Kapitel Achtzehn

»… so sind ihm zwei Eigenschaften unentbehrlich: einmal ein Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichts ist, die ihn zur Wahrheit führen, und dann Mut, diesem schwachen Lichte zu folgen.«

Carl von Clausewitz

Es war ein trüber Tag mit Nieselregen, und die Sonne wollte sich einfach nicht blicken lassen. Ich vergrub die Hände in den Manteltaschen, als ich losging. Ich wollte nicht stehen bleiben, für den Fall, dass Lincoln beschließen sollte, mir zu folgen. Es wurde jedes Mal schwieriger. Allein seine Gegenwart rief Gefühle hervor, die ich nicht steuern konnte. Von dem Moment an, in dem ich mich heute Morgen im Hades an den Tisch gesetzt hatte, hatte sich etwas in mir gerührt, hatte von innen nach außen gedrückt und gebrannt wie trockenes Eis. Jetzt, wo ich nicht mehr in seiner Nähe war, war nur noch ein einsames bebendes Frösteln davon übrig.

Ich war so darin vertieft, mir Gedanken zu machen, wie wir diese Reise überleben sollten – sowohl den bevorstehenden Kampf als auch die unvermeidbare Nähe zu Lincoln –, dass ich Onyx erst bemerkte, als ich beinahe über ihn stolperte.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Er aktivierte meine Sinne nicht auf dieselbe Art wie die anderen Verbannten, er verursachte auch nicht das vertraute Summen, das ich wahrnahm, wenn andere Grigori in der Nähe waren. Er fühlte sich mehr an wie eine Erinnerung, die den Instinkt hervorrief, mir über die Schulter zu schauen – nur stärker.

»Was willst du?«

Er löste sich aus den Schatten am Hintereingang des Hades.

»Sieh mal einer an, wir sind aber empfindlich. Ich sagte doch, wir müssen uns unterhalten.«

»Was, jetzt?«

»Santorin ist eine kleine Insel – nicht wie eine Großstadt. Es ist anders als andere Orte.«

»Was soll das heißen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das wirst du bald herausfinden.«

»Vergiss es, ich habe keine Lust auf deine Spielchen«, sagte ich und begann weiterzugehen, weil ich mich immer noch leer und kalt fühlte.

»Du wirst dich entscheiden müssen!«, rief er mir nach.

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck war beinahe aufrichtig.

»Die einzige Person, die ihm je nah genug kommen kann, um ihn zu töten, bist du. Lincoln hat zwar die Fähigkeit dazu, aber wir wissen beide, dass er immer zögern wird …« Auf seinem selbstsicheren Gesicht machte sich Angst breit. »Sie ist … Glaub mir, Lilith ist der Inbegriff des Bösen. Sie wird alles und jeden vernichten, der sich ihr in den Weg stellt. Sie war schon immer wahnsinnig, aber nach all der Zeit, die sie … Dort, wo sie ist … Sie wird nichts anderes im Kopf haben als Zerstörung.«

»Im Gegensatz zu dir!«, schoss ich zurück.

»Oh, glaub mir, Regenbogen – ich hatte zwar meine Visionen, ob sie nun richtig waren oder falsch. Aber alles, was ich je getan habe, wird sich eher wie eine schwache Brise anfühlen im Vergleich zu dem Hurrikan, den sie entfesseln wird.«

Mein Atem verließ meinen zitternden Körper und bildete Rauchwolken in der kalten Luft. »Was willst du damit sagen?«

»Es wird unmöglich sein, sie aufzuhalten, womöglich ist sie sogar immun gegen unsere Klingen. Die einzige Chance besteht darin, Phoenix zu töten, bevor er die Tore öffnet, und du bist die Einzige, die das kann.«

Und wieder einmal: Schön, etwas Besonderes zu sein.

»Warum erzählst du mir das?«, fuhr ich ihn an.

»Weil … es niemand anderes tun wird.«

Ich biss mir auf die Lippe, während ich seine Worte auf mich wirken ließ, was ein kleines Lächeln – vielleicht war es auch eine Grimasse – bei ihm hervorrief. Er drehte sich um, ging zurück ins Hades und machte die Tür hinter sich zu.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch so dastand, aber lange genug, dass sich die Kälte in meinem Körper in Taubheit verwandeln konnte.

Es war nicht so, dass ich nicht selbst schon daran gedacht hatte – als Phoenix Steph entführt hatte, musste ich mir eingestehen, dass das die einzige Möglichkeit sein könnte. Doch Onyx war mit seinem neu gefundenen Bedürfnis nach Selbsterhaltung der Erste, der es laut aussprach, und irgendetwas veränderte sich dadurch, es wurde realer.

Die Wahrheit war – ich wollte nicht sterben.

Doch das bedeutete nicht, dass ich nicht sterben würde.

Kein Wunder, dass Lincoln wollte, dass ich hier blieb.

Ich saß auf dem Sofa, wo ich schon die letzten zwei Stunden gewartet hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass Dad gleich, nachdem die Schule zu Ende war, nach Hause käme, und dass wir etwas Zeit haben würden. Aber Steph sollte in weniger als einer halben Stunde draußen sein und ich wartete immer noch. Ich hatte keine Ahnung, wie wir dieses Gespräch überstehen sollten. Dieses Mal würde es keine ausgetüftelte Manipulation geben, es gab keine Möglichkeit, das Ganze leichter zu machen. Ich konnte nicht einfach lügen.

Meine Reisetasche war gepackt und stand neben der Tür, mein Rucksack stand neben mir auf dem Sofa. Ich schaute noch einmal seinen Inhalt durch. Ich hatte getan, was Griffin gesagt hatte, und all meine Ausweispapiere durch die ersetzt, die er mit gegeben hatte. In meiner Geldbörse befanden sich jetzt eine Mitgliedskarte für eine Bibliothek, die ich nicht kannte, ein neuer Studentenausweis, Führerschein und Reisepass – alle waren auf den Namen Violet Eden, einundzwanzig Jahre, ausgestellt.

Wenn ich es darauf anlegte, konnte ich als neunzehn, vielleicht auch zwanzig durchgehen, aber einundzwanzig war echt gewagt. Wahrscheinlich glaubte man an der Akademie, dass solche Vorsichtsmaßnahmen die Dinge für alle erleichterten.

Ich zog das Holzkästchen von meiner Mutter heraus und versuchte die Welle der Sinneswahrnehmungen zu ignorieren, die mich immer überkam, wenn ich es berührte. Ich öffnete den inzwischen vertrauten Brief, den sie mir vor siebzehn Jahren geschrieben hatte, und fragte mich, ob ich je ohne Groll an sie würde denken können.

Eher unwahrscheinlich.

Ich nahm ihr Armband und spürte, wie sich die Sinneswahrnehmungen in mir wie ein Orchester aufbauten, und ließ es wieder fallen. Niemand wusste, was mit dem anderen geschehen war, aber ich war mir sicher, dass Rudyard seine Vermutungen angestellt hatte, bevor er … Ich berührte das Leder nicht gern, es fühlte sich immer falsch an. Verdreht. Als würde es eine ganz eigene Art von Energie erzeugen, selbst jetzt, all die Jahre nach ihrem Tod.

Mit einem Klicken ging die Tür auf und Dad kam herein. Endlich. Er verabschiedete sich gerade von jemandem am Telefon. Dem Lächeln in seiner Stimme nach zu urteilen wäre ich jede Wette eingegangen, dass es Caroline war.

Ich fragte mich, ob es so geplant oder bloßer Zufall war, dass er jetzt sie hatte, wo es so aussah, als würde er mich vielleicht verlieren. Nicht dass er das jetzt schon wüsste. Ich ballte meine Hand zusammen und grub meine Fingernägel in die Handfläche, um mich davon abzuhalten, darüber nachzudenken. Die Vorstellung, dass Engel des Lichts oder der Finsternis an meinem Dad herumpfuschten, war mehr als beunruhigend.

»Violet!«, rief er, sobald er nicht mehr am Telefon war. Er hatte es noch nicht einmal ins Wohnzimmer geschafft, aber ich sah, dass er an der Tür stand und meine Tasche anstarrte.

Er stürmte ins Zimmer.

»Was soll das? Und warum warst du heute nicht in der Schule?«

Es überraschte mich nicht, dass die Schule angerufen hatte – ich hatte keine Versuche gemacht, meine Abwesenheit zu verschleiern, als ich merkte, worauf das alles hinauslief. Ich stand nicht auf und erhob auch nicht meine Stimme. Stattdessen sah ich ihn aufrichtig und liebevoll an.

»Ich muss für ein paar Tage weg. Ich habe gewartet, bis du nach Hause kommst, damit ich mich noch verabschieden kann, bevor ich gehe.«

»Und wohin willst du, wenn ich fragen darf?«, bellte er ungläubig.

»Dad …« Ich stand auf und wischte mir beklommen die Hände an den Oberschenkeln ab. Ich wollte ihn nicht auf diese Art und Weise verletzen. »Ich wünschte, ich könnte dir alles erzählen, aber bitte vertrau mir, wenn ich sage, dass ich das Richtige tue. Ich weiß, dass du glaubst, ich sei einer Art Sekte oder so beigetreten – aber das bin ich nicht. Ich bin ein guter Mensch, und ich würde dir das nicht antun, wenn es nicht unbedingt sein müsste. Dad …« Es schnürte mir die Kehle zu, aber es war die einzige Chance, die ich hatte, ihm zu helfen zu verstehen. »Ich tue, worum Mum mich gebeten hat.«

Er taumelte nach hinten. Unruhig sah ich auf meine Uhr. »Ich habe nicht viel Zeit. Mum war nicht … Sie war nicht immer ehrlich zu dir, aber ich weiß, dass sie dich geliebt hat und dass du sie geliebt hast. Ich … ich will dich nicht anlügen, so wie sie … Ich möchte dir das hier geben.« Ich hielt ihm das Holzkästchen hin. »Es wird Zeit, dass du den Brief liest, den sie mir hinterlassen hat, und wenn ich wieder zu Hause bin, dann verspreche ich dir, dass ich versuchen werde, deine Fragen zu beantworten … Wenn du das möchtest.«

Dad nahm das Kästchen nicht. Stattdessen stand er da, unbeweglich und mit offenem Mund. Sein Blick schoss zwischen mir und dem Kästchen hin und her.

»Du hast nicht das Recht, so über sie zu sprechen«, sagte er leise.

Ich lächelte traurig. »Eigentlich habe ich mehr Recht dazu als jeder andere.« Ich ging zur Tür und machte sie auf, weil ich merkte, dass es nicht funktionieren würde, es ihm auf diese Weise zu erklären.

»Du wirst nicht durch diese Tür gehen!«, befahl Dad und machte ein paar große Schritte durch das Zimmer, um sich mir in den Weg zu stellen.

»Das geht weit über dich und mich hinaus, Dad. Ich wünschte, es wäre nicht so, ich wünschte, ich wäre einfach nur deine Tochter und könnte so sein, wie du mich haben willst, aber ich … Es spielt keine Rolle, was du sagst oder was ich will. So oder so – ich werde gehen.«

Ich bückte mich und nahm meine Tasche, aber Dad war schon da, er packte mich am Handgelenk und versuchte verzweifelt, mich von der Tasche zu lösen.

»Dad, hör auf!«, sagte ich und versuchte dabei, mich ihm nicht zu widersetzen. »Bitte«, bettelte ich, »ich will dir nicht wehtun.«

Er ließ nicht los, sondern zog noch stärker, auf seinem Gesicht zeichnete sich Verwirrung über meine Fähigkeit ab, seine Anstrengungen zu ignorieren.

»Lass die Tasche los!«, brüllte er.

Ich hörte unten auf der Straße jemanden hupen. Steph war da und ich hatte keine Zeit mehr.

»Dad.« Ich hielt still und sah ihn an. »Dad, es tut mir leid.«

Einen Moment lang erwiderte er meinen Blick, Verzweiflung lag in seinen Augen.

»Ich liebe dich, Dad.« Ich zog meinen Arm aus seinem Griff, indem ich eine körperliche Kraft einsetzte, die er unmöglich begreifen konnte, und ließ nur die Armreifen, die meine Male bedeckt hatten, in seinen Händen zurück.

Wir schnappten beide nach Luft, als wir auf die unmenschlichen Muster hinunterschauten, die sich bewegten und herumwirbelten und dabei unterschiedliche – unmögliche – Farben reflektierten und dann, als würden sie von unten kommen, die Umrisse der Federspitzen-Markierungen, die denen auf dem geschnitzten Kästchen und dem Armband meiner Mutter entsprachen. Das alles war vollkommen unnatürlich.

Beschämt zog ich meine Ärmel nach unten.

»Was bist du?«, fragte er völlig benommen.

Tränen traten mir in die Augen. »Ich bin deine Tochter, Dad, aber … ich bin auch ihre Tochter.« Ich nahm meine Tasche.

»Gib nicht ihr die Schuld dafür!«

»Nein.« Ich lachte fast. »Natürlich nicht.«

Ich ging durch die Tür und brach die Türklinke ab, bevor ich sie schloss, um ihn einzuschließen. Ich stieg in den Aufzug, während ich hörte, wie er an die Tür hämmerte und meinen Namen schrie.

Tut mir leid, Dad.

Ich wusste nicht, ob ich je die Möglichkeit bekommen würde, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Steph sagte nicht viel auf dem Weg zum Flughafen. Sie spürte, dass das mit Dad nicht gut gelaufen war. Ich hätte ihn einfach anlügen sollen. Für Steph war es offensichtlich kein großes Drama gewesen, von zu Hause wegzukommen, aber andererseits war sie dadurch auch nicht gerade bester Stimmung..

Das Taxi fuhr vor dem Terminal vor. Spence wartete bereits auf uns.

Er klemmte sich unsere Taschen unter den Arm.

»Du bist so wahnsinnig hilfsbereit«, sagte ich in dem Versuch, meine Stimmung zu heben.

»Hey, wir sind zwar auf dem Weg zur Todesinsel, aber ich wollte schon immer mal nach Griechenland.« Er zuckte die Achseln und hätte dabei fast eine Tasche fallenlassen. »Außerdem ist es besser als schon wieder eine Wüste.«

»Stimmt«, sagte ich, weil ich ihm aus vollem Herzen zustimmte. Ich wollte nie wieder eine Wüste sehen.

Mein Handy klingelte und ich zog es aus der Tasche.

Dad.

Ich drückte auf »Beenden« und schaltete es aus.

»Wo sind denn alle?«, fragte Steph und hielt dadurch das Gespräch am Laufen, während sie mir mit der Hand über den Arm strich, um mir stummen Beistand zu leisten.

»Sie warten auf unser Flugzeug. Es ist gerade gelandet«, sagte Spence, während er sich durch die Menschenmassen schlängelte.

»Wem gehört das Flugzeug?«, fragte ich, während ich ihm durch das Labyrinth von Menschen folgte, die sich zum Einchecken anstellten.

»Der Akademie«, antwortete er und warf mir dabei einen Seitenblick zu.

Abrupt blieb ich stehen. »Spence, ist Josephine in diesem Flugzeug?«

Sein Blick wurde noch besorgter und er nickte.

Na, super. Der Tag wurde ja immer besser.

Ich hatte ganz vergessen, dass die Akademie ihren Pitbull schicken wollte.

»Wo checken wir ein?«, fragte Steph, während sie sich umschaute.

»Brauchen wir nicht – privater Flug. Wir müssen nur da drüben durch die Passkontrolle.« Er deutete auf einen kleinen Tunnel, über dem »Privatflugzeuge« auf einem Schild stand.

Wir zeigten unsere Pässe und ich erhaschte einen Blick auf Spence’. Er sah genauso aus wie meiner, ein leeres Deckblatt, auf dem nichts stand.

»Weshalb fragen sie nicht, warum unsere Pässe anders aussehen?«, flüsterte ich, als wir durch waren.

Er lächelte verschmitzt. »Weil sie alle mit einer Blendung versehen sind. Wo immer wir auch sind – sie werden immer aussehen wie Pässe aus diesem Land. Ganz egal, wohin wir gehen – wenn wir dort ankommen, wird immer jemand Willkommen zu Hause‹ sagen.«

Das war genial.

Dann bemerkte ich etwas anderes. »Spencer Gregoryso heißt du also?«

Spence nahm seinen Pass wieder an sich und steckte ihn weg. »Ich hab keinen Grund, jemand anderes zu sein. Niemand kannte die Nachnamen meiner Eltern, und früher war ich immer Spencer Smith – oder wie immer ich mich laut meinen Pflegeeltern nennen musste. Als ich herausfand, wer ich wirklich war, habe ich das zu meinem offiziellen Namen gemacht.« Er schob sich durch die Tür am Ende des Korridors. »Wir sind da.«

Trotz der lässigen Erklärung erahnte ich, dass hinter seinen Worten eine Geschichte steckte, spürte die Einsamkeit, die darin lauerte, und plötzlich hatte ich das Bedürfnis, ihn in Watte zu packen und für immer auf ihn aufzupassen. Stattdessen knuffte ich ihn zärtlich in die Schulter, was er ignorierte, dann betraten wir den Warteraum.

Alle waren da, trugen bequeme Klamotten, in denen man gut fliegen konnte. Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Lincoln in der hinteren Ecke saß, aber ich konnte meine Augen nicht davon abhalten, zu ihm zu wandern. Er lehnte an einer Glaswand und blickte hinaus auf die Startbahn. Er drehte sich nicht um, aber seinen angespannten Schultern nach wusste er, dass ich gerade hereingekommen war.

Samuel und Kaitlin saßen zusammen mit Nathan und Becca im Lounge-Bereich. Sie nahmen zur Kenntnis, dass wir gekommen waren, und wandten sich dann wieder ihren Gesprächen zu.

»Violet«, sagte Griffin. Er stand neben Dapper, und klappte rasch die Akte zu, die sie sich gerade angeschaut hatten. »Da bist du ja«, sagte er. Er klang erleichtert.

»Wie versprochen«, erwiderte ich, wobei ich mich fragte, ob Lincoln Griffin erzählt hatte, ich käme nicht mit.

Onyx saß an einem kleinen Tisch, auf dem mehr als ein Dutzend winziger Flaschen Alkohol standen. Ein paar davon waren bereits leer. Er winkte mir zu, indem er mit einigen Fingern wackelte, und leerte dann noch eine Flasche.

Rasch schaute ich wieder zu Griffin. Er senkte den Blick, als könnte er nichts dagegen tun.

Dapper hingegen ging zu Onyx hinüber und fing an, die Flaschen in seine Tasche zu stecken. »Ich werde sie rationieren.«

Überraschenderweise zuckte Onyx mit den Achseln und leistete nur wenig Widerstand.

Ein langer, geschmeidiger Jet kam über die Rollbahn gefahren, und wir beobachteten, wie er anhielt. Ich hatte dieses Flugzeug schon einmal gesehen. Als wir aus Jordanien zurückkamen, hatte die Akademie Leute geschickt, um Nyla und Rudyard abzuholen. Griffin hatte Nyla an Bord getragen. Griffins gequältem Gesichtsausdruck nach durchlebte er diese Erinnerung gerade ebenfalls.

Die Triebwerke des Flugzeugs gingen aus und Männer in dunkelblauen Overalls rannten mit Treibstoffschläuchen darauf zu.

»In zehn Minuten gehen wir an Bord«, rief Griffin. Alle nickten und nahmen ihre Taschen.

»Violet«, sagte Griffin leise. Ich folgte ihm ans andere Ende des Raumes. »Du wirst es dir wahrscheinlich schon gedacht haben …« Er sah den Jet an.

»Josephine ist in diesem Flugzeug?« Die Frage war rein rhetorisch, doch als er mich weiter ansah, wurde mir klar, dass das noch nicht alles war. »Sie begleitet uns.« Ich hatte gedacht, sie würde wenigstens einen Tag oder so hierbleiben, um sich auszuruhen.

Er nickte. »Hör zu«, sagte er hastig. »Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um zu verhindern, dass sie dich zu irgendetwas zwingt. In Santorin werden wir noch mehr Leute von der Akademie antreffen. Wenn sich alles … Wenn Phoenix erfolgreich ist, werden wir alle Kräfte brauchen, die wir versammeln können. Auf dieser Insel leben fünfzehntausend unschuldige Zivilisten.« Er senkte den Blick.

»Was soll ich also tun?«, fragte ich. Ich legte ihm meine Hand auf den Arm, fürchtete mich aber vor dem, was er gleich sagen würde.

»Ich muss aufs griechische Festland. Dort leben Grigori, die informiert werden sollten, und es gibt Komplikationen, die wir verhindern müssen. So laufen die Dinge dort, und da ich noch immer offiziell der Anführer bin, liegt es in meiner Verantwortung, es sei denn, wir übergeben den ganzen Fall an die Akademie … was wir nicht tun werden.« Die letzten Worte betonte er. »Ich nehme Nathan und Becca mit, aber es könnte ein paar Tage dauern, bis alles erledigt ist. Die Grigori dort sind schwer zu finden – es sind wenige und sie wurden von Verbannten überrannt. Josephine stammt von einem Seraph ab, solange ich weg bin, wird sie automatisch alle Grigori anführen, für die ich zuständig bin. Theoretisch kann ich für die Zeit meiner Abwesenheit einen Sprecher ernennen, aber Josephine wird letztendlich das Sagen haben.«

»Was bedeutet das?«

Die Türen, die hinaus auf das Rollfeld führten, gingen auf und ein kleines Fahrzeug fuhr eine Treppe an die Tür des Jets heran.

»Tu, was sie sagt«, sagte Griffin und sah zunehmend nervös aus. Er legte mir die Hand auf den Rücken und führte mich nach vorne. »Sie ist sehr gut, und du kannst dich darauf verlassen, dass sie Phoenix aufhalten will, aber Violet …« Er beugte sich nah zu mir und flüsterte jetzt. »Lincoln hat mir erzählt, wie sich deine Sinne entwickelt haben. Erzähl ihr nur von deinen Kräften, wenn es unbedingt sein muss. Und widersetz dich ihr bloß nicht. Sie brüstet sich damit, die Mächtigste von uns allen zu sein.«

»Aber du sagtest, sie sei die Stellvertreterin?« Es musste noch jemand Ranghöheres geben.

»Das ist sie.« Er drückte meinen Arm, zu fest, als dass es tröstlich gewesen wäre. »Freiwillig.« Dabei beließ er es dann und ging voraus, um unsere Gruppe anzuführen.

Wie verließen den Warteraum und traten aufs Rollfeld hinaus. Lincoln lud mit ruhigen Bewegungen unsere Taschen in den Gepäckraum. Ich gab ihm meine und bemühte mich, ihn dabei nicht anzusehen, doch als sich unsere Finger streiften, trafen sich unsere Blicke. Ich wusste nicht, womit ich rechnen konnte, vielleicht dass er sagen würde, dass ich nicht mitkommen soll oder vielleicht gar nichts, aber stattdessen schenkte er mir ein schiefes Lächeln und ich fühlte, wie ein wenig von dieser Wärme wie ein Sonnenstrahl in mich einsickerte. Ich lächelte zurück, seine faszinierenden grünen Augen leuchteten für mich auf, und ich wusste, dass meine dasselbe taten, auch wenn sie nicht annähernd so spektakulär waren wie seine.

Trotz allem anderen ließ ich mich von dieser Wärme durchdringen, während ich hinter Steph die Treppe hinaufstieg. Das heißt, bis ich geradewegs in sie hineinlief.

»Was …?«, begann ich, aber Stephs Schrei übertönte mich.

»Ich glaub es nicht!«, rief sie und rannte jetzt die Treppe hinauf, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm.

Ich beugte mich zur Seite, um zu sehen, was sie sah, und da waren sie dann: Salvatore und Zoe.

Bevor ich wusste, was ich tat, stieß auch ich einen Schrei aus und rannte so schnell wie Steph die Stufen hinauf.

Steph lag bereits in Salvatores Armen und er sprach sehr schnell auf Italienisch mit ihr. Ich schnappte mir Zoe und wir umarmten uns wie die Freundinnen, die wir inzwischen waren. Freundinnen, die zusammen gekämpft und Verluste erlitten hatten.

»Ihr seid zurückgekommen!« Und da wurde mir bewusst, dass ich allmählich daran gezweifelt hatte, dass sie je wiederkommen würden. Zumindest nicht für das hier, nicht wenn sie wussten, dass es so eine aussichtslose Sache war.

»Wir haben doch gesagt, dass wir wiederkommen, oder?«

Ich zog sie an mich. Hinter mir hüstelte jemand.

»Äh, Eden, du könntest sie jetzt mal loslassen.«

»Oh«, sagte ich, dann lockerte ich meinen Griff und sah Zoe mal richtig an. Ihr stacheliges kurzes Haar hatte pinkfarbene Spitzen bekommen, aber irgendwie schaffte sie es trotzdem noch, gefährlich auszusehen. Sie trug einen Trägerrock in dunkelgrauem Tarnmuster. Nur Zoe konnte so einen stimmigen Gesamteindruck herstellen. Abgerundet wurde das Ganze von schweren Lederstiefeln. An ihrer Taille hing ihr Dolch.

Spence hob sie hoch.

»Lasst uns die Wiedersehensfreude ins Flugzeug verlagern, Leute«, sagte Griffin, der hinter uns die Stufen heraufkam. Aber auch er strahlte. Wir hatten alle ein paar gute Nachrichten gebraucht.

Ich betrat hinter Zoe die Kabine, und Salvatore und Steph unterbrachen ihre Umarmung lang genug, damit Salvatore mich begrüßen konnte. Ich stellte rasch fest, dass sich sein Englisch um einiges verbessert hatte und dass ich fast alles verstehen konnte, was er sagte.

Alle schüttelten sich die Hände und umarmten sich, als wir hineingingen. Ich erreichte die Hauptkabine als Erste und entdeckte die kleine Gruppe, die bereits im hinteren Teil saß.

Eine Frau, die wohl Josephine sein musste, saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da. Sie hatte langes braunes Haar mit rötlichen Strähnen, die durch ihren Pferdeschwanz noch betont wurden. Ihr eng anliegendes scharlachrotes Wickelkleid war femininer als das, was Grigori sonst so trugen, und sie klickte mit dem Ende des Kugelschreibers in ihrer Hand, während sie mich aus wasserblauen Augen direkt anstarrte.

An ihrer Seite waren sechs Grigori und man konnte deutlich sehen, welche Aufgabe sie hatten: Da sie ähnliche schwarze Kleidung trugen und nicht nur mich, sondern gleichzeitig auch alles andere musterten, waren es eindeutig ihre Bodyguards.

Die Frau, die wie dreißig aussah, war älter als alle Grigori, die ich je kennengelernt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie wirklich war, aber ich wusste – vielleicht wegen ihrer Furcht einflößend überlegenen Art –, dass sie extrem alt war. Sie stand auf, ließ sich Zeit dabei und gab dadurch ein eindeutiges Statement ab. Diese Frau hatte es nicht nötig, sich für irgendjemanden zu beeilen.

Ich spürte, dass Lincoln von hinten an mich herangetreten war, seine Hand berührte sanft meinen Rücken, wodurch er mich warnte und mir gleichzeitig Schutz bot. Ich konnte seine Sorge spüren, und dieses Mal wich ich seiner tröstlichen Berührung nicht aus.

Die Frau blickte in Richtung Lincoln und lächelte gespannt. »Lincoln Wood.«

»Josephine«, sagte Lincoln ruhig. »Schön, dich zu sehen. Erlaube mir, dir meine Partnerin Violet Eden vorzustellen.«

Ihr Blick wanderte kurz zu mir, als wäre ich eine Fliege, die sie gerade totgeschlagen hatte, doch unwillkürlich blieb er an meinen Handgelenken hängen, trotz der Tatsache, dass ich sie wieder bedeckt hatte.

»Ja. Violet … Eden. Ich habe so viel von ihr gehört und doch …« Sie musterte mich von oben bis unten. »Na ja, sagen wir einfach, ich habe etwas anderes erwartet.«

Oh. Wir werden bestimmt dicke Freundinnen.

Sie kräuselte die Lippen und schaute geradewegs durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht mehr da. »Bist du das, Griffin Moore?«, rief sie und winkte ihn zu sich. Es war seltsam, dass sie alle mit ihrem vollen Namen anredete, es klang, als würde sie dadurch eine gewisse Befehlsgewalt übernehmen. Das gefiel mir nicht.

»Setzt euch alle«, sagte Griffin, er beeilte sich nicht, sondern kam in unsere Richtung. Es war ein winziges Machtspiel, und es gefiel mir, dass Griffin sie warten ließ. »Stephanie, vielleicht könnt ihr das auch in sitzender Position machen«, sagte er, als er sich an ihr und Salvatore vorbeizwängte, die ihre Lippen nicht mehr voneinander lösen konnten.

»Und weit weg von mir«, knurrte Dapper, während er die beiden auf zwei Sitzplätze weiter vorne schob.

Ich bezweifelte, dass Steph das bemerkte oder überhaupt Luft holte.

»Ach, komm schon, Dapper, lass ihnen doch ihre junge Liebe«, stichelte Onyx. »Dann ist es umso unterhaltsamer, wenn sich eine Tragödie anbahnt.« Er blickte in meine Richtung. »Bestes Beispiel.«

»Onyx, es ist noch nicht zu spät, dich aus diesem Flugzeug zu werfen«, murmelte Lincoln, leise, aber so, dass Onyx es hörte und den Mund hielt. Er setzte sich neben Dapper, der ihm eine von seinen Miniflaschen reichte.

»Ist das nicht interessant?«, sagte Josephine und sah Onyx angeekelt an, während er einen Schluck nahm. »Ist er psychisch stabil?« Sie war so fasziniert von ihm, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihre Geringschätzung zu verbergen.

Griffin kam bei Josephine an und küsste sie liebenswürdig auf beide Wangen. Mir klappte der Mund auf.

»Es ist so schön, dich zu sehen, Jossie. Es ist so lange her.«

Jossie? Sie sieht nicht aus wie jemand, der Jossie heißt!

Josephine wurde rot, aber es sah aus, als würde sie das vorsätzlich machen. Warum war ich mir plötzlich so sicher, dass nichts von dem, was sie je tat, nicht vorsätzlich war?

»Zu lange, alter Freund. Ich habe dir schon so oft gesagt, dass dein Platz an der Akademie ist – nicht draußen in der Wildnis. Nach allem, was mit Magda geschehen ist … sag mir, dass du endlich zur Vernunft gekommen bist.«

Griffin nahm Josephines Hand in seine. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es jetzt Zeit, noch einmal darüber nachzudenken.«

Josephine lächelte. »Willst du mich auf den Arm nehmen, Griffin?«

Griffin wandte sich zu uns um, sodass er jetzt auf gleicher Höhe mit Josephine war. Ein weiterer strategischer Zug, wie ich vermutete. Die Augen der schwarz gekleideten Grigori, die Josephine umgaben, waren sofort auf ihn gerichtet.

Josephine lachte leichthin und warf ihnen einen wenig freundlichen Blick zu. »Bitte, entspannt euch. Wir sind alle auf derselben Seite in diesem Flugzeug. Außer vielleicht dem menschlichen Verbannten und seinem … faszinierenden Begleiter«, sagte sie, womit sie uns klarmachen wollte, dass ihr aufgefallen war, dass Dapper mehr als nur menschlich war. Sie machte ein, zwei Handbewegungen in Richtung ihrer Bodyguards. »Geht, setzt euch in ihre Nähe.«

Sie flitzten zu den Sitzen hinter Onyx und Dapper.

»Oh, hervorragend«, sagte Onyx, der von Minute zu Minute betrunkener klang. »Eine mörderische Gesellschaft.«

»Ihr übrigen könnt euch entspannen und den Flug genießen«, sagte Josephine zu den anderen Bodyguards. Doch keiner von ihnen nahm seinen Blick von mir, deshalb glaubte ich nicht, dass ihre Befehle tatsächlich so lauteten.

»Warum setzt du dich nicht neben Lincoln, Violet? Josephine und ich haben viel aufzuholen.« Griffin lenkte Josephine in den hinteren Teil des Flugzeugs, während ich Lincolns Hände auf meinen Hüften spürte, die mich auf der Stelle drehten und dann zu den vorderen Sitzen schoben, so weit wie möglich weg von ihr.

»Du kennst sie?«, fragte ich leise, sobald er neben mir saß.

»Ich war ein paar Jahre an der Akademie, erinnerst du dich?«

Ich nickte. Lincoln hatte einige Zeit dort verbracht, hatte ein Pflichttraining absolviert, bevor er unter Griffin eine Stelle annahm und auf seine Partnerin – mich – wartete.

»Wie alt ist sie?«

»Das weiß niemand.«

Er warf mir einen sonderbaren Blick zu und streckte die Hand aus. »Wenn du sie fragen möchtest – nur zu.«

»Schon kapiert.«

Sein Lächeln wurde breiter, und ich musste wegschauen, bevor es zu sehr schmerzte.

Ich drehte meine Hände in meinem Schoß und spielte mit den Armreifen. »Dad hat meine Male gesehen.«

Lincolns Augenbrauen schossen nach oben. Er wusste, wie bedeutend das war. »Alles okay?«

Ich klemmte mir ein paar lose Haarsträhnen hinter das Ohr. »Ich hasse sie, Linc.«

»Nein, das tust du nicht«, sagte er leise, er wusste, wen ich damit meinte.

»Doch. Und Dad wird mir jetzt nie verzeihen. Selbst wenn ich das alles überlebe – ich … ich habe seinen Gesichtsausdruck gesehen, als er meine Handgelenke sah – es war, als hätte er Angst vor mir. Ich weiß nicht, ob ich noch ein Zuhause habe, in das ich zurückkommen kann.«

Wir schwiegen eine Weile. Ich hatte gerade meine Augen geschlossen, als ich spürte, wie er ganz vorsichtig herüberfasste und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Seine Berührung hinterließ ein Brennen.

»Du wirst überleben und … du wirst immer ein Zuhause haben, in das du zurückkehren kannst.«

Ich presste die Augen fest zu, um die Tränen zurückzuhalten. Ich wünschte, er hätte das nicht gesagt. Es fühlte sich an, als würde mein Herz gleich explodieren. In diesem Moment liebte ich ihn mehr denn je, wenn das überhaupt möglich war.