Kapitel Zehn
»Wenn die wichtigsten Entscheidungen unseres Lebens fallen, ertönen keine Trompeten. Unsere Bestimmung gibt sich still zu erkennen.«
Agnes de Mille
Ich wachte am Donnerstagmorgen auf und fand meine Kleider sauber und zusammengelegt am Fußende des Bettes vor. Ich wusste, dass er das nachts erledigt hatte, und hätte fast laut darüber gelacht, wie pathetisch wir doch waren.
Ich zog mich an und ging hinaus ins Wohnzimmer. Spence saß am Esstisch und »trank« eine Schale Cornflakes. Lincoln lag auf dem Sofa und schlief noch.
»Möchtest du?«, fragte Spence leise, um Lincoln nicht aufzuwecken.
Ein Teil von mir hatte den starken Verdacht, dass er nur so tat, als würde er schlafen. Der Mann war der größte Krieger, den ich mir vorstellen konnte – ich bezweifelte, dass er wirklich schlafen konnte, wenn andere Leute um ihn herum schon munter waren. Aber ich wollte es gar nicht herausfinden. Das war das Mindeste, was ich für ihn tun konnte.
»Nein«, sagte ich. »Ich gehe laufen, und wenn ich zurück bin, müssen wir in die Schule.«
»Ich nicht.« Er musterte mich von oben bis unten. »Und du auch nicht, so wie du angezogen bist.«
»Doch, du gehst. Ich brauche deine Hilfe. Außerdem habe ich eine Ersatzuniform in der Schule.« Ich rümpfte die Nase bei dem Gedanken an die Schuluniform, die immer noch ganz hinten in meinem Spind steckte.
Spence stöhnte. »Eden, die Schule ist nichts für mich, und jetzt, wo so viel los ist, wird Griffin wohl kaum nachprüfen, ob ich hingehe oder nicht.«
»Es ist mir egal, ob du dort auftauchst. Ich will nur sichergehen, dass Steph da ist.«
Spence legte seinen Löffel hin und blickte auf, zum ersten Mal schien sein Interesse geweckt. Er liebte diese Art von Plänen.
»Ich will, dass du als Steph auftauchst, ein bisschen herumläufst und dafür sorgst, dass die Leute mitkriegen, wie sie über Kopfschmerzen klagt. So wird es einfacher sein zu vertuschen, dass sie fehlt.«
»Werden sie nicht ihre Mum anrufen, wenn sie als krank nach Hause geschickt wird?«
»Doch, aber wenn wir da sind, bevor der Unterricht anfängt, dann wird sie sich nicht eintragen. Die Leute werden einfach denken, sie hätte beschlossen, nach Hause zu gehen, und die Lehrer werden sich nicht die Mühe machen, ihre Mum anzurufen. Die haben ohnehin alle Angst vor ihr.« Das stimmte. Außerdem sollte schon bald der Schulball stattfinden, und da Mrs Morris zu den wichtigsten Organisatoren gehörte, hatten sie ohnehin mehr mit ihr zu tun, als ihnen lieb war.
Spence dachte darüber nach, und seinem Schulterzucken und den letzten beiden riesigen Schlürfern Cornflakes nach zu urteilen, schien er mit der Idee einverstanden zu sein. Er nickte, noch immer kauend. Ich verdrehte die Augen, als ich zur Tür hinausging.
»Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich deine Vertuschungsmanöver liebe?«, rief er mir hinterher.
Auf dem Weg zur Schule rief ich Dad an und teilte ihm mit, dass Steph und ich wieder wohlbehalten zurück und nun direkt auf dem Weg zum Unterricht wären. Er klang erleichtert, aber da war dieses Etwas in seiner Stimme, das sich immer schlechter ignorieren ließ – Zweifel. Er wies mich an, nach der Schule sofort nach Hause zu kommen. Ich fragte mich, ob es an Caroline lag, ob sie ihn irgendwie darauf hingewiesen hatte, dass er offenbar etwas ziemlich Wichtiges verpasste. Caroline hatte mich schon immer angesehen, als wüsste sie, dass etwas im Busch war.
Als wir die Schule erreichten, hatte Spence die Steph-Blendung angelegt. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich total darauf hereingefallen. Er hatte es voll drauf – ihr schickes, perfekt gestyltes blondes Haar, die gut sitzende Schuluniform, die kürzer als üblich war, sogar der tief hängende Rucksack, der immer randvoll mit Büchern vollgestopft war.
Dadurch, dass ich Spence als Steph sah, kam alles wieder hoch, und ich konnte nicht anders, als meine Arme um ihn zu schlingen. Ich vermisste sie so sehr. Ich musste sie unversehrt zurückbekommen. Innerlich und äußerlich.
Spence schien es zu merken und erwiderte die Umarmung. »Sie wird bald gesund und munter wieder bei uns sein. Und …« er drückte mich ein wenig fester, »tut mir leid, Eden, ich hätte diese Dinge gestern Abend nicht sagen sollen. Ich stehe voll und ganz hinter dir – das weißt du doch, oder?«
»Ich weiß.« Und ich verließ mich auch darauf. Wenn die Zeit gekommen wäre, könnte Spence meine beste Hoffnung sein, Phoenix auszuschalten.
Der Morgen verlief reibungslos, und nachdem Spence dafür gesorgt hatte, dass eine ausreichende Anzahl von Lehrern und Schülern mitbekommen hatte, dass Steph über Kopfschmerzen und Bauchkrämpfe klagte – sein eigener Beitrag, weil er dachte, das würde Steph ärgern –, haute er ab.
Ich blieb und stellte sicher, dass die Geschichte hängen blieb, indem ich den Leuten erzählte, dass sie für heute nach Hause gegangen wäre. Niemand stellte das infrage. Steph gehörte zu den vertrauenswürdigen Schülern.
Ungeduldig brachte ich den Rest des Tages hinter mich – frustriert darüber, nicht mehr tun zu können. Ich wusste, dass Griffin und die anderen an einem Plan arbeiten würden, an einer Möglichkeit, Steph zurückzubekommen und die Schrift sicher zu verwahren, und ich hasste es, nicht mehr dazu beitragen zu können. Stattdessen musste ich eine Doppelstunde Englisch ertragen und Lydia Skiltons hyperaktive Reaktion darauf, dass sie mich in Leichtathletik geschlagen hatte. Nach Spence’ Angeberei beim Basketball fand ich, dass wir nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns lenken sollten.
Meine letzten beiden Schulstunden bestanden aus freiem Lernen, deshalb nutzte ich die Chance und verschwand früher. Das machten die anderen Kids andauernd, und die Lehrer machten sich eigentlich nie die Mühe, deswegen ein Riesentheater zu machen.
Ich rief Griffin an und bat ihn um ein Treffen unter vier Augen. Zögerlich, aber offensichtlich neugierig stimmte er zu. Ich wartete vor der Schule auf ihn.
Als Lincolns Volvo die Straße entlanggefahren kam, dachte ich erst, er hätte ihn mitgebracht, aber als der Wagen anhielt, sah ich, dass er allein war.
Ich sprang hinein. »Danke, Griff«, sagte ich und schaute – nur um mich zu vergewissern – auf die Rückbank.
Ich bat ihn darum, mich nach Hause zu fahren. Ich wusste, dass ich Dad treffen und vor heute Abend irgendwie wieder aus dem Haus kommen musste.
»Also«, sagte Griffin, als wir vor unserem Haus anhielten, und durchbrach damit die unangenehme Stille. Es gab so viel zu besprechen, aber wir brauchten beide einen Moment. »Was gibt es?«
Ich spielte mit dem Schlüsselring, der am Reißverschluss meiner Schultasche hing. »Du musst mir helfen, meine Verteidigung zu stärken.«
»Mehr Kampftraining?«
»Nein, nicht diese Art von Verteidigung. Ich … ich muss stärker sein, wenn ich auf Phoenix treffe. Ich muss ihn … fernhalten.«
»Oh.«
Ich konnte Griffin nicht anschauen. Ich schämte mich dafür, dass Phoenix mich auf diese Weise beeinflusste, und ich hasste, es zugeben zu müssen.
»Ich glaube, das ist eine Art der Verteidigung, die du selbst entwickeln musst, Violet. Es liegt nicht daran, dass ich dir nicht helfen möchte, es ist einfach so, dass … Na ja, deine Verbindung mit Phoenix ist ungewöhnlich, weil sie ursprünglich durch deine freie Wahl entstanden ist.« Er zögerte, als wollte er eigentlich nicht weitersprechen.
»Griff, ich muss diese Dinge wissen.«
Er nickte. »Wenn du dich gegen ihn verteidigen willst, dann vermute ich, dass der Schlüssel darin liegt, es wirklich zu wollen. Ein Teil von dir – der vielleicht so tief in dir begraben ist, dass du dir seiner nicht mal bewusst bist – hat sich dafür entschieden, ihn hereinzulassen.«
»Das ist nicht wahr – ich hasse ihn!«
»Das glaube ich dir. Aber das ist nicht alles, was du für ihn empfindest.«
Ich wollte zornig sein und als Reaktion darauf etwas Verletzendes zu Griffin sagen. Ich wusste nicht, ob er recht hatte, aber ich war mir auch nicht sicher, ob er sich irrte. Da war ein Teil von mir – ein Teil, den ich versuchte zu ignorieren –, der von Zeit zu Zeit an Phoenix dachte. Ich blendete ihn immer aus, aber er war trotzdem da und sehnte sich nach diesem Gefühl der vollkommenen Glückseligkeit, das nur Phoenix in mir hervorrufen konnte.
Dieses Glücksgefühl war nicht real. Es war nur vorgetäuscht. Doch auch deshalb sehnte ich mich danach und fühlte mich noch immer von dieser Aussicht auf eine Flucht aus dem Alltag angezogen. Auch wenn ich wusste, dass er dafür verantwortlich war. Es lag nicht an Phoenix – es lag an den Dingen, die er vermochte.
Schuldbewusst blickte ich Griffin an. »Sag nichts davon zu …«
»Das würde ich nicht tun«, sagte er, wobei er Ehrlichkeit in seine Worte legte.
Ich nickte. »Wird es jemals einfacher?«
Griffin lächelte feierlich. »Wir sind Soldaten in einem ewig währenden Krieg«, sagte er, als wäre das Antwort genug.
»Wie geht es dir überhaupt?«, fragte ich.
»Du meinst wegen Magda?«
Ich zuckte die Schultern, nervös, weil ich das Thema angesprochen hatte. Niemand hatte von Magda gehört seit dem Tag, an dem sie verschwunden war. Herauszufinden, dass sie sich mit Verbannten verbündet und ihn so lange hintergangen hatte, war schrecklich für Griffin gewesen.
Er blickte aus dem Fenster und machte ein ausdrucksloses Gesicht. »Was passiert ist, ist passiert. Magda ist nicht mehr länger eine von uns. Rückblickend weiß ich nicht, ob sie das jemals wirklich war. Um ein Grigori zu sein, muss man nicht an Gott glauben, man muss keinen Weltfrieden wollen …«, seufzte er, »aber … man muss an Menschlichkeit glauben, an unser Recht zu existieren und frei zu sein. Magda hat dieses Recht zu vielen Menschen weggenommen.«
»Glaubst du, du wirst sie je wiedersehen?«
»Ich hoffe nicht, denn wenn doch, dann bedeutet das nichts Gutes.«
»Wirst du …?«
Er sah mich jetzt an. »Einen neuen Partner suchen?«
»Ja.«
Seine Hände glitten nachdenklich über das Lenkrad. »Bis einer von uns stirbt oder einen formellen Antrag stellt, bleiben Magda und ich theoretisch Partner.« Er seufzte wieder. »Letztendlich werde ich eine neue Partnerin bekommen. Ich glaube an das System. Manche entscheiden sich gegen einen neuen Partner und werden stattdessen Teil der Aufräumtruppe, Lehrer oder einer der Abtrünnigen, aber davon kommt nichts für mich infrage. Wie auch immer, ich bin noch nicht bereit.«
Ich drehte mich auf meinem Sitz, um ihn direkter anzuschauen. »Wer sind die Abtrünnigen?«
Er zog die Schulter nach oben und ließ die Hände vom Lenkrad fallen. »Grigori, die nicht Teil des Systems sind – sie haben entweder ihren Partner verlassen oder sich keinem neuen angeschlossen, als ihr Partner starb. Auf jeden Fall haben sie sich aus welchem Grund auch immer dazu entschieden, allein zu sein. Sie gehören nicht zu einem bestimmten Territorium, sie ziehen es vor umherzustreunen, sie arbeiten nach ihren eigenen … flexiblen Regeln.«
Ich merkte, dass Griffin nicht viel von den Abtrünnigen hielt, aber das Konzept faszinierte mich. Die Vorstellung, dass es da draußen Grigori gab, die einfach ihr eigenes Leben lebten. Ich fragte mich, was sie machten, wenn sie verletzt waren, denn sie hatten dann ja keinen Partner, der sie heilen würde.
»Sie haben sich also vor niemandem zu verantworten?«, fragte ich.
»Ja und nein. Die meisten von ihnen arbeiten auf einer Art vertraglicher Grundlage, für Einkommen und andere Ressourcen, aber sie würden sich nicht als Teil eines Teams sehen und sind bestenfalls unzuverlässig.«
»Ist das auch aus meiner Mutter geworden?« Ich hatte mich immer gefragt, was für eine Rolle sie gespielt hatte, nachdem sie Dad geheiratet und hierher gezogen war. Griffin hatte damals schon hier gewohnt, doch er hatte mir geschworen, dass er ihr nie begegnet war.
»Nein. Soweit ich weiß, war deine Mutter der Vereinigung immer treu, aber nachdem sie ihren Partner verloren und deinen Vater gefunden hatte, nahm sie … einen ausgedehnten Urlaub.«
Ich dachte immer noch über mein Gespräch mit Griffin nach, als ich die Wohnungstür öffnete und Dad am Tisch sitzen sah. Mit Caroline. Er hatte auf dem ganzen Tisch Papiere verteilt und tippte emsig auf seinem Laptop, während sie dicht neben ihm saß und ihm Dokumente reichte. Es gelang mir nicht, meine Überraschung zu verbergen. Er hatte gesagt, er würde auf mich warten, wenn ich nach Hause käme, doch ich war eigentlich nicht davon überzeugt gewesen, dass er tatsächlich da sein würde. Und in all den Jahren, die Caroline nun schon für ihn arbeitete, hatte er sie nie mit nach Hause gebracht.
»Hi, Dad, hi, Caroline«, sagte ich vorsichtig.
»Hi, Violet«, sagte Caroline munterer als sonst. Sie spielte mit einer ihrer langen karamellfarbenen Locken und nahm nervös ein weiteres Blatt Papier. Sie wusste, dass ihre Anwesenheit hier etwas aussagte.
Dad beendete, was immer er da gerade getippt hatte, ließ sich von Caroline das nächste Dokument geben und blickte auf.
»Du bist früh dran. Alles okay?«, fragte er und tat so, als hätten wir keinen Gast hier – als wäre das eine ganz alltägliche Situation.
»Ja, Lernstunde. Tut mir leid wegen gestern Abend. Wir hatten echt nicht vorgehabt, so lange wegzubleiben, und wir haben wirklich versucht anzurufen«, sagte ich und ignorierte Caroline ebenfalls.
Dad sah mich an und suchte nach einem Anzeichen von Unaufrichtigkeit, aber ich hielt seinem Blick stand – es gefiel mir nicht, aber ich konnte ziemlich gut lügen. Immerhin war ich die Tochter meiner Mutter. Aber genau da warf er Caroline einen Blick zu und sie deutete ein Nicken an.
»Nun, ich möchte, dass du in den nächsten paar Wochen mehr zu Hause bist. Du gehst nicht mehr lang zur Schule, und ich weiß, dass du die meisten deiner Prüfungen schon geschrieben hast, aber du hast immer noch ein paar Fächer, auf die du dich konzentrieren musst.«
Es war, als würde ich eine Grauzone betreten.
Versucht sich mein Vater gerade echt daran, ein richtiger Elternteil zu werden?
Unwillkürlich musste ich ein wenig lächeln. Das war einfach zu absurd. Doch im Moment konnte ich mir diese Art von Aufmerksamkeit einfach nicht leisten, deshalb erklärte ich: »Ich habe bereits Pläne für heute Nachmittag und heute Abend.«
»Dann ändere sie«, sagte er rundheraus und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Arbeit zu.
Ich warf Caroline einen Blick zu, der ihr sagte, dass ich verdammt gut wusste, dass sie hinter alldem steckte. Wir waren früher immer gut miteinander ausgekommen, aber jetzt hatte sie eine Grenze überschritten.
»Ich kann nicht!«, blaffte ich, woraufhin mir wieder Dads Aufmerksamkeit zuteilwurde, was allerdings nichts Gutes bedeutete.
»Doch, das kannst du«, sagte er.
»Nein«, sagte ich und dachte rasch nach. »Ich … ich kann nicht. Es ist … ich muss zum Orientierungsabend des Fenton-Kunstkurses.«
Ich wusste, wenn irgendetwas Dad dazu bringen konnte, einen Rückzieher zu machen, dann das. Doch für alle Fälle gab ich ihm noch einen weiteren Grund, von dem ich erst, als ich es sagte, wusste, dass dieser Teil tatsächlich der Wahrheit entsprach. »Und heute Nachmittag wollte ich auf den Friedhof gehen.«
Sofort fing ich an, mich zu hassen.
Es mochte zwar keine Lüge sein, aber ich hätte ihm das nicht einfach so vor den Latz knallen sollen, und dann auch noch vor Caroline. Ein dunkler Schleier legte sich über ihn, und was immer sich in der letzten Woche bei ihm verändert zu haben schien, wurde augenblicklich wieder rückgängig gemacht. Er stand auf und schnappte sich einen Stapel Papier.
»Wir müssen wieder zurück ins Büro«, presste er mit beklommener Miene heraus.
Caroline stand rasch auf und schlüpfte in ihren leichten Trenchcoat. »Ich warte unten, James.« Sie lächelte mich freundlich an, während sie die Tür aufmachte, wodurch ich mich noch schlechter fühlte. »Komm doch mal wieder im Büro vorbei. Wir vermissen deine Besuche dort.«
Ich nickte verlegen.
Dad durchschaute mich. Ich erwartete nicht, dass er etwas sagte, aber er überraschte mich, indem er neben mir stehen blieb, anstatt einfach vorbeizugehen.
»Violet, ich weiß, dass du etwas verschweigst. Bitte sag mir einfach, dass du nicht in Schwierigkeiten steckst.« Seine Stimme war leiser, fast flehend geworden.
Dabei wurde mir eines klar: Sollte mir etwas zustoßen, gäbe es nur noch wenig, was Dad am Leben und bei Verstand halten könnte. Ich hatte immer gedacht, ich wäre ihm nicht wichtig genug. Jetzt erkannte ich die Wahrheit – ich bedeutete ihm alles.
»Alles ist bestens, Dad.« Ich schluckte schwer. Die Lüge hatte jetzt an Gewicht gewonnen. »Das verspreche ich.«
Er nickte halbherzig und ging. Ich wusste, er würde heute nicht noch einmal aus seiner Benommenheit erwachen. Ihm zu sagen, ich würde Mum besuchen, war grausam gewesen.
Aber notwendig, krächzte eine rauere Stimme in mir.
Ich ging nicht oft zum Grab meiner Mutter. Und wenn doch, fühlte ich mich dabei immer ein wenig wie eine Betrügerin.
Dad und ich sind früher immer zusammen auf den Friedhof gegangen, und es war schrecklich – das Schweigen während der Autofahrt, das durch unbehagliche, erzwungene Gespräche gebrochen wurde. Ich fühlte mich immer wie ein Eindringling in seine – ihrer beider – Zeit. Er verdiente es, sie allein zu besuchen, ohne dabei meine Hand halten zu müssen. Es kostete ihn schon genug Anstrengung, nicht zusammenzubrechen, ganz zu schweigen von der Bürde, mich auch noch trösten zu müssen und – was noch schlimmer war – mir irgendwie zu versichern, dass er mir nicht die Schuld gab.
Ich wusste, dass er das nicht tat, aber ich konnte immer seine Unsicherheit darüber spüren, wie viel Bestätigung dies brauchte.
Dad liebte sie so sehr. Absolut. Nein, noch mehr als das. Es ist so ein Auf-immer-und-ewig-Ding. Deshalb ist er jetzt so verloren. Falls ihm überhaupt noch etwas wirklich wichtig war, dann war ich das – eine neue Erkenntnis, die mich traurig stimmte, und ich wurde dadurch nur noch wütender auf meine Mutter.
Ich bin alles für ihn. Aber das war nicht auch nur annähernd genug.
Dad liebte mich, das wusste ich, aber er hatte vorgehabt, mich zusammen mit ihr zu lieben. Als das nicht geschah … Sagen wir mal – es gehörte nicht gerade zu Dads Stärken, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen.
Ich kniete vor dem Grabstein nieder. Mein langes Haar fiel nach vorne und streifte die Worte, die ich auswendig kannte:
Evelyn May Eden
»Ich werde dich wiederfinden, meine Liebe.«
Geliebte Ehefrau von James
Mutter von Violet
Ich entfernte das feuchte Laub, das auf dem Marmor klebte, und legte einen Strauß weißer Lilien nieder, die ich auf dem Weg gekauft hatte. Ich brachte ihr immer Lilien.
Ich sprach kein Gebet. Das war nicht mein Ding, und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihres auch nicht war. Irgendwie wünschte ich, ich könnte um sie weinen, aber ich hatte sie nie gekannt. Ich kannte nur ihre Lügen. Na ja, das entsprach nicht mehr ganz der Wahrheit. Ich wusste so manches von ihr, vielleicht mehr, als Dad je wissen würde.
Zum Beispiel die Tatsache, dass sie mich weniger als fünf Minuten gehalten hatte, bevor sie beschloss, uns beide zu verlassen.
Ich schloss die Augen, legte meine Hand auf den Grabstein der Mutter, die ich nie kennenlernen oder verstehen würde, und versuchte, nicht Wie konntest du nur? zu denken.
Vielleicht war es das Beste, dass ich es nie genau wissen würde. Ich konnte ihr nicht verzeihen, aber ich respektierte sie auf meine Art. Sie war eine Grigori-Kriegerin. Sie war einer Rivalin gegenübergetreten, die mächtiger war als alle, denen die meisten von uns je begegnen würden, und sie hatte überlebt. Sie war unter unsresgleichen eine Legende, jede Geschichte, die ich je über sie gehört hatte, pries sie als Heldin, als Retterin. Als ihre Tochter kann ich ihr wenig Mitgefühl anbieten, aber als Grigori war ich ihr zumindest Anerkennung schuldig.
»Verzeih mir. Wenn du in meiner Lage wärst, dann würdest du das nicht tun, das weiß ich.« Sie hatte sich selbst geopfert. Ihr Partner war gestorben. Sie hatte auch mich geopfert. Wenn sie denken würde, dass Lilith zurückkehren könnte, dann war ich mir sicher, dass sie bereit wäre, Steph zu opfern.
»Aber Steph … Sie ist wie meine Familie. Wenn du also glaubst, ich würde das Falsche tun, dann denk daran, dass du mich zum dem gemacht hast, was ich jetzt bin.«
Ich schüttelte den Kopf, enttäuscht von mir selbst. Ich holte tief Luft und fing noch einmal an.
»Ich werde Phoenix den Schlüssel geben, mit dem er Lilith befreien kann, und das wird er auch tun. Und es wird schlimm werden, wirklich schlimm, weil sie zusammen sein werden.« Tränen flossen. »Aber ich verspreche dir, dass ich tun werde, was immer notwendig ist, um das wieder in Ordnung zu bringen. Ich werde sie aufhalten.« Die Ungeheuerlichkeit der Schlachten, die vor uns lagen, überwältigte mich, und ich dachte über den Preis des Versprechens nach, dass ich gerade gegeben hatte. Ich wusste, ich würde dafür bezahlen.
Während ich mich von ihrem Grab entfernte, überkam mich das Gefühl, dass es wohl nicht mehr allzu lange dauern würde, bis ich meine Mutter wiedersah.