungefähr eine Minute, bis die ganze Schule hier eintrifft«, sagte Spence.

Ich schnappte mir ein paar Papiertücher von Miss Kinkaids Pult und begann, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Es war wirklich nicht schlimm.

»Violet, ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte Lincoln.

Ich steckte meinen Dolch zurück in die Scheide und band mein Haar zu seinem ursprünglichen Pferdeschwanz zusammen. »Ja, ihr geht jetzt besser.«

Spence ging durch die Tür hinaus, durch die er hereingekommen war. Archer und Beth sprangen aus dem Fenster. Lincoln wollte ihnen schon folgen, hielt dann aber kurz inne.

»Ist das deins?«, fragte er und zeigte auf die Kohlezeichnung, die jetzt auf dem Boden lag.

»Ja.«

Er runzelte die Stirn. »Es ist schön … und schrecklich zugleich. Was ist das?«

»Das bin ich.«