Kapitel Zwanzig
»Des Narren Paradies ist dem Weisen eine Hölle.«
Thomas Fuller
Santorin schimmerte wie eine Mondsichel, die im Meer schwamm. Wir umkreisten die Insel einmal, bevor wir auf dem kleinen Rollfeld landeten, und ich war nicht die Einzige, die am Fenster klebte. Die Aussicht war atemberaubend. Es war der schönste Ort, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Die niedrigen Gebäude oben auf den Klippen vergrößerten deren Höhe noch, sie sahen aus wie übereinandergestapelt und waren strahlend weiß – wie Schneekronen. Die Lichter der Häuser funkelten in der Dämmerung und tauchten die Insel in Gold.
Dann sah ich den kleinen dunklen Kreis Land im Meer, der in der Nähe der Insel lag, und ich spürte etwas anderes, das nicht so magisch war, aber definitiv machtvoll.
Josephine stand auf und kam in der Kabine nach vorne, bis sie genau vor mir stehen blieb, um ein Wort an uns alle zu richten.
»Seht aus dem Fenster. Die ringförmig angeordneten Inseln, die ihr dort aus dem Meer ragen seht, bilden den Rand der Caldera, den Einsturzkrater des Vulkans. In der Caldera liegen zwei Inseln: Palea Kameni und Nea Kameni – die ›alte verbrannte Insel‹ und die ›neue verbrannte Insel‹. Wir werden uns auf Letztere konzentrieren. Auf Nea Kameni gibt es eine Reihe von Kratern, aber wir glauben, dass nur einer von ihnen das Potenzial zum Ausbruch hat. Wenn wir angekommen sind, bleiben alle im Hotel, bis wir morgen früh gemeinsam losziehen. Das ist keine Bitte. Für alles, was ihr bis dahin braucht, wird innerhalb des Hotels gesorgt. Santorin muss als feindliches Gebiet betrachtet werden, bis wir uns das Wohlwollen der Athener Grigori und … des Hüters der Insel gesichert haben.«
»Das sollte noch interessant werden«, sagte Onyx. Obwohl er so weit weg von mir saß, konnte ich den Alkohol in seinem Atem riechen.
Sonst sagte niemand etwas oder fragte, wer dieser Hüter war, deshalb hielt ich auch den Mund.
Santorin sah aus der Luft so schön aus, aber ich war mir dank Josephines Rede ziemlich sicher, dass wir, sobald das Flugzeug den Boden berührte, in diesem speziellen Paradies nicht willkommen sein würden.
Ein Paradies auf einem Vulkan!
Ob es an Josephines Worten lag oder nur an der Dunkelheit – wir beeilten uns, unser Gepäck einzusammeln, durch die Passkontrolle zu kommen und Taxis zu finden.
Lincoln blieb in meiner Nähe und doch weit genug von mir weg. Weder sagte ich zu ihm, dass er mich in Ruhe lassen, noch dass er näher kommen soll, obwohl ich beides wollte. Griffin hatte mir im Flugzeug eine Anweisung gegeben: Er wollte, dass ich Lincoln als Anführer akzeptierte und tat, was er sagte, und das würde ich respektieren. Soweit ich konnte zumindest.
Ich ging schnurstracks auf ein Taxi zu. Salvatore und Steph stiegen gerade in das Taxi davor, während zwei von Josephines Bodyguards mit Onyx und Dapper in dem Wagen dahinter Platz nahmen.
Ich hatte gerade die Tür aufgemacht, als ich das Klappern hoher Absätze hinter mir hörte.
»Violet, sei so lieb und fahre bei mir mit. Es gibt etwas, was ich gern mit dir besprechen würde.«
»Oh«, sagte ich, die Taxitür noch immer in der Hand. »Ich … ähm ….«
»Violet fährt bestimmt gern bei dir mit, Josephine«, sagte Lincoln. Er legte mir die Hand auf die Schulter und manövrierte mich vorsichtig von dem Taxi weg, in das ich schon halb eingestiegen war. »Aber es macht dir doch sicher nichts aus, wenn ich sie begleite? Es wird ihr hinten im Auto oft schlecht, und wir haben herausgefunden, dass es am sichersten ist, wenn ich in der Nähe bin, um sie bei Bedarf zu heilen.« Er schob sich zwischen Josephine und mich, damit war klar, dass das keine Frage war. Lincoln forderte andere Grigori selten so energisch heraus, normalerweise wartete er den richtigen Augenblick ab und ließ den Dingen ihren Lauf. Ich mochte diese Seite an ihm. Sehr sogar.
Weil ich auch unbedingt noch eine weitere Seite brauche, die ich an diesem Kerl liebe!
Josephine musterte ihn einen Moment lang, dann brach sie in leises Gelächter aus. »Aber natürlich. Ich wollte dich ohnehin darum bitten, uns Gesellschaft zu leisten. Diese Angelegenheit geht auch dich an, glaube ich.«
»Wir schnappen uns das nächste Taxi«, sagte Kaitlin und nahm rasch ihr und Samuels Gepäck aus dem Kofferraum, als eine von Josephines schwarz gekleideten Ninjas schwere Taschen auf unsere lud. Als sich das Ninja-Girl gerade auf den Beifahrersitz setzen wollte, hob Josephine die Hand.
»Wir sehen uns dann im Hotel, Morgan.«
Morgan blickte Josephine an, als wüsste sie nicht, ob das ein Code für etwas war oder nicht. Ich malte mir aus, dass es ein ziemlich anstrengender Job sein musste, all ihre Spielchen zu durchschauen. Josephine wedelte mit der Hand. »Weg da.«
Sobald wir uns in Bewegung gesetzt hatten, kurbelte Josephine das Fenster herunter und ließ Nachtluft ins Auto. Zum Ausgleich tat ich dasselbe auf meiner Seite. Lincoln hatte sich strategisch günstig auf den unbequemen mittleren Platz gesetzt. Eine Geste, die Josephine bestimmt nicht entgangen war.
Sie saß aufrecht und mit zusammengepressten Knien da, auf ihrem Schoß ruhte ein schwarzer Aktenkoffer aus Lackleder, der den Mond reflektierte. »Die Fahrt ist kurz, deshalb werde ich gleich zur Sache kommen. Wie schon erwähnt, hat Santorin eine Art Hüter. Die Grigori vom Festland haben viele Male vergeblich versucht, ihre Leute auf den Kykladen zu stationieren – sie wurden meistens vom Meer angespült aufgefunden. Ein sehr alter, sehr mächtiger Verbannter nennt die Inseln sein eigen. Er hat den Grigori klargemacht, dass unseresgleichen hier nicht willkommen ist. Aber er hat eine Vereinbarung mit ihnen getroffen: Dafür, dass wir uns von den Inseln fernhalten, hat er sich bereiterklärt, dafür zu sorgen, dass sie auch für Verbannte verboten sind.«
»Tötet er?«, fragte Lincoln.
»Vielleicht. Das kann man nie wissen, aber jedenfalls nicht genug, um Aufsehen zu erregen.«
Ich war entsetzt.
»Ja, Miss Eden, ich sehe den Blick, den du mir zuwirfst, aber wenn du mal bereit bist, von deinem hohen Ross herunterzusteigen, dann kommst du vielleicht darauf, dass die Anzahl der Grigori nicht unendlich ist. Außerdem haben die Verbannten Griechenland so lange bevölkert, ohne auf starken Widerstand zu stoßen, dass ihre Anzahl auf ein möglicherweise zerstörerisches Niveau gestiegen ist. Die Vereinbarung verhindert, dass gefährliche Mengen von Verbannten auf den Inseln herumwandern. Das ist nicht perfekt, aber der Hüter hat immer zu seinem Wort gestanden, deshalb hat Santorin noch immer die niedrigste Kriminalitätsrate Griechenlands und man hört kaum von Gewalttaten.«
»Das bedeutet nicht, dass sie nicht geschehen«, sagte ich stur.
»Nein, aber der Hüter will uns natürlich glauben machen, dass er nicht wie die meisten Verbannten zu heimtückischer Brutalität neigt, obwohl er gefährlich ist und von rasender Gier angetrieben wird. Seine Interessen liegen … woanders.«
»Wie das?«, fragte Lincoln rundheraus.
Josephine schien einen Augenblick zu überlegen, dann lächelte sie geheimnisvoll und machte dadurch klar, dass sie nichts mehr dazu sagen würde.
Lincoln blieb ruhig, als hätte ihn nichts, was sie gesagt hatte – oder nicht gesagt hatte –, aus dem Konzept gebracht. »Wir dürfen also eigentlich gar nicht auf dieser Insel sein«, schloss er.
»Richtig. Deshalb ist Griffin auch nach Athen gegangen. Die dortigen Grigori werden darüber verärgert sein, dass wir die Vereinbarungen des Waffenstillstands brechen. Aber ich habe vor, dieses Problem heute Abend noch zu lösen.« Sie spähte um Lincolns breite Schulter herum und schaute mich an. »Mit ein wenig Hilfe.«
»Sollen wir ihn zurückschicken?«, fragte ich, aber Lincoln nickte nicht und plauderte auch nicht mehr. Er war totenstill.
»Nein. Ich fürchte, das ist keine Lösung. Aber der Hüter hat bestimmte Schwächen und einen sehr ausgefallenen … Geschmack.« Sie klappte ihren Aktenkoffer auf und drehte ihn so, dass Lincoln und ich seinen Inhalt sehen konnten.
»Schmuck?«, fragte ich.
Der Koffer enthielt eine Reihe atemberaubender Stücke, hauptsächlich Diamanten. In der Mitte lag eine Halskette, die so groß war, dass ein normaler Mensch unter ihrem Gewicht wahrscheinlich zusammenbrechen würde. Darüber hinaus ein paar Armbänder, die mit erbsengroßen Diamanten, aber auch mit dem einen oder anderen bunten Stein verziert waren. Schließlich die Ringe, es waren insgesamt sechs. Sie bestanden alle aus Silber und hatten je einen einzelnen Schmuckstein – drei Diamanten und je einen roten, einen gelben und einen smaragdgrünen Stein. Als ich die Steine sah, wurde ich nervös.
»Sind sie eine Art Bezahlung?«
»Ja«, sagte Josephine, während sie das Geschenk bewunderte.
»Sind …« Mein Mund wurde trocken und ich leckte mir über die Lippen. »Ich kann keine Saphire darunter entdecken.«
Josephine lachte. »Ich merke schon, Magdas Eskapaden haben bei euch allen Spuren hinterlassen. Nein, es sind gewiss keine Saphire dabei oder irgendwelche anderen Steine, die Grigori in Schwierigkeiten bringen könnten. Du kannst sicher sein, das gehört nicht zu meinem Plan.«
Großartig zu wissen, dass du überhaupt einen Plan hast, Lady!
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun, Josephine?«, schaltete sich Lincoln wieder in das Gespräch ein.
Sie seufzte und schloss den Aktenkoffer. »Ich würde es ja selbst tun oder jemand anderes fragen, wenn ich glaubte, das würde funktionieren, doch leider stellt der Hüter sehr spezielle Bedingungen. Wenn wir ihm diese Bezahlung überreichen wollen, muss es jemand nach seinem Geschmack sein, und das wäre jemand Junges mit langen dunklen Haaren, üppigen …« Sie sah auf meine Brüste und schlug dann einen anderen Kurs ein. »Und mit einer Macht, die ihn fasziniert, und glaub mir, er hat schon eine ganze Menge gesehen.«
»Nein«, sagte Lincoln.
Ich hatte völlig dichtgemacht, ich konnte nicht sprechen. Das Einzige, was mir durch den Kopf ging, war: Bitte zwing mich nicht, das zu tun.
»Wir werden einen anderen Weg finden«, fuhr er fort, er machte seinen Standpunkt klar, ohne die Stimme zu erheben, was dem Ganzen noch mehr Nachdruck verlieh.
»Und doch gibt es keine andere Möglichkeit. Da Phoenix die Schrift hat …«, sagte sie und neigte dabei den Kopf, sodass wir beide verstanden, dass sie Da Violet Phoenix die Schrift gegeben hat, meinte, »da Phoenix die Schrift hat, müssen wir damit rechnen, dass er ungefähr morgen zur Insel aufbrechen wird, wenn er nicht schon unterwegs ist. Dies ist unsere einzige Chance, Oberhand zu gewinnen.« Sie zog eine Schnute, täuschte falsches Mitleid vor. »Ich bin mir sicher, Violet versteht das, Lincoln, und auch wenn ich es schätze, dass du deine Partnerin aus … verschiedenen Gründen beschützen willst, müssen wir das heute Abend als Erstes erledigen. Natürlich erwarte ich nicht, dass Violet ohne Begleitung geht. Du wirst die ganze Zeit über bei ihr sein, und es wird nur von ihr erwartet, dass sie den Schmuck überbringt und ihn dem Hüter gibt.«
Ich beobachtete, wie Lincoln so fest den Kiefer zusammenpresste, dass es aussah, als würden ihm gleich die Schläfen explodieren. Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Fenster zu und konzentrierte mich auf die Nacht da draußen.
»Nein«, sagte er wieder.
Ich schloss kurz die Augen und versuchte, alles andere beiseitezuschieben. Ich musste stark sein, durfte nicht nachgeben. Nicht davonlaufen.
»Linc«, sagte ich, wobei mein Blick weiterhin auf die Landschaft draußen vor dem Fenster gerichtet war. »Schon gut.« Ich brauchte Josephine gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie lächelte, aber Griffin hatte mir die klare Anweisung gegeben, mich ihr nicht zu widersetzen. »Solange Lincoln mit mir kommen kann und nicht von mir erwartet wird, dass ich …«
»Natürlich nicht«, unterbrach sie mich. »Lincoln wird die ganze Zeit bei dir sein – das habe ich bereits in den vorausgegangenen Absprachen festgelegt.«
Ich nickte.
»Es ist bereits abgesprochen?«, erwiderte Lincoln, dessen Ruhe inzwischen ins Wanken geraten war.
»Ja, ich habe alles arrangiert, sobald ich unseren Zielort kannte. Ich wusste nur noch nicht, wen wir schicken würden – bis ich gesehen habe, wie schön Violet ist.«
Warum war ich mir dann so sicher, dass sie mich überhaupt nicht schön fand und dass sie das Ganze schon beschlossen hatte, bevor sie mich überhaupt zu Gesicht bekam?
Das Taxi hielt vor einem weißen Gebäude an, das genauso aussah wie die anderen, an denen wir vorbeigekommen waren. Allerdings waren wir jetzt viel weiter oben.
Hat da jemand was von … Klippen gesagt? Na, toll.
»Willkommen in Fira«, sagte Josephine und stieg aus dem Taxi. Samuel und Kaitlin hielten hinter uns an, alle anderen warteten bereits am Fuß einer gewundenen Treppe. Onyx saß auf seiner Tasche und fächelte sich Luft zu, er sah fix und fertig aus.
Samuel ging an uns vorbei, er blieb kurz stehen, um Lincoln vielsagend anzuschauen, der seinen Blick auf die gleiche Weise erwiderte.
»Es ist kein großes Hotel, und da wir in Kürze noch mehr Grigori hier erwarten, haben wir es vollständig gebucht. Ich werde die Hauptsuite belegen, den Rest könnt ihr unter euch aufteilen. Mein Personal wird allerdings aus praktischen Gründen die Zimmer neben meinem bewohnen.« Sie lächelte gezwungen und ging auf die Treppe zu. Ihr Gepäck ließ sie für ihre Ninjas zurück.
Steph kam mit federnden Schritten und einem kindlichen Lächeln auf dem Gesicht auf mich zu. »Teilen wir uns ein Zimmer?«
»Klar, aber vielleicht solltest du bei Sal und den anderen bleiben, bis ich komme und dich hole. Ich muss noch wohin und will nicht, dass du hier allein bist.«
Stephs Lächeln verschwand. Ich wusste, dass sie ausflippen würde, wenn ich ihr erzählte, was Josephine von mir verlangte, und dass sie dann nicht darauf verzichten würde, der stellvertretenden Vorsitzenden gründlich die Meinung zu sagen. Ich klopfte ihr auf die Schulter und ging die Treppe hinauf, sodass ich sie nicht ansehen musste, wenn ich sie anlog. »Mach dir keine Sorgen, Steph. Nur Aufklärungsarbeit. Ich werde die ganze Zeit mit Lincoln zusammen sein.«
»Ehrlich?«, erwiderte sie misstrauisch.
»Absolut.«
»Aber Josephine hat gesagt, niemand darf das Hotel verlassen.«
»Ja, ich weiß, aber sie hat uns darum gebeten, etwas zu überbringen. Nichts Dramatisches. Wahrscheinlich dauert es nur eine Stunde oder so.«
»Na schön. Ich stelle dann wohl einfach meine Taschen in unser Zimmer und gehe zu den anderen. Ich wollte sowieso ihre Meinung zu der Prophezeiung hören. Ich glaube, diese Symbole weisen nicht nur auf die Opfer hin.«
Ich schaute sie über die Schulter an, froh, dass das Licht nur dämmrig war, und schenkte ihr ein erzwungenes Lächeln. »Großartige Idee. Ich komm dich nachher suchen.«
Dann rannte sie ein paar Stufen nach oben. »Vi, kannst du glauben, dass er zurückgekommen ist? Und er sieht so unglaublich gut aus! Ich weiß nicht, wie das passiert ist, aber jetzt ist er mindestens doppelt so heiß, wie er ohnehin schon war!«
Mein Lächeln wurde aufrichtiger, und als wir oben an der Treppe anlangten, legte ich den Arm um sie. »Ich bin echt froh, dass du glücklich bist.«
»Das wirst du auch bald sein, weißt du? Vielleicht nicht sofort, aber ich weiß, dass das noch kommen wird. Manche Dinge stehen einfach in den Sternen«, sagte sie und schaute trunken vor Liebe zum funkelnden Nachthimmel hinauf.
Ich schob meine Tasche auf meiner Schulter mit einem Ruck nach oben und machte die Hoteltür für sie auf. »Manche Dinge können selbst die Sterne nicht ändern, Steph.«