Kapitel Einunddreissig

»Etwas lauerte in der Dunkelheit, die in ihm war … Dort bleibt er, in der Dunkelheit, der große Schmerz, der ihn manchmal zerreißt und manchmal schweigt.«

DH Lawrence

PHOENIX

Ich überprüfe die Schlösser noch einmal, bevor ich mich in den ausladenden Sessel auf der anderen Seite des Zimmers fallen lasse. Durch Schlösser lassen sie sich zwar nicht wirklich aufhalten, aber keiner von ihnen würde es wagen, meine Tür aufzubrechen.

Sie so nah bei mir zu haben ist … verwirrend.

Fast alles läuft nach Plan, dennoch spüre ich ein Ziehen in der Brust. Es lässt nie nach, aber wenn sie in der Nähe ist … Das ist noch schlimmer, als wenn man ein verdammtes Gewissen hätte. Ich versuche, sie nicht zu beobachten, aber das ist unmöglich. Ich habe meinen Blick kaum von ihr abgewandt, seit ich sie in meine Arme gerissen habe.

Ich frage mich, ob sie weiß, dass ihre Male umherwirbeln, wenn sie träumt.

Ich knirsche mit den Zähnen. Ich hasse mich selbst für das hier, aber es ist nicht leicht – nicht wenn ich einfach die Hand ausstrecken und sie berühren könnte. Sogar im Dunkeln strahlt sie – als würde ein Licht in ihr leuchten. Ein Licht, das mich bei lebendigem Leibe verbrennt.

»Himmel«, murmle ich vor mich hin.

Wenn ich daran denke, wie ich sie im Hades an ihrem siebzehnten Geburtstag zum ersten Mal gesehen habe, frage ich mich immer noch: Warum sie? Warum ich? Ich bin schon lange hier – vor ihr gab es viele Frauen. Ich bin ein Geschöpf der Lust und habe mir immer genommen, was ich wollte – die Schuldigen, die Unschuldigen, die Begehrten, die Verheißungsvollen und die Nicht-Verheißungsvollen. Sie alle fühlten sich so von meiner Jenseitigkeit angezogen, die sie nie begreifen konnten. Es war ihnen unmöglich, mir zu widerstehen. Selbst wenn ich sie schlecht behandelte und dann verließ, kamen sie doch immer wieder zu mir.

Ich kann nicht erklären, warum sich in dem Moment, in dem ich sie sah, alles veränderte, aber so war es. Und es gibt kein Zurück mehr.

Sie schwebte in jener Nacht durch ihre Umgebung und war sich der Aufmerksamkeit gar nicht bewusst, die sie auf sich zog. Lincoln war bei ihr und beobachtete sie sorgsam, während sie zu viel trank. Schon an seinem Gesichtsausdruck merkte ich, dass er sie liebte. Ich konnte auch spüren – und ich war überrascht, wie sehr mich das irritierte –, dass er so viel reine, grenzenlose Liebe und Hingabe für sie fühlte, wie ich es vorher noch nie wahrgenommen hatte. Vielleicht hat das mein Interesse an ihr geweckt. Vielleicht.

Und jetzt … Sie hat mich zerstört.

Ich hätte sie in jener Nacht umbringen sollen. Hätte mich vor den seelischen Qualen bewahren sollen zu wissen, wie es war, sie in meinen Armen zu halten und diese verbotene Hoffnung zu fühlen. Glaubte ich wirklich, dass sie mich je lieben könnte? Dass Erlösung vielleicht doch nicht unerreichbar ist?

Idiot!

Ich nahm mir vor, einfach nur Spaß zu haben – mich eine Weile mit ihr zu amüsieren und sie dann zu beseitigen. Ich hätte wissen sollen, dass ich in Schwierigkeiten steckte, als ich mich dabei ertappte, wie ich unwillkürlich lächelte und nicht in der Lage war, meinen Blick von ihr abzuwenden. Das Ausschlaggebende war dann noch, dass Lincoln vor ihren Annäherungsversuchen weglief.

Er war manchmal so ein Waschlappen.

Aber sie in die Arme zu nehmen und zu wissen, dass ein Grigori, der von einem Engel der Herrschaften gemacht wurde, in der Nähe lauerte, war selbst für einen Verbannten einfach Wahnsinn. Herrschaften haben ein Revierverhalten. Wenn man je einen Grigori meiden sollte, dann einen von den Herrschaften – sie sind für die meisten Verbannten nahezu unschlagbar.

In dem Moment, in dem ich sie berührte, wurde mein Verdacht weit übertroffen und ich wurde vollkommen überrascht von ihrer zügellosen Kraft.

Ich hätte sie fallen lassen und davonlaufen sollen, aber da war es schon zu spät. Die Entscheidung war gefallen. Ich wollte sie haben.

Ich lache verbittert, während ich sie beim Schlafen beobachte.

Ich denke an alles, was passiert ist, seit ich sie gefunden habe. Kaum mehr als ein Augenzwinkern in meinem langen Leben, aber alles hat sich verändert. Teils durch meine Schuld, teils aber auch durch ihre, und ich lehne es ab, mich selbst zu bestrafen, wenn ich all meine Energie auf Vergeltung verwenden kann. Wir lieben die, die wir hassen.

Und ich hasse sie von ganzem Herzen.

Ich habe nie geglaubt, dass es etwas Schlimmeres gäbe, als aus dem Engelreich vertrieben zu werden … Aber aus ihrem Leben verbannt zu werden waren Höllenqualen. Jetzt ließ mich mein Hass Dinge tun, von denen ich nie dachte, dass ich dazu bereit wäre.

Ich höre, wie unten in der Halle ein weiterer Kampf ausbricht, und versuche, die Geräusche auszublenden. Es ist mir egal. Wenn ich die Verbannten nicht brauchen würde, würde ich sie alle eigenhändig umbringen – nur so als Therapie. Aber ich habe in letzter Zeit mit zu vielen von ihnen die Geduld verloren und habe sie den Grigori auf einem goldenen Tablett serviert. Die Reihen meiner Streitkräfte lichten sich bereits und einige der Verbannten werden langsam misstrauisch.

Fähige Verbannte sind dünn gesät und die tüchtigsten von ihnen sind leider meistens auch die skrupellosesten. Gressil war einer der Besten, aber wenn er einem so nah kommt … ich hätte den Tag heute fast nicht überstanden, ohne ihn umzubringen. Olivier ist auch nicht einfacher.

Ein lautes Krachen – als würde Glas zerspringen. Noch mehr Kämpfe. Zumindest würden sie im Moment nicht erwarten, dass ich einschreite. Sie glauben, ich bin hier drin und schlage sie … oder schlimmer. Es ist schon ironisch, dass ich zu große Angst davor habe, sie auch nur aufzuwecken.

Als sie sich umdreht, springe ich auf die Füße. Dann rufe ich mir wieder ins Gedächtnis, dass sie unter meinem Bann steht. Sie kann gar nicht aufwachen, ohne dass ich es weiß.

Der Todesschrei eines Verbannten dringt aus der Halle herein. Ich lächle. Es klingt nach Justin. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sein Herz auseinandergerissen wird. Das wird nicht gut für ihn ausgehen. Andererseits würde es für keinen von uns gut laufen. Vor allem für mich nicht. Vor allem nicht jetzt. Aber ich bin daran gewöhnt, die Konsequenzen zu ertragen – das kommt davon, wenn man nicht an einen bestimmten Platz gehört, wenn man trotz seiner Kraft keine wahren Werte hat.

Nun, das wird sich jetzt ändern.

Trotz meiner Anstrengungen bin ich weder genug Engel noch genug Mensch. Aber als Verbannter werde ich herrschen.

Ich gebe nach, stehe auf und gehe zu ihr.

»Ich wusste es nicht«, flüstere ich – ich konnte mich einfach nicht beherrschen.

Sie kann mich nicht hören. Es ist schlimm genug, dass ich mich selbst hören kann. Schuldeingeständnisse sind nicht mein Ding, und jetzt hatte ich mich dieser einen bestimmten Erinnerung geöffnet, die sich am schwersten aus meinem Gedächtnis verdrängen lässt.

Selbst jetzt brennt meine Haut noch, erinnert sich daran, wie sich jede einzelne Berührung, die sie mir in jener Nacht in der Wildnis schenkte, wie ein Geschenk anfühlte, dessen ich nicht würdig war.

Ich streiche ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, und meine Finger sehnen sich danach, sie wieder zu berühren. Ich entferne mich ein wenig, aus Angst, genau das zu tun.

Warum habe ich je zugelassen, dass sich diese Verbindung zwischen uns bildet? Das hatte ich nicht vorgehabt, aber ich genieße es noch immer, wenn mich die Kraft durchwogt, masochistisch wie ich bin.

Erregt von dem Gedanken, dass ich Gewalt über sie hatte, versprach ich mir selbst, diese nie einzusetzen, weil ich sie liebte. Trotzdem hatte sich mein finsterer Verstand bereits in aller Stille Möglichkeiten ausgedacht, um zu garantieren, dass sie für immer mir gehören würde.

Ich hätte es ihr gleich sagen sollen. Vielleicht hätte sie mir verziehen. Vielleicht hätte sie sogar verstanden, warum ich Lincoln nicht heilte. Ich wusste, wenn sie ihre Zusage nicht machte, wenn sie die Kraft nicht bekäme, die ihr bestimmt war, dann würden sie – Verbannte oder Engel – sie auf die eine oder andere Weise zerstören.

Ich konnte nicht einfach zusehen, wie das geschah.

Als ich mich selbst im Spiegel sehe, nehme ich die Hotelvase mit den künstlichen Blumen und werfe sie nach meinem Spiegelbild.

Denk an die Zukunft! Denk an den Ausdruck in ihren Augen, als sie zu dir gesagt hat, du sollst gehen und nicht mehr wiederkommen!

Ich nehme eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels und fahre damit an meinem Arm entlang, was mir sowohl Ablenkung verschafft als auch Kraft gegen den Schmerz. Vergiss nicht den Anblick, wie sie sich in dem Moment, in dem ich sie aus der Verbindung befreite, in Lincolns Arme fallen ließ – sobald sie ihre wahre Natur wieder selbst unter Kontrolle hatte.

Ich nehme einen tiefen, beruhigenden Atemzug und beobachte, wie die Wunde verheilt.

So gut wie neu.

Und jetzt muss ich mich mehr denn je wieder aus der Asche erheben – denn das tut ein Phoenix.

Ich habe jetzt ein Ziel. Bald wird Lilith wiederauferstehen. Und dann werde ich ihr der Sohn sein, den sie sich immer gewünscht hatte. Sie wird mir den Platz in dieser Welt geben, an den ich gehöre. In der Vergangenheit habe ich gegen unsere Beziehung angekämpft, habe ihre Methoden abgelehnt, habe gedacht, ich könnte besser sein.

Ich habe mich geirrt.

Ich blicke auf die Schrift vor mir. Sie zu befreien hatte auf der Existenz von Licht und Finsternis beruht, aber jetzt bedurfte es auch Violet. Diese Anweisungen auszuführen wird nicht anders sein. Ich warf ihr wieder einen Blick zu.

Ein einziges Mädchen und so viel Kraft.

Sie weiß immer noch nicht, was sie ist und was sie für beide Seiten sein könnte – aber ich habe immer vermutet, welche Seite sie wählen würde. Sie ist der Schlüssel für so vieles. Alles dreht sich um sie. Etwas, was ihre Grigori noch herausfinden oder akzeptieren müssen. Sie haben das Wissen von Engeln, aber auch unseren Stolz. Sie sind so damit beschäftigt, ihre Welt zu beschützen, dass sie nicht sehen, dass sie mit ihr bereits das Werkzeug dazu haben.

Ich sehe Violet an. Es ist ihre Schuld. Sie hat mir das angetan.

Ich brauche diese Leute nicht. Wenn ich erst mal Lilith wiederhabe, werden wir sie nicht brauchen. Wir werden weggehen – von vorne anfangen. Ich werde nicht mehr länger einsam sein, sondern dazugehören.

Ich spüre, wie die Energie im Zimmer Funken sprüht. Der Bann lässt nach. In wenigen Minuten wird sie die Augen aufschlagen. Wird sie Angst zeigen, wenn sie mich sieht? Nein. Sie wird jeden Tag stärker – schon bald wird sie nicht zweimal darüber nachdenken, bevor sie mir ihren Dolch in die Brust rammt. Vielleicht werde ich mit ihr sprechen. Vielleicht lasse ich sie mit mir reden.

Ich werfe einen Blick auf die Landkarte auf dem Couchtisch. Wir werden bald von hier weggehen. Alles ist vorbereitet.

Es gibt drei Stufen, zuerst Wasser. Sie wird mich hassen, wenn ich sie dazu zwinge, aber es gibt keinen anderen Weg. So ist es am besten, und es ist leichter für mich, wenn ich Hass in ihren Augen aufblitzen sehe. Dann bleibe ich konzentriert – und danach werden die anderen Blicke – die, die zeigen, dass sie mich auf eine Art und Weise kennt wie niemand sonst – vollständig verschwinden.

Als Nächstes kommt Feuer, es bildet die zweite Spitze des Dreiecks. Wegen der Art und Weise, wie alles zusammengekommen ist, frage ich mich, ob das alles so etwas wie ein Spiel ist, ein verdrehtes Zeichen des Schicksals, dass wir drei so miteinander verflochten sind.

Zweifellos.

Feuer wird einfach sein. Lincoln wird tun, was er tun muss, um sie zu retten. Er würde alles für sie tun, außer der einen Sache, die sie beide wollen – dafür hatte ich gesorgt. Ich ließ sie glauben, ich hätte Rudyard absichtlich umgebracht. Ich wünschte, ich wäre stark genug gewesen, diesen Befehl zu erteilen, aber in Wirklichkeit hatten die Verbannten ihre Befugnis überschritten und selbstständig gehandelt. Ich hatte einen Moment lang die Kontrolle über sie verloren, während ich sicherstellte, dass Violet überleben würde. Ich habe sie sobald es ging zur Rede gestellt, aber es war zu spät, den Grigori, der Rudyard hieß, zu retten. Und seine Partnerin.

Ich hatte Gressil dafür fast totgeschlagen. Es ist mir ein Rätsel, dass die Verbannten nicht öfter vor mir wegliefen. Bald werde ich mit ihnen fertig sein und kann sie den Grigori überlassen, damit sie sie vollends vernichten.

Nach dem Feuer kommt mein Teil, die dritte Spitze des äußeren Dreiecks – nicht innerhalb des Schaubilds, sondern durch Worte gezeichnet. Das ist der einzige Teil, bei dem ich mir nicht hundertprozentig sicher bin. Die Prophezeiung benötigt meinen Schmerz, Bezahlung – Blut, natürlich – und Verlangen. Ich habe mit keinem davon Probleme, nur die Zeile über »unsägliche Qual« macht mir Sorgen. Wer? Wer von uns dreien muss die größten Schmerzen ertragen?

Ich bemerke, wie Violet sich von der Seite auf den Rücken dreht. Bevor sie es verhindern kann, streckt sie ihre Hand aus.

Gutes Mädchen.

Sucht nach ihrer Waffe. Die ist natürlich jetzt weit weg von ihr. Sie tut, als würde sie schlafen, selbst als jemand an die Tür klopft.

Es ist Olivier, hinter ihm zwei Vollstrecker-Verbannte. Es gefällt mir, dass er zu viel Angst hat, allein zu mir zu kommen. Er fragt nach Gressil, und ich versuche, mein Grinsen zu verbergen, als ich ihm erkläre, dass ich ihn nicht mehr wahrgenommen habe, seit er beschlossen hatte, zu bleiben und gegen Lincoln zu kämpfen.

Noch bevor die Tür wieder zufällt, kann ich ihre Gefühle wahrnehmen. Sie ist hinter die Abmachung gekommen, die ich mit Lincoln getroffen habe: Ihre Sicherheit im Austausch dafür, dass er mich von Gressil befreit. Sie ist so überzeugt davon, dass Lincoln damit Erfolg hatte, so sicher in ihrem Glauben an ihn. Ich wollte sie dafür hassen, aber das Gegenteil war der Fall.

Verdammt – es ist so frustrierend.

Ich würde alles dafür geben, damit sie mir gehört, aber ich werde nie genug für sie sein.

Ich sitze neben ihr, während sie still daliegt und ihren Atem gleichmäßig hält. Aber ich spüre, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt, weil ich ihr so nah bin. Und dann wird es mir klar – die Zeile, die mich in der Prophezeiung so sehr beunruhigt hatte, ist eigentlich die einzige, um die ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Ich streiche ihr mit der Hand über die Stirn und erlaube meinen Fingern, seitlich an ihrem Gesicht entlangzuwandern.

»Liebe wird uns alle umbringen.«

Und das ist vollkommen unerträglich.