Kapitel Neun
»Und aus der Finsternis kamen Hände, die durch die Natur den Menschen formten.«
Alfred Lord Tennyson
Ich erinnere mich kaum mehr an das, was dann geschah. Die Sanitäter waren in Dappers Wohnung gekommen und hatten sich gleich an die Versorgung der Verletzten gemacht.
Wir waren den Krankenwagen in Lincolns Volvo zum Krankenhaus gefolgt, aber wir konnten nicht viel tun, außer zu warten.
Die Ärzte sagten uns, dass Onyx wieder in Ordnung käme. Seine schwersten Verletzungen waren die Rippen, die auch seine Lungen durchbohrt hatten, genau wie ich vermutet hatte. Das Wichtigste war gewesen, die Löcher zu schließen, damit er wieder selbstständig atmen konnte, was ihnen auch gelungen war. Alles andere war oberflächlich. Schmerzhaft, aber er würde es überleben.
Dapper hatte es schlimmer erwischt. Die Ärzte waren überrascht, dass er überhaupt noch am Leben war. Allein die Verletzungen durch den Gürtel um seinen Hals hätten eigentlich ausgereicht, um seine Kehle und seine Luftwege zu zertrümmern. Ganz zu schweigen von dem Schaden, den die inneren Blutungen angerichtet hatten, die durch die brutalen Schläge entstanden waren. Die Ärzte nahmen an, dass sie mit irgendwelchen Waffen attackiert worden waren, da menschliche Hände nicht dieses Ausmaß an Schäden hätten anrichten können. Wir widersprachen ihnen nicht.
Für die Ärzte war Dapper ein medizinisches Wunder.
Für uns hieß das, dass auch wir uns in ihm getäuscht hatten.
Dapper besaß offenbar Selbstheilungskräfte. Wenn er sich weiterhin in dieser Geschwindigkeit erholte, würde er im Krankenhaus einiges zu erklären haben. Das scherte uns im Moment herzlich wenig, Dapper aber schon. Mit seiner Bar war er ein Teil der menschlichen Gesellschaft, deshalb war es für ihn unerlässlich, seine übernatürlichen Fähigkeiten zu verbergen.
Ich benahm mich völlig mechanisch, alle versuchten mir zu helfen, aber ich nahm niemanden so richtig wahr.
Schließlich rückte jemand neben mich und hob mich auf seinen Schoß. Seine Arme schlangen sich um meine Hüfte, hielten mich fest, so als würde sein Körper dem meinen irgendwie Kraft geben. Und das funktionierte. Mein Körper, meine Seele, wurde von ihm angezogen, weil sie ihn wiedererkannten. Dabei wurde etwas entzündet, das herrlich und zugleich qualvoll war. Er strich mir das Haar aus dem Gesicht und klemmte es mir hinter das Ohr. Ich atmete das Gefühl warmer Sonnenstrahlen auf meiner Haut ein und spürte, wie ein Rinnsal Honig mein Inneres streichelte.
Dann beugte er sich zu meinem Ohr und flüsterte nur für mich hörbar: »Ich verspreche dir, dass sie am Leben ist. Ich verspreche dir, dass wir sie zurückbekommen.« Er schluckte schwer. »Unversehrt.«
Ich antwortete nicht. Ich wollte ihm glauben. Oh, ich wollte es so sehr. Aber wie konnte ich?
Als würde er meine Frage kennen, rückte er näher und strich mir mit bebender Hand über das Haar.
»Phoenix wird ihr nichts tun, weil …« Er zögerte, und etwas an dieser Pause ließ mich glauben, dass er nicht das sagte, was er eigentlich hatte sagen wollen. »Er braucht sie, um zu bekommen, was er will.«
Das war alles, was es brauchte, um mich aus meiner Trance zu reißen. Ich hatte nicht klar gedacht. Ich hatte überhaupt nicht gedacht, aber Lincoln durchbrach diese Barrieren, fand zu mir, wo andere es nicht vermochten, und er hatte recht. Absolut recht.
Ich hob den Kopf. »Das ist jetzt der richtige Deal.«
Er nickte.
Phoenix wusste, dass mir das am meisten wehtun würde, wusste, dass ich mich schuldig fühlte, weil ich Steph in diese Welt gebracht hatte. Er hatte erwartet, dass mich das hart treffen würde, aber er verstand nicht. Nicht voll und ganz. Er hat nie wirklich verstanden, was Lincoln und ich hatten, dass Lincoln die Stütze war, die mir Kraft verlieh, und dass er der Einzige war, der mir helfen konnte, mich auf das zu konzentrieren, was getan werden musste.
Als wir schließlich in Lincolns Wohnung zurückkamen, war ich nicht mehr in einer ganz so schlechten Verfassung. Beim Verlassen des Krankenhauses war ich hinausgegangen, ohne dass mich jemand stützen musste.
Okay, ich konnte mich nicht mehr genau daran erinnern, wie wir zurück ins Lagerhaus gekommen waren, aber das lag daran, dass ab diesem Moment nur eine Sache meine volle Aufmerksamkeit hatte: Ich hatte die Wahl.
Seit ich mein Grigori-Ich entdeckt hatte, schien alles immer auf so etwas hinauszulaufen. Doch normalerweise bestand meine Wahl darin zuzulassen, dass entweder jemand anderes oder ich selbst verletzt wurde. So wie meine Zusage zu machen, um Lincoln zu retten, oder Phoenix gegenüberzutreten, obwohl ich von der Macht wusste, die er über mich hatte. So einfach war es dieses Mal nicht.
Es war schlimmer.
Dieses Mal könnte sonst etwas zur Wahl stehen – die Antwort wäre immer dieselbe. Ich würde nicht daneben stehen und Steph sterben lassen. Der Preis war riesig und ich konnte die Anspannung im Raum fühlen. Griffin ging nervös auf und ab, während Spence angespannt herumlungerte.
Lincoln tat nichts dergleichen. Er ging in die Küche und machte Sandwichs. »Du musst etwas essen«, sagte er und stellte sie vor mich hin.
Ich aß etwas, aber nur, weil ich wusste, dass er recht hatte. Ich brauchte meine Kraft.
Samuel hatte angerufen. Ihm und Kaitlin ging es gut. Sie bestätigten, was wir bereits wussten – dass die Verbannten Steph mitgenommen hatten. Sie hatten beide versucht, sie aufzuhalten, aber sie wurden überwältigt. Das Einzige, was keinen Sinn ergab, war, dass nicht alle umgebracht wurden. Es lag nicht in der Natur eines Verbannten, Überlebende zurückzulassen. Vor allem nicht, wenn es um Grigori ging.
Griffin hatte arrangiert, dass Beth und Archer die erste Schicht im Krankenhaus übernehmen und abwarten sollten, bis Onyx und Dapper wieder zu vollem Bewusstsein kamen. Dapper musste weggebracht werden, bevor jemand zu misstrauisch werden würde. Griffin organisierte gerade über seine Grigori-Verbindungen einen fingierten Krankentransport.
»Ich sollte dich nach Hause bringen«, sagte Lincoln neben mir. Er schien so ruhig zu sein, auch wenn ich wusste, dass er es nicht war.
»Ich muss es tun«, sagte ich und wagte nicht, ihn dabei anzusehen, als ich genau das aussprach, was er nicht hören wollte.
Er seufzte. »Darüber können wir morgen früh sprechen.«
Ich sprang auf. »Was erwartest du von mir? Dass ich einfach nach Hause gehe? Mich im Bett zusammenrolle und mal so richtig ausschlafe? Steph ist irgendwo da draußen! Mit ihm!«
Lincoln saß einfach nur da und ließ zu, dass ich ihn anschrie. Griffin und Spence hatten sich am Esstisch niedergelassen. Sie blätterten durch einen Stapel Papiere, Stephs Recherchen. Ich wäre am liebsten zu ihnen gestürmt und hätte sie ihnen vor der Nase weggerissen. Wir mussten etwas unternehmen.
»Sie sind zu viele, als dass wir versuchen könnten, es heute Nacht mit ihnen aufzunehmen. Sie werden damit rechnen und auf uns warten«, sagte Lincoln, der meine Gedanken durchschaute.
Ich ließ mich wieder neben ihn aufs Sofa fallen und hasste es, dass er recht hatte.
»Ich kann nicht nach Hause gehen«, sagte ich. »Dad denkt, dass ich heute bei Steph übernachte.«
Lincoln war einen Augenblick lang still, als hätte ihn diese Neuigkeit mehr aus dem Konzept gebracht als alles, was heute Abend passiert war. Ich spürte den Geschmack von Honig, als sich seine Macht regte.
Griffin stand auf. »Violet, wo sollte Steph heute Abend sein?«
»Bei sich zu Hause, zusammen mit mir.« Wir hatten vorgehabt, nach dem Austausch gegen Mitternacht zu ihr nach Hause zu gehen. Ich schaute auf meine Uhr, weil mir klar wurde, worauf Griffin hinauswollte.
Wie auf Bestellung klingelte mein Handy. Alle zuckten zusammen. Wir warteten schon den ganzen Abend auf einen Anruf. Doch als ich sah, wer es war, seufzte ich.
»Oh, nein.«
»Wer ist es?«, fragte Lincoln, der noch immer ganz ruhig war.
»Dad.«
Griffin sprach schnell. »Du musst das vertuschen, Violet. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Menschen darin zu verwickeln.«
Er meinte es nicht so, wie es sich anhörte, aber ich fühlte mich dadurch noch schrecklicher.
Lincoln legte mir die Hand aufs Knie. »Eine Party außerhalb der Stadt. Schwierigkeiten mit dem Auto. Schlechter Handy-Empfang, aber ihr übernachtet bei einer Freundin, einem Mädchen«, fügte er vielsagend hinzu. »Jemand, den ich dir beim Klettern vorgestellt habe.«
Das Handy klingelte immer noch. Er hielt meinen Blick. Die Stütze, die mir Kraft verlieh. Ich nickte.
»Dad.«
»Violet, wo bist du? Ich habe die letzte halbe Stunde lang mit Eliza Morris telefoniert. Du solltest heute Abend zusammen mit Steph bei ihr zu Hause sein!« Er war wirklich besorgt. Stephs Mum musste ihm wohl die Hölle heißgemacht haben.
»Dad! Dad, mach dir keine Sorgen. Hör zu.« Ich holte tief Luft. »Vielleicht werde ich unterbrochen, der Empfang hier ist grauenhaft, aber Steph und mir geht es gut. Wir waren auf einer Privatparty außerhalb der Stadt.«
»Violet! Du hattest nicht die Erlaubnis, die Stadt zu verlassen! Wo bist du?«
»Dad, hör mir einfach zu. Es geht uns gut. Wir wären schon zu Hause, aber Stephs Auto ist liegen geblieben und unsere Handys funktionierten nicht.«
Lincoln nickte mir zu, damit ich fortfahre. Ich würde zwar Ärger bekommen, weil ich auf einer Party außerhalb der Stadt war, doch das war nichts im Vergleich zur Alternative.
»Mir fiel ein, dass eine Freundin von Lincoln ganz in der Nähe wohnt. Ich habe sie ein paarmal beim Klettern getroffen und wir waren einmal bei ihr zum Mittagessen.«
Lincoln nickte wieder.
»Und?«, sagte Dad.
»Na ja, wir sind zu ihr nach Hause gefahren. Wir bleiben heute Nacht hier und kommen dann morgen zurück.«
Lincoln warf mir einen Blick zu und tippte auf seine Uhr.
»Wenn wir das Auto zur Reparatur gebracht haben. Wir gehen dann direkt in die Schule und kommen hinterher nach Hause«, fügte ich hinzu.
Erneut nickte Lincoln leicht. Ich hatte etwas Zeit für uns gewonnen.
»Warum hast du nicht angerufen?«
»Lucy hat kein Festnetz, und das ist das erste Mal, dass mein Handy hier überhaupt Empfang hat«, log ich.
Dad seufzte. Es funktionierte. Jetzt war es an der Zeit, alles noch einmal klarzustellen.
»Dad, es tut mir wirklich leid. Wir haben nicht damit gerechnet, so spät zu Steph nach Hause zurückzukommen.«
»Na ja, Stephs Mutter ist außer sich vor Wut.« Er seufzte wieder. »Gib mir die Adresse, dann komme ich und hole euch ab.«
Meine Augen wären fast aus ihren Höhlen gesprungen. Ich hatte erwartet, dass er es dabei belassen würde.
Verzweifelt schaute ich Lincoln an. Er drückte ein paarmal mit dem Daumen nach unten, um mir zu sagen, dass ich auflegen sollte. Ich wusste, dass er recht hatte, ich musste dieses Gespräch abbrechen und wir mussten das Telefon freihalten.
»Dad, wir haben uns schon zum Schlafen hingelegt. Ruf einfach Stephs Mum für uns an, Steph … schläft schon und mach dir keine Gedanken, wenn du uns nicht erreichst, das Handy verliert dauernd den Empfang. Ich rufe dich an, sobald wir auf dem Heimweg sind.«
Ich hörte, wie Dad in den Hörer schrie und mehr Informationen verlangte. Ich wartete einen Augenblick und beendete dann das Telefongespräch.
Alle im Zimmer atmeten aus, als hätten sie das ganze Gespräch über die Luft angehalten.
»Ich glaube nicht, dass er heute Nacht noch irgendwelche Suchtrupps losschickt, aber er weiß, dass etwas nicht stimmt.« Und dazu kamen noch die Fragen, die er ohnehin schon gestellt hatte. Ich wusste, da würde noch mehr kommen.
Bevor noch jemand Zeit hatte, darüber nachzudenken, klingelte mein Handy schon wieder. Alle zuckten zusammen, nur ich nicht. Es war niemand mehr übrig, der hätte anrufen können. Es musste er sein. Ich nahm das Handy, um ranzugehen, doch Lincoln hinderte mich daran und streckte die Hand aus.
»Er wird dich erwarten.«
Ich wollte nichts tun, was Phoenix aufregen könnte. Ich wollte Steph nicht noch mehr in Gefahr bringen, aber Lincoln hielt meinem Blick stand und seine Augen schienen so viel zu sagen. Er bat mich, ihm zu vertrauen.
Ich gab ihm das Handy. Er schaltete den Lautsprecher ein.
Phoenix seufzte gelangweilt wie früher, weil er wusste, dass mich das verunsicherte. »Ah, da bist du ja, Liebling. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du würdest nicht rangehen.«
Ich antwortete nicht, sondern schloss stattdessen die Augen und konzentrierte mich einfach auf das Atmen.
»Hol Steph ans Telefon«, sagte Lincoln so ruhig wie immer, aber in seiner Stimme schwang noch etwas mit. Hass.
»Nein«, sagte Phoenix, ohne zu überlegen. Aber ich merkte, dass er überrascht war, Lincolns Stimme zu hören. »Sie ist … beschäftigt.«
»Wenn du sie anrührst, bringe ich dich um«, sagte Lincoln. Er sorgte dafür, dass seine Drohung sehr überzeugend klang.
Doch Phoenix kicherte nur leise. »So? Tust du das?«
Lincoln schwieg.
Phoenix glaubte, er hätte das alles gut durchdacht. Was ihn betraf, so war er nicht nur unsterblich, er war unbesiegbar. Die Macht, die er über mich hatte, die Tatsache, dass unsere Leben unwiderruflich miteinander verbunden waren – er wusste, dass ihn niemand verletzen würde, wenn es sich vermeiden ließ.
Das heißt, niemand außer mir.
»Ich werde es tun«, sagte ich, wobei ich dafür sorgte, dass niemand meine Worte in Zweifel ziehen konnte.
Lincoln warf mir einen resignierten Blick zu und sank in seinen Sessel zurück.
»Nun, das kann ich glauben. Da bist du ja, Liebling. Es scheint, als hätte ich jetzt zwei Sachen, die du unbedingt willst.«
»Ich hasse dich!«, fuhr ich ihn an.
Er lachte wieder. »Ja, na ja, darüber können wir später noch reden. Sagen wir mal, morgen Abend. Warum vergessen wir nicht einfach die komplizierten Pläne und treffen uns morgen einfach in unserem Café? Ein Liebespaar, das gemeinsam Kaffee trinkt und etwas austauscht.«
»Du gibst mir Steph und die Schrift?«
Dies rief eine andere Art von Gelächter bei ihm hervor. Dunkler. »Nein. Ich gebe dir eines. Du hast die Wahl. Oh, und wenn ich dieses Mal nicht bekomme, was ich will, wird Steph diejenige sein, die unter den Folgen deiner Entscheidung leidet.«
»Sie wird sich nicht allein mit dir treffen«, sagte Lincoln mit einer Stimme, die vor Abscheu triefte.
»Violet?«, sagte Phoenix und wartete.
Lincoln sah mich an. »Uns wird noch etwas Besseres einfallen«, flüsterte er.
Ich warf Griffin einen Blick zu und er konnte die Wahrheit nicht verbergen.
Nicht wenn wir Steph lebend zurück wollen.
Lincoln war voreingenommen, das wusste ich. Griffin lag daran, eine Unschuldige zu retten, wir waren schließlich Grigori.
»Wann?«
Phoenix Stimme klang siegessicher. »Neun Uhr abends. Und Violet?«
»Was?«
»Sag deinem Freund Spence, dass seine Dienste bei dieser Gelegenheit nicht benötigt werden.«
Damit beendete er das Gespräch.
Er würde niemals aufhören. Es gab keine Grenzen, die er nicht überschreiten würde.
Ich schaute mich im Zimmer um. Meine Freunde und Mitstreiter. Ich konnte sie nicht alle in Gefahr bringen.
»Ich muss ihn zurückschicken«, sagte ich, weil ich wusste, dass das stimmte.
Lincoln machte einen Satz. »Nein! Noch nicht. Nicht bevor wir nicht wissen, wie wir die …«, aber ich unterbrach ihn.
»Wir werden die Verbindung zwischen uns nicht lösen können! Niemals! Solange ich lebe, lebt er auch. Es ist, als wäre ich ein Teil von all dem Schlechten, das er tut. Ich kann das nicht mehr!« Dann, als ich Lincoln ansah, konnte ich den letzten Gedanken nicht für mich behalten. »Das wäre für alle am besten.«
»Inwiefern wäre es das?«, fauchte er. Die kühle Fassade, die er so mühevoll aufrechterhalten hatte, war jetzt vollständig verschwunden, seine Hände umklammerten zornig eine Stuhllehne.
»Er wird dann nicht mehr da sein. Die Schriften werden in Sicherheit sein und ich werde … Du kannst dir eine neue Partnerin nehmen, eine, die nicht so … kompliziert ist.«
Lincoln schüttelte den Kopf, als würde er mich für verrückt halten. »Klar. Ich sehe schon, das wird alles total super. Und ich nehme an, Steph und dein Dad leben dann auch noch glücklich bis ans Ende ihrer Tage?«
Das brachte mich zum Nachdenken.
»Violet«, mischte sich Griffin in die Diskussion ein. »Wenn es unsere einzige Option wäre – dann könnten wir darüber nachdenken.«
Lincoln wirbelte so schnell zu Griffin herum, dass klar war, dass er nicht nur vorhatte, einen Stuhl gegen die Wand zu schleudern.
»Aber im Moment«, fuhr Griffin unbeeindruckt von Lincolns wütendem Blick fort, »ist das keine gute Option. Wenn du vor Phoenix diese Art von Plan andeutest, dann wird er Steph – oder jemand anderem – wehtun, um dich in Schach zu halten.«
Ich wusste, es stimmte, was er da gerade sagte.
Dad. Er wird sich Dad schnappen.
Er war der Einzige, der noch übrig war. Und Phoenix würde es sich nicht zweimal überlegen.
»Nicht, wenn er fort ist«, sagte ich, aber ich wusste, ich hatte den Kampf verloren.
»Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist, ihn zurückzuschicken?«, sagte Griffin, der sich bereits bewusst war, dass er den Streit gewonnen hatte.
»Entschuldigt mal«, mischte sich Spence ein, er klang aufgeregt. »Ich glaube, ihr überseht alle die andere Option.«
Alle Blicke richteten sich auf ihn. Außer Lincolns – sein Blick ruhte noch immer auf mir und er war stinksauer.
»Was meinst du damit, Spence?«, fragte Griffin.
»Wenn ich das richtig verstehe, wollen wir alle Steph zurückhaben, können aber nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, uns auf diesen Deal einzulassen. Wenn ihr Phoenix diese Schrift übergebt, bringt er die Mutter der Finsternis über uns. Wegen eines einzigen Lebens setzt ihr eine unbekannte Anzahl Unschuldiger aufs Spiel.«
»Was schlägst du vor, Spence?«, erwiderte Griffin.
»Du willst sie sterben lassen«, sagte ich und wollte Spence von ganzem Herzen dafür hassen. Und das tat ich auch. Ich hasste ihn dafür, dass er die Person war, die es ausgesprochen hatte. Dafür, dass er den Preis meiner Entscheidung so deutlich hervorgehoben hatte.
»Steph ist auch meine Freundin. Ich will sie da genauso rausholen wie ihr. Aber ich glaube, wir sollten versuchen, sie zu befreien, ohne die Schrift zu verlieren.«
»Der Deal ist die einzige Option, wenn wir sie lebend wiederhaben wollen. Wir werden versuchen, einen Plan zu machen. Keiner von uns will, dass wir diese Schrift aus der Hand geben, aber wenn Violet morgen nicht mit der echten Schrift in diesem Café aufkreuzt …« Mehr brauchte Griffin gar nicht zu sagen.
Spence nickte. »Du bist der Boss«, sagte er, wobei er zuerst Griffin, dann mich ansah. Eine zweideutige Feststellung. Ich wusste, dass er mir damit zu verstehen geben wollte, dass ich hier das Sagen hatte, dass ich auf die eine oder andere Weise trotzdem die Entscheidungen steuerte, auch wenn ich auf meine rechtmäßige Rolle als Anführerin verzichtet hatte.
Aber das stimmte nicht. Ich hatte Griffin noch nie zu etwas gezwungen. Das bedeutete nicht, dass ich es nicht trotzdem tun würde, dass ich nicht einfach die Schrift nehmen und einen Weg finden würde, Steph zurückzuholen, aber ich hatte Griffin nicht dazu gebracht, mir zuzustimmen. Ich wusste, dass er es aus seinen eigenen Gründen getan hatte – Gründen, durch die sich die Grigori von den Verbannten unterschieden.
Kollateralschäden waren in Griffins Augen nicht akzeptabel, nach allem, was mit Magda passiert war, der Art und Weise, wie sie uns alle für ihre eigenen, egoistischen Begierden verraten hatte. Er würde in dieser Sache nicht nachgeben, auch wenn er Spence’ Standpunkt verstand. Himmel, selbst ich verstand ihn. Aber das würde nichts ändern.
Spence merkte, dass das Thema damit abgeschlossen war, und ging duschen. Er hatte sich in Lincolns Gästezimmer eingerichtet, und die beiden schienen gut miteinander auszukommen. Lincoln freute sich zwar immer, wenn sein Zuhause als eine Art Operationsbasis genutzt wurde, aber er hing auch an seiner Privatsphäre, deshalb war ich überrascht, dass er bereit war, einen Mitbewohner bei sich aufzunehmen.
Griffin befand sich ebenfalls im Aufbruch und ging zur Tür. »Ich gehe wieder ins Krankenhaus und dann schaue ich mal nach Kaitlin. Wir sehen uns morgen.«
Er benahm sich ganz geschäftsmäßig. Nachdem er gesehen hatte, dass es hier heute Abend nichts mehr für ihn zu tun gab, sah er keinen Grund, noch länger zu bleiben. Doch ich war mir sicher, dass er nicht vorhatte, schlafen zu gehen.
Als Lincoln und ich allein waren, stand ich auf. »Ich sollte gehen«, sagte ich.
»Und wo gedenkst du hinzugehen?«, fragte Lincoln, der ebenfalls aufstand. Wir wussten beide, dass ich nicht nach Hause gehen konnte.
»Vielleicht wieder ins Krankenhaus.« Ich wollte nach Dapper sehen und – zu meiner eigenen Überraschung – auch nach Onyx. Außerdem würde es niemandem verdächtig vorkommen, wenn jemand im Wartebereich ein Nickerchen macht – vorausgesetzt, ich würde überhaupt ein Auge zumachen können.
Lincoln schüttelte den Kopf.
»Was?«, fragte ich.
»Du musst schlafen. Vor allem, wenn …« Er wollte sagen: Wenn du morgen Phoenix gegenübertreten musst, aber das wollte er noch immer nicht akzeptieren. »Du kannst in meinem Zimmer schlafen.«
Und dann, trotz diesem ganzen Drama, trotz meiner Angst um Steph, ertappte ich mich dabei, wie ich in Lincolns unwiderstehlich grüne Augen blickte, und all die verbotenen Gefühle brachen wieder hervor.
Spence kam aus dem Badezimmer, er trug Boxershorts, und sonst nichts. Er blickte kurz auf, schien aber nicht zu merken, dass die Spannung im Raum noch weiter gestiegen war. Er warf eine Hand nach oben, als er den Flur zu seinem Zimmer überquerte, und rubbelte sich mit der anderen über das nasse Haar. »Gute Nacht«, sagte er, bevor er die Tür hinter sich zumachte.
Lincoln verschwand einen Augenblick lang in seinem Zimmer und kam mit einem Handtuch, einem T-Shirt und einer dünnen Jogginghose zurück.
Er zuckte mit den Schultern und reichte mir die Sachen. »Ich glaube, du hast nichts mehr hier. Wenn du mir deine Kleider gibst, können wir sie für morgen in die Waschmaschine werfen.«
Ich nickte und ging ins Bad.
Ich nahm eine brühend heiße Dusche und nutzte die Zeit, mich wieder zu sammeln. Ich musste stark sein für Steph, ich musste sie zurückholen. In Schuldgefühlen konnte ich mich später noch suhlen – momentan würde es nicht weiterhelfen, sich all die schrecklichen Dinge auszumalen, die sie ihr antun konnten. Lincoln hatte recht. Sie würden erwarten, dass wir versuchten, sie heute Nacht zu befreien, und selbst wenn sie sie tatsächlich am Flughafen festhielten, den Phoenix noch immer als Operationsbasis zu verwenden schien, war dieses Flugzeug zu schwer bewacht. Wir brauchten Zeit für die Vorbereitung. Das Titan, mit der die riesige Antonow ausgekleidet war, beeinträchtigte noch immer unsere Sinneswahrnehmungen – behinderte sie, sodass wir nicht nur nicht wüssten, wo genau sich Steph aufhielt, sondern auch nicht, wie viele Verbannte uns dort erwarten würden.
Ich zog die Kleider an, die Lincoln mir geliehen hatte, was tröstlich und zugleich qualvoll war. Sogar frisch gewaschen rochen sie noch nach ihm, nach seiner Kraft, die wie ein Sonnentag und schmelzender Honig war.
Er war bereits in seinem Schlafzimmer, als ich die Tür aufmachte.
Sein Blick schoss nach oben. »Sorry, ich hole mir nur ein paar Sachen.«
Ich zuckte mir den Schultern. »Lass dir ruhig Zeit.«
Das tat er natürlich nicht. Er ging rasch hinaus und verschwand ebenfalls im Bad.
Ich war noch nie zuvor in seinem Schlafzimmer gewesen, nicht ohne ihn zumindest. Und ganz sicher hatte ich noch nie in seinem Bett geschlafen. Ich ertappte mich dabei, wie ich es erforschte, ich konnte einfach nicht widerstehen und strich mit den Händen über die Kurven des Holzbettes, über die weichen Baumwolllaken… Da war ein Bild von ihm als Kind, mit seiner Mutter, und eins mit ihr und jemandem, der wohl sein Vater sein musste. Ich nahm es in die Hand, dabei fiel hinten ein anderes Foto heraus. Mein Herz machte einen Satz und meine Hand fing an zu zittern – es war ein Schnappschuss von mir.
Er hat ein Foto von mir!
Es war vor Monaten aufgenommen worden, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag, kurz bevor ich alles herausfand. Ich sah so anderes aus, wie ich beim Klettern lächelnd in meinen Gurten hing. Jung.
Ich hörte, wie die Dusche ausging, und stellte das Foto rasch zurück. Es änderte nichts.
Ich ging ins Bett und setzte mich auf. Ich hörte, wie er aus dem Bad kam, dann dauerte es eine Weile, bis er seinen Kopf durch die Tür steckte. Vielleicht hatte er gar nicht noch mal zurückkommen wollen.
»Gute Nacht, Vi«, sagte er. Er lächelte angestrengt und achtete darauf, die Schwelle nicht zu überschreiten.
»Linc?«
»Ja?«, erwiderte er.
Bleib!
»Danke.«
Etwas huschte über sein Gesicht, und er betrachtete mich einen Augenblick lang, bevor er sagte: »Alles wird gut.«
Ich hoffte verzweifelt, dass er recht hatte.
Ich schlüpfte zwischen die Laken und drehte mich auf die Seite. Dabei hörte ich, wie die Tür leise geschlossen wurde, und eine längere Pause folgte, bevor ich hörte, wie sich seine Schritte auf dem Flur entfernten.
Die nächste halbe Stunde biss ich mir auf die Lippe, setzte mich auf, wollte zu ihm gehen, ließ mich dann wieder aufs Bett fallen, beschloss stattdessen, meinen Kopf in seinem Kissen zu begraben und den köstlich-quälenden Duft einzuatmen, den nur er an sich hatte.
Einmal schaffte ich es tatsächlich, aus dem Zimmer in den Flur hinauszugehen. Doch nach ein paar Schritten konnte ich hören, dass er auch noch wach war und im Wohnzimmer umherging, deshalb schlich ich mich wieder zurück in sein Schlafzimmer, machte die Tür hinter mir zu und zuckte zusammen, als sie klickte. Er würde wissen, dass ich herausgekommen war.
Ich wartete und rechnete schon fast damit, dass er kommen und mich zur Rede stellen würde. Aber das tat er nicht, und ich hörte endlich auf, mich wie eine Verrückte zu benehmen, und fiel erschöpft in den dringend benötigten Schlaf, der nur wenige Stunden dauern sollte.