Kapitel Zweiunddreissig
»Violet, der Amethyst, stand für Liebe und Treue; oder Lust und Leiden.«
Anna Jameson
Das erste Mal wachte ich von einem lauten Krachen auf. Ich lag auf einem Bett. Ich bewegte meine Hände und Füße, die nackt waren, und spürte seidene Bettwäsche unter mir. Ich konnte eine überwältigende Anzahl von Verbannten in der Nähe wahrnehmen, aber nur einen, der tatsächlich bei mir im Zimmer war – Phoenix. Ich tastete nach meinem Dolch. Er war weg.
Wie viele Verbannte waren hier? Zu viele, um sie zu zählen.
Ich hörte eine Bewegung und eine Tür ging auf.
»Wo ist Gressil?«, knurrte eine Stimme.
»Das weiß ich nicht sicher. Auf seinen eigenen Wunsch habe ich ihn zum Kämpfen zurückgelassen. Seitdem habe ich seine Anwesenheit nicht mehr gespürt.«
Ich konnte die Zufriedenheit in Phoenix’ Stimme hören. Gressil war offenbar zu einem Problem geworden. Phoenix hatte ihn zurückgelassen, um gegen Lincoln zu kämpfen. Das war ihr Tauschhandel. Phoenix’ Schwur, mich nicht umzubringen, und Lincolns Versprechen, Gressil dafür zu töten. Gressil war fort.
Gut so.
Als sich die Tür wieder geschlossen hatte, hörte ich ihn näher kommen. Er wusste, dass ich wach war, aber er ließ zu, dass ich so tat, als würde ich noch schlafen. Vielleicht, damit er auch so tun konnte, als ob. Er beugte sich vor und strich mir das Haar aus der Stirn. Seine Finger verweilten bei einer Haarsträhne und wanderten dann sanft über mein Gesicht.
»Liebe wird uns alle umbringen«, sagte er traurig. »Zuerst müssen wir lügen wie gedruckt, damit wir sein können, was wir müssen, damit es so aussieht, als würden wir es verdienen. Dann zerreißt sie uns mit der nackten Wahrheit. Egal ob wir Mensch sind, Verbannter oder Engel. Die Wahrheit ist für uns alle gnadenlos.«
Ich konnte das Bedauern hören, konnte fühlen, wie es von ihm zu mir floss wie ein Geständnis, und meine Brust schnürte sich stellvertretend für ihn zu.
»Schlaf, meine Liebe.« Er zwang mich wieder zu schlafen.
Und wie das letzte Mal ließ ich zu, dass seine Kraft die meine aufhob, und fand Trost in der Stille.
Als ich aufwachte, trug mich Phoenix vertrauensvoll in seinen Armen. Er ging zu Fuß. Ich spürte, dass andere Verbannten um uns herumschwebten, sie gierten danach, zu mir zu gelangen. Mein Gesicht war steif und tat weh. Ich hörte sie hinter uns streiten, aber ich war zu fertig, um zu verfolgen, was genau sie sagten. Er wirbelte herum, und das Geräusch, das er dabei von sich gab, war Furcht einflößend. Ich rechnete schon halb damit, dass er mich in seinen Armen zerquetschte, aber er hielt mich immer noch mit demselben beherrschten Griff fest.
»Wenn auch nur einer von euch in ihre Nähe kommt, während sie in diesem Zustand ist, dann gebe ich euch mein Wort, dass denjenigen dasselbe Schicksal ereilen wird wie Aiden!«
Ich spürte, wie die Verbannten zurückwichen, untypischerweise duckten sie sich vor Phoenix’ unbestreitbarer Macht.
Ich nahm an, dass Aiden – wer immer er war – verantwortlich war für den pochenden Schmerz in meinem Gesicht. Es würde mich nicht wundern, wenn mein Wangenknochen gebrochen wäre.
Und jetzt war Aiden tot.
Ich hatte schon einmal gesehen, wie Phoenix einen Verbannten getötet und ihm dabei das Herz geradewegs aus der Brust gerissen hatte. Kein Wunder, dass ich den Geschmack von Anis wahrnehmen konnte, der ihre Angst zeigte. Keiner dieser Verbannten stellte seine Macht infrage.
Ich hätte mich auch fürchten sollen. Das tat ich aber nicht. Im Kampf bewies Phoenix Ehrgefühl, das musste man ihm lassen. Er würde nicht zulassen, dass sie mich ohne einen fairen Kampf schlagen würden, genau wie er es niemals zuließ, dass Verbannte zu mir nach Hause kamen, wenn ich schlief. Er würde nicht einmal seine eigenen Kräfte gegen mich einsetzen, wenn ich mich nicht wehren konnte – das stellte keine Herausforderung für ihn dar.
Ich öffnete die Augen so weit ich konnte und zuckte wegen des stechenden Schmerzes zusammen.
Der Morgen dämmerte, am Himmel wurde es bereits ein kleines bisschen hell. Ich hatte das Gefühl, dass mehr als nur eine Nacht vergangen war.
Er beobachtete mich.
Ich bewegte mich, wandte ihm meinen Körper, den er noch immer festhielt, ein wenig zu. Bei ihm war ich sicher, das wusste ich, auch wenn er mich in diesem komaähnlichen Zustand hielt. Das bedeutete nicht, dass er mir später nichts tun oder mich nicht von ihnen töten lassen würde. Es bedeutete nicht, dass er mich nicht aufhalten würde, wenn es Zeit war zu handeln. Aber momentan war ich in Sicherheit.
Als sich seine Mundwinkel ein wenig nach oben zogen, entdeckte ich etwas in seinen Augen – ein Blick, der nicht der eines Verbannten war, sondern der eines … Menschen.
»Glückseligkeit«, flüsterte er, gefolgt von einem zärtlichen »schlaf jetzt«.
Seine Kraft – Jasmin und Moschus – hüllte mich ein und ich schloss wieder die Augen.
Als ich das nächste Mal aufwachte, lag ich auf einem schmalen Kunststoffbett gegenüber einer Kombüse – am Geräusch und an der Bewegung merkte ich, dass wir auf einem Schnellboot waren. Es dauerte eine Weile, aber dieses Mal wachte ich vollständig auf. Ich konnte Phoenix irgendwo über mir wahrnehmen. Sonst waren keine Verbannten bei uns, aber ich konnte ihre Anwesenheit trotzdem aus der Ferne spüren, eine Furcht einflößende Anzahl, mehr als ich je zuvor wahrgenommen hatte.
Das Boot wurde langsamer. Er wusste, dass ich wach war. Ich streckte meine Hand aus und stieß gegen etwas Kaltes und Hartes – mein Dolch in seiner Scheide. Er hatte ihn mir gelassen.
Dieses Mal würde ich nicht wieder einschlafen.
Ich machte eine Bestandsaufnahme. Meine Beine waren wie Pudding, aber sie funktionierten. Mein Gesicht war verletzt, aber es heilte bereits, daher wusste ich, dass einige Zeit verstrichen war, seit ich geschlagen wurde. Mein innerer Schmerz, verursacht durch meine Seele, schien kleiner geworden zu sein, aber ich wusste nicht, wie lange das andauern würde. Ich merkte, dass er immer noch in mir lauerte, wie eine hinterlistige Schlange, die nur darauf wartete zuzuschlagen.
Phoenix hatte mir frische Kleidung hingelegt. Ich wollte ihm zwar keine Genugtuung verschaffen, indem ich sie anzog, aber ich wollte auch nicht in dem roten Kleid kämpfen müssen, das ich noch immer anhatte. Rasch zog ich die Hose und das Trägerhemd an und war erleichtert, dass auch ein Paar Turnschuhe dastanden. Ich schauderte – es war unheimlich, dass er all meine Größen kannte. Ich schnallte mir den Dolch um die Taille und sah mich rasch in der kleinen Kabine um, falls noch etwas zu finden wäre, was mir helfen könnte, aber alles war angeschraubt. Vergeblich suchte ich nach einem Funkgerät – aber Phoenix war gründlich gewesen bei seinen Vorbereitungen.
Ich blickte durch das schmale Bullauge. Ich hatte den Eindruck, als wäre es mitten am Morgen, aber wieder war ich mir sicher, dass ein weiterer ganzer Tag und eine ganze Nacht verstrichen war, seit ich das letzte Mal wach gewesen war. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich unter Phoenix’ Bann gestanden hatte.
Nachdem ich so lange ich wagte gewartet hatte, machte ich mich auf den Weg nach oben an Deck. Phoenix saß auf einer Plastikbank, die um einen quadratischen weißen Tisch verlief, der am Boden festgemacht war. Vor ihm war ein großes Stück Papier ausgebreitet. Eine Karte. Oben auf der Karte war ein sorgfältig gezeichnetes, großes, umgekehrtes Dreieck, darin befand sich ein weiteres kleines.
Ich erfasste meine Umgebung, blinzelte in die helle Sonne. Wir waren weit vom Ufer entfernt, aber ich konnte Santorin in der Ferne noch sehen, die weißen Klippen glänzten in der Sonne. Das Meer war überraschend tiefblau – so wie man es normalerweise nur in Filmen sieht. Nur das Wasser um das Boot herum war dunkel wie Teer und wenig verlockend. Drohend klatschte es gegen den Rumpf, als würde sich tief unten etwas Schreckliches verbergen.
»Wo sind deine Verbannten?«, wollte ich wissen. Meine Stimme krächzte und meine Kehle war trocken wie Sandpapier.
»Die ziehen Streichhölzchen.« Er sah zu mir auf, ein kleiner amüsierter Blick huschte über seine Augen, doch dann wandte er sich ebenso rasch wieder seinem Papierkram zu. »Nicht viele von ihnen mögen das Wasser. Ertrinken ist unangenehm. Unsterblich zu sein und am Meeresboden festzusitzen sogar noch mehr.«
»Wie lange habe ich geschlafen? Warum bin ich hier?«
Er nahm den Krug, der neben ihm stand, und schenkte etwas, das aussah wie Wasser, in ein leeres Glas, das er dann auf mich zu schob.
»Du bist seit vier Tagen bei mir.«
»Wie kommt es, dass ich nicht völlig ausgehungert bin?«, fragte ich und tastete unbewusst an mir herunter. Ich war auf jeden Fall dünner, dachte aber, dass das eher allgemein an den letzten paar Monaten lag.
Er zuckte mit der Schulter. »Wenn du bewusstlos bist, konserviert dein Körper seine Kraft und seine Ressourcen. Trink jetzt«, befahl er.
Ich machte einen Schritt auf das Wasserglas zu, stoppte dann aber. »Nein. Ich habe zugelassen, dass du mich hierher bringst, aber glaub nicht, dass du mich ohne meine Erlaubnis beeinflussen kannst.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du durstig wirst, weißt du ja, wo es steht.« Er studierte wieder die Karte und klopfte mit dem Stift auf den Tisch. »Ich muss wissen, was sie vorhaben, Violet. Ich bin mir sicher, dass Griffin eine Art Angriff starten will, sobald wir beim Vulkan ankommen. Was werden sie tun, um mich aufzuhalten?« Er legte so viel Nachdruck in diese Frage, wie er konnte.
Ich lachte kurz. »Nun, dafür hast du dir echt die falsche Person geschnappt! Ich war noch nicht mal zum Kriegsrat zugelassen. Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, dass Griffin nicht derjenige ist, der im Moment das Sagen hat. Aber wenn Lincoln die Entscheidungen trifft, dann muss ich dir recht geben.«
Mit ein wenig Glück erwartet er dich mit einer riesengroßen Willkommensparty!
Phoenix musterte mich eine Weile. »Du weißt es wirklich nicht.«
Das war keine Frage, er hatte versucht, meine Gedanken zu lesen, und festgestellt, dass ich nichts verbarg.
»Lass mich raten. Das war Lincolns Werk, oder?«, sagte er. Frustration lag in seinem knurrenden Tonfall.
Ich blinzelte. »Was meinst du?«
Er warf den Stift hin und lehnte sich zurück. »Dich außen vor zu lassen war klug. Das muss man ihm lassen.«
»Warum bin ich hier, Phoenix?«, wiederholte ich, weil ich nicht daran erinnert zu werden brauchte, dass Lincoln – schon wieder – Geheimnisse vor mir hatte.
»Ich brauche deine Dienste.«
»Weißt du was, du kannst mich mal!«, sagte ich, weil ich es mir gerade ernsthaft anders überlegt hatte.
Er lächelte nur. »Das könnte ich zwar. Aber, nein, wohl eher nicht.«
Hatte ich einen großen Fehler gemacht, als ich mit ihm gegangen war? Vielleicht hatte ich das, als ich dachte, ich könnte ihn aufhalten. Außerdem war es verdammt eng auf diesem kleinen Boot. Ich suchte nach einem Ausweg.
»Ich gehe jetzt«, sagte ich und durchsuchte meine Taschen nach meinem Handy, bis mir wieder einfiel, dass er es mir weggenommen hatte. Ich rannte zur Reling und beugte mich über sie.
»Noch mehr dramatische Drohungen?«
Ich funkelte ihn an und begann, über die Stahlseile zu klettern. »Ich bin eine gute Schwimmerin.«
Santorin sah nicht so weit entfernt aus. Ich hatte eine bessere Chance zu überleben, wenn ich versuchte, zurück zur Insel zu gelangen, als wenn ich hier bei ihm blieb.
»Das mag schon sein, aber es gibt Dinge in diesen Gewässern, die sich viel schneller bewegen als du, vor allem, wenn du blutest.«
Die Drohung war klar und deutlich.
Ich wirbelte herum, aber er war bereits da. Ohne auch nur zu überlegen, rammte ich ihm das Knie in den Schritt und begab mich in eine bessere Verteidigungsstellung. Ich wusste, dass er in Bezug auf das Wasser recht hatte, aber es könnte meine einzige Chance sein, wenn er und ich auf diese Weise allein waren. Jetzt waren wir beide wachsam – und stark. Er würde nicht zögern, mich zu verletzen, wenn es seinen Zwecken diente.
Phoenix krümmte sich vor Schmerz zusammen, auch wenn er versuchte, es wegzulachen.
Ich hielt meine Position.
»Also gut«, sagte er und richtete sich wieder auf. Dann schlug er mir schnell wie der Blitz ins Gesicht.
Auf einem kleinen Boot zu kämpfen ist eine Herausforderung. Jedes Mal, wenn man sich bewegt, stößt man gegen irgendetwas. Aber ich blieb konzentriert. Ich war stark und taktisch klug und nutzte alles, was ich hatte – Lincolns Training, bei dem ich stillstehen und auf den Angriff warten musste, war auf begrenztem Raum besonders praktisch.
Zunächst war Phoenix eingebildet und träge in der Verteidigung. Er dachte, er würde mich locker besiegen. Doch ich wich seinen Schlägen sauber aus und schlug zurück, griff ihn an. Als ich es schließlich schaffte, ihm in den Bauch zu treten, und ihn damit hart in die Reling zwang, sodass er eine gute Aussicht auf das dunkle Wasser darunter hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Er war einem Bad im Meer gefährlich nahe gekommen und der Verbannte in ihm tobte, angefeuert von einem Gefühl des Stolzes und der Überlegenheit. Jetzt begann der Kampf richtig.
Er schlug mir mit aller Kraft in den Magen. Ich flog nach hinten, aber er packte mich am Arm und schwenkte mich herum, sodass sein nächster Tritt in meinem Rücken landete und ich auf das Gesicht fiel. Schnell stand ich auf. Mein Rücken explodierte vor Schmerzen, aber ich gab nicht auf. Ich bewegte mich vorwärts, weil ich wusste, er würde versuchen, mich mit seinen Fäusten fertigzumachen, aber ich duckte mich rechtzeitig und schlug beim Hochkommen zurück. Dann ging ich weit genug von ihm weg, um dafür zu sorgen, dass ihn mein nächster Tritt seitlich in die Rippen traf. Als er sich bewegte, um diesen Bereich zu schützen, ließ ich ohne nachzudenken mein Knie nach oben schnellen, um ihn im Gesicht zu treffen. Doch Phoenix war zu schnell. Er fing mein Bein auf, zog daran und wirbelte mich so heftig herum, dass sich mein ganzer Körper verdrehte und ich verrenkt auf dem Boden landete. Einen meiner Füße hielt er noch immer fest.
Er hockte sich auf mich, drehte mein Bein am Knie nach hinten, bevor er es losließ. Dann setzte er sich auf mich.
»Nun«, staunte er, als wäre er verblüfft. »Das … hat ja länger gedauert als erwartet.«
Ich wand mich unter seinem Gewicht, aber ich steckte mit dem Gesicht nach unten fest.
»Und das …«
Er schlug mit der Faust auf das Bootsdeck. Ich zuckte zusammen.
»Das wäre jetzt nicht besonders klug von dir!«
Ich spürte, wie ihn ein Beben durchlief, während er mich unten hielt. Ich wartete darauf, dass er etwas tat, dass er wieder zum Angriff überging. Ich war seine Gefangene und das wollte er eindeutig beweisen. Ich lag ganz still, atmete kaum und schloss die Augen.
Warten kann schlimmer sein als irgendetwas anderes auf der Welt.
Zu meiner Überraschung, schien er sich ein paar Minuten später wieder im Griff zu haben und sein Atem wurde gleichmäßig. Als er sprach, war seine Stimme ruhig.
»Okay, ich sage dir jetzt, wie das hier läuft. In etwa fünfzehn Minuten werden drei Verbannte zu dir gebracht, und du wirst sie zurückschicken, wie und wann ich es dir sage. Hast du verstanden?«
»Niemals!«, fauchte ich. Mein Gesicht verzerrte sich unter seinem Gewicht.
»Und wenn du das nicht machst, werde ich nicht nur gezwungen sein, dich zu verletzen – schwer zu verletzen –, sondern ich werde auch zu Ende bringen, was ich mit Steph angefangen habe.« Er beugte sich über mich, bis er meinen Körper mit seinem bedeckte und sein Mund an meinem Ohr war. »Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Ich presste den Kiefer zusammen. Phoenix wollte mich aus welchen Gründen auch immer noch nicht umbringen, aber er würde Steph und alle anderen, die ich liebe, töten, wenn es nötig wäre.
»Haben wir eine Abmachung?«
»Ja.«
Kurz danach tauchte ein anderes Schnellboot auf und hielt neben uns an. Olivier war darauf, und ein halbes Dutzend Verbannte, von denen drei mit Metallketten gefesselt waren. Phoenix befestigte ihr Boot hinten an unserem, lud sie aber nicht ein, zu uns an Bord zu kommen. Ich fragte mich, ob sie wirklich so große Angst vor dem Wasser hatten oder ob das nur eine Ausrede dafür war, sie fernzuhalten. Ich hatte den Verdacht, dass er mich entweder auf eine bizarre Art beschützte oder auf diese Weise seinen Anspruch auf mich demonstrierte.
Nach einer kurzen Anweisung schob Olivier den ersten Verbannten auf unser Boot und zu Phoenix hinüber, der ihn näher zu sich heran zerrte. Die Art und Weise, wie Phoenix mit ihm umging, war … seltsam – mit einer Art Verachtung, als würde es ihm gefallen, ihn zu vernichten.
»Das sind drei unserer Stärksten. Bist du sicher, dass du sie willst?«, fragte Olivier.
»Absolut«, sagte Phoenix mit einem Knurren.
Warum vernichtet er die Grausamsten von ihnen? Erforderte dies das Opfer?
Das glaubte ich nicht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr glaubte ich eigentlich, dass Phoenix jede Gelegenheit nutzte, einen Verbannten zu töten. Er brauchte sie, aber er verachtete sie auch. Selbst jetzt.
Heißt das, dass es immer noch Hoffnung gibt?
Er schleifte den Verbannten auf mich zu, zwang ihn in die Knie.
»Schick ihn zurück und wirf ihn ins Wasser, bevor er verschwindet.«
Ich nahm meinen Dolch in die Hand und fragte mich, weshalb es mir nicht eingefallen war, ihn zu benutzen, als ich mit Phoenix gekämpft hatte. Ich hatte es nicht einmal in Erwägung gezogen.
»Ich kann ihn nicht einfach umbringen!«, flehte ich.
Doch Phoenix schubste den Verbannten einfach näher zu mir und kam ebenfalls nach. Dann sprach er leise, damit ihn die Übrigen im Boot nicht hören konnten.
»Er bringt nur Frauen um. Keine davon älter als zwanzig. Er vergewaltigt sie, bis kein Leben mehr in ihnen ist, und dann verbrennt er ihre Körper, röstet sich sein Abendessen über den Flammen.«
Phoenix hielt meinen Blick und stellte damit sicher, dass ich begriff, dass er die Wahrheit sagte.
Als ich dem Verbannten meinen Dolch ins Herz stieß, fühlte ich mich nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte. Eigentlich fühlte ich mich beinahe dazu verpflichtet. Ich zog den Dolch wieder heraus und warf den Verbannten wie befohlen ins Wasser, ich wollte Stephs Leben nicht wegen meines Zögerns aufs Spiel setzen.
Was immer in den Schatten gelauert hatte – es machte einen Satz, wickelte sich um den Verbannten herum wie etwas seidiges Böses und zog seinen Fang in die Tiefe, bevor es vollkommen verschwand. Ohne ein weiteres Wort ließ Phoenix den Motor an und brachte uns in einer geraden Linie zur zweiten Opferstelle. Ich sah wieder auf die Karte. Wir fuhren zu den Punkten des äußeren Dreiecks.
Drei von der Hand der obersten Herrschaft
Ziel des zweiten Verbannten waren Kinder. Er nahm sie ihren Eltern weg, forderte Lösegeld und gab sie anschließend wieder zurück. In Einzelteilen.
Ich tötete ihn schnell.
Der dritte war Phoenix’ Blick nach der Schlimmste. Er erzählte mir nicht, was er getan hatte, er schien nur zu bedauern, dass ich diejenige war, die ihn zurückschickte. Das reichte mir.
Jedes Mal, wenn wir anhielten, verdunkelte sich das Wasser um uns herum, bis ich den sterbenden Verbannten über Bord warf und sich etwas Unheilvolles in der Tiefe rührte und das Opfer verschlang.
Ich hatte kaum ein schlechtes Gewissen, weil ich diese Monster zurückgeschickt hatte. Kein Schicksal wäre für sie zu grausam. Aber trotzdem. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Dolch zustieß, hasste ich Phoenix dafür, dass er mich dazu brachte, dass er meine Hand dazu zwang, ihnen ein Ende zu bereiten, und ihren Tod dazu benutzte, etwas noch viel Schlimmeres zu entfesseln.
Als der letzte Verbannte verschlungen worden war und Oliviers Boot auf das Ufer zusteuerte, drehte ich mich zu Phoenix um und schlug ihm mit dem Heft meines Dolches ins Gesicht. Er taumelte rückwärts. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn zu verletzen, jedenfalls nicht auf diese Art. Ich hatte ihn geschlagen, damit er verstand.
»Du wirst es niemals sein. Du wirst mich niemals brechen!«
Er richtete sich wieder auf. »Oh, glaub mir, Violet, das weiß ich.« Er schüttelte den Kopf und meinte damit eher sich selbst als mich. »Ich spüre dich … Die ganze Zeit, selbst wenn du gar nicht in der Nähe bist. Ich weiß, wo deine Gefühle herkommen und wer die Macht hat, dich zu brechen. Ich weiß, das werde nicht ich sein. Aber danke, dass du mich daran erinnert hast.« Er wischte sich einen Tropfen Blut von der Lippe.
»Ich erinnere dich gern noch mal, wenn du das möchtest«, sagte ich und fragte mich, ob es das wohl wäre, ob das der Moment wäre, in dem er seine Einstellung ändern würde. Ich hatte getan, worum er mich gebeten hatte, ich hatte die Opfer dargebracht. Mein Nutzen für ihn schwand rasch.
»Du könntest es versuchen.«
Ich traf eine schnelle Entscheidung – ich würde keine andere Gelegenheit mehr bekommen. Wenn ich ihn jetzt aufhalten konnte, hätten sie immer noch eine Chance. Sechs Opfer wurden gebraucht. Drei wurden schon erbracht, das konnte ich nicht mehr ändern, aber es blieben immer noch drei.
Drei von der Hand eines Herzen von Mann.
Mit meiner ganzen Stärke und meinem Willen zwang ich meine Kraft voran, um ihn aufzuhalten – sofort umgab mich amethystfarbener Nebel. Aber Phoenix war darauf vorbereitet, und er war schnell.
Ich erkannte nicht, was es war, seine Faust oder eine Waffe – es hätte das ganze Boot sein können, das er da auf meinen Kopf schmetterte. Ich fiel auf die Knie und bemühte mich, bei Bewusstsein zu bleiben.
»Wer ist es? Wer ist ein »Herz von Mann«?«, wimmerte ich, während mir alles vor den Augen verschwamm.
»Ein Mann, der liebt«, sagte er.
Und als ich meine Augen schloss, geschahen zwei Dinge: Ich flüsterte Lincolns Namen, und ich sah, wie eine Träne aus Phoenix’ Auge fiel.
Er hatte recht.
Liebe wird uns alle umbringen.