Kapitel Sechsundzwanzig

»Jedem wird ein guter und ein böser Engel zuteil; der eine hilft ihm, der andere schadet ihm, von seiner Geburt bis zu seinem Tod«

Voltaire

Als ich in mein Zimmer zurückkam, war Steph bereits weg und hatte mir auf dem Bett eine Nachricht hinterlassen:

Ruf mich SOFORT an, sonst schlage ich Alarm. Und falls du okay bist, dann erwarte ich eine ausführliche Erklärung!

Steph xx

Ich schickte ihr eine SMS:

Alles okay. Bin im Zimmer. Ich geh duschen und komme dann nach.

Vi xx

Drei Sekunden später antwortete sie:

Göttliches Kader trifft sich in 2 Std. unten. Bin in Dappers Zimmer, falls du mich suchst.

S xx

Ich versuchte beim Duschen nicht nachzudenken, aber es war unmöglich. Phoenix hatte mir ein Ultimatum gestellt, und ganz egal, von welcher Seite man das betrachtete – ich entdeckte keinen Ausweg.

Nachdem ich mir Shorts und ein gelbes Trägerhemd angezogen hatte, ließ ich mich ins Bett fallen und blieb dort, bis ich ein Klopfen an der Tür hörte. Ich fragte mich, ob es Lincoln war, verwarf die Theorie aber sofort. Ich hätte ihn wahrnehmen können.

Ich machte die Tür auf, und Spence stand davor, der in seiner üblichen Kluft aus Jeans und T-Shirt – heute ein grünes – überglücklich aussah, als er mich erblickte.

»Bist du allein?«

»Ja …«, sagte ich misstrauisch.

»Wie wär’s, wenn wir ein paar Informationen sammeln würden?«

»Nein, eigentlich will ich gerade ein paar Stunden Schlaf sammeln.« Ich machte eine Handbewegung, damit er wegging, sodass ich die Tür schließen konnte.

»Wo bleibt deine Unternehmungslust, Eden!«

Als ich auf diese Herausforderung nicht einging, fügte er hinzu: »Josephine hält gerade ein Meeting mit dem Rat ab und dein Partner wurde eingeladen. Sie sind schon den ganzen Morgen damit beschäftigt, weil Lincoln irgendeinen Typen aufgelesen hat.«

»Was für einen Typen?«

»Keine Ahnung, aber Lincoln schien wild entschlossen zu sein, ihn unter Verschluss zu halten. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf ihn werfen, aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er ist ein Grigori, allerdings … Er sah nicht besonders glücklich darüber aus, hier zu sein.« Spence zog die Augenbrauen nach oben und blickte eifrig den Flur entlang. »Interessiert dich nicht, warum man dir nichts davon gesagt hat?«

Er war gut, das musste ich ihm lassen. Spence wusste genau, wie er meine Neugier wecken konnte. Ich überlegte einen Moment, band dann mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, schnappte mir den Zimmerschlüssel und ging mit ihm hinaus.

»Also, worum geht es?«, fragte ich.

»Sie planen etwas, aber wir sind dabei nur die Fußsoldaten. Das ist der Nachteil an der Akademie, sie sind nicht wie Griffin, sie geben einem nur die Informationen, die man wirklich braucht, und selbst dann …«

»Wir brauchen keine Informationen?«

»Na ja, ich definitiv nicht. Ich stehe bis in alle Ewigkeit auf ihrer schwarzen Liste, aber du? Ich würde sagen, sie weihen dich mit Absicht nicht ein.«

Ich hörte heraus, was er damit sagen wollte, verwarf es aber.

»Und Lincoln auch?«

Spence zuckte mit den Schultern. »Wir teilen uns ein Zimmer. Ich habe ihn nur einmal gesehen, aber er ist … beschäftigt und nicht zum Reden aufgelegt. Dann ist dieser Typ aufgetaucht. Irgendetwas geht da vor.«

»Okay, wo sind sie?«

»Ich bin einem aus Josephines Crew bis in die Bar gefolgt. Ich würde sagen, dort sind sie jetzt.«

Ich nickte. »In diesem Raum gibt es zwei Eingänge«, sagte ich, weil ich mich wieder an die Szene erinnerte, die sich abgespielt hatte, als wir von Irin zurückkamen. »Durch welchen ist er gegangen?«

»Durch den bei den Aufzügen.«

»Okay, dann gehen wir durch den anderen – den werden sie dann hoffentlich nicht so gut beobachten.«

»Schön, wieder mit dir zu arbeiten, Eden. Gestern hast du übrigens echt was verpasst, der Abend war der Knaller. Wir haben Zoe so betrunken gemacht, dass ich sie fast dazu überreden konnte, nackt an Josephines Tür zu klopfen und dann wegzurennen.«

Ich lächelte, als ich bemerkte, dass er zwinkerte. »Sorry, dass ich in letzter Zeit so zickig war.«

»Schon okay. Du bist halt ein Mädchen, das verstehe ich schon«, sagte er lachend.

Ich gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter.

»Wie ich sehe, kannst du immer noch nicht die Finger von mir lassen!«

»Ja. Ich weiß gar nicht, wie ich die Tage durchstehen soll.« Ich tat, als würde ich in Ohnmacht fallen.

So stichelten wir weiter und ließen etwas Dampf ab, bis wir unten angelangt waren. Mir wurde klar, wie sehr ich es vermisst hatte, mit Spence abzuhängen. Abgesehen von Steph war er die einzige Person, die zu meinem Leben keine zusätzlichen Komplikationen hinzufügte. Nur ein Freund.

Der mich hin und wieder vielleicht ein wenig in Schwierigkeiten bringt

Ein Gedanke, der mich nur noch mehr zum Lächeln brachte.

Wir hatten recht. Die andere Tür zur Bar war noch immer offen, und alle Grigori, die drinnen waren, saßen am anderen Ende des Raumes um einen Tisch herum. Aber Spence und ich konnten ganz gut lauschen.

Ich zählte fünf Grigori. Josephine, zwei ihrer Ninjas, die mit im Flugzeug gewesen waren – ich hatte mich bisher noch nicht nach ihren Namen erkundigt –, jemand, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, und Lincoln. Sie sprachen über den Tisch hinweg miteinander, aber ich konnte noch zusätzliche Stimmen hören und bemerkte eine Freisprecheinrichtung in der Mitte des Tisches. Sie hatten eine Telefonkonferenz.

»Wir müssen uns über akzeptable Verluste unterhalten«, sagte Josephine sachlich.

Meine Augen wurden schmal, als ich mich nach Spence umdrehte. Er zog nur die Augenbrauen nach oben, als wollte er sagen: »Na ja, das ist halt Josephine.«

»Es ist noch zu früh, um über akzeptable Verluste zu sprechen!«, sagte Lincoln, und obwohl ich seine Überzeugung bemerkte, hörte ich auch seine Abgespanntheit heraus. Er war erschöpft. »Wir sollten uns darauf konzentrieren, diese Situation zu entschärfen. Wir können uns für jede Phase dieses Prozesses eine Reihe von Plänen überlegen, auf die wir uns konzentrieren sollten.«

»Und welchen Plan würdest du vorschlagen, Lincoln Wood?«, fragte Josephine herablassend. Ich hatte große Lust, hineinzuplatzen und ihr meine Faust ins Gesicht zu rammen.

Lincoln wandte sich an den Mann, den ich nicht kannte. Ich sah ihn zum ersten Mal richtig, als er sich zur Seite lehnte und gelangweilt das Kinn in die Hand stützte. Hätte nur noch gefehlt, dass er gähnte. Seine schwarze Jeans und sein T-Shirt waren verwaschen. Er hatte eine lange Lederjacke dabei, die über seiner Stuhllehne hing. Fast hätte ich verächtlich geschnaubt – wir befanden uns ja wohl kaum im richtigen Klima für Lederjacken. Aber dann erhaschte ich einen Blick auf das, was sie verbarg. Der Mann hatte mehr Waffen bei sich, als ich je eine einzige Person hatte tragen sehen – in der Jacke waren mehr als ein Dutzend silberner Klingen festgeschnallt.

Waren das alles Grigori-Klingen?

Der Fremde sah Lincoln aus dunklen Augen an. Er hatte so markante Wangenknochen, dass er aussah, als könnte er mal etwas zu essen vertragen, und sein Unterkiefer gehörte dringend rasiert. Sein Haar war extrem kurz, und ich konnte die Narben sehen, die wie eine Landkarte über seine Kopfhaut verliefen. Ich schluckte schwer. Ich hatte zwar auch eine Narbe am Handgelenk, aber im Allgemeinen bekamen Grigori keine Narben. Was immer diese Narben verursacht hatte – es musste geschehen sein, bevor er ein Grigori wurde, bevor er siebzehn war.

»Na, das wird ja großartig werden«, sagte er und schaute Lincoln an, während er seine Füße unter dem Tisch von sich streckte. »Dann lass mal hören.«

»Du hast Leute hier in der Gegend. Ruf sie. Schaff sie hierher.«

»Das kannst du dir abschminken, Mann.«

»Gray, du und ich wissen beide, dass du Glück gehabt hast, dass wir genau im richtigen Moment aufgetaucht sind. Du hast keine Erlaubnis, auf dieser Insel zu sein, und keine Chance, wieder von ihr herunterzukommen, ohne dass dich der Hüter entdeckt. Es grenzt schon an ein Wunder, dass du überhaupt so lange überlebt hast. Deshalb bist du ja auch bei uns angekrochen gekommen. Wie kam es, dass du vor über einem Monat hier gestrandet bist?«

»Jemandes kranke Vorstellung von einem Scherz.« Gray lächelte kalt. »Ich bin keiner von euren Fußsoldaten. Das habe ich vor langer Zeit so beschlossen. Ich stehe dir oder eurem dämlichen Rat nicht Rede und Antwort.«

»Gut«, sagte Lincoln scharf. »Dann geh jetzt. Aber wir nehmen dich nicht mit von der Insel, wenn wir gehen, und da der Hüter und ich jetzt so dicke Freunde sind, werde ich dafür sorgen, dass er weiß, wo er dich finden kann.«

»Himmel, du verlierst wohl keine Zeit mit Verhandlungen, was?«

»Uns läuft die Zeit davon«, fauchte Lincoln. »Wie viele kannst du bis morgen zusammentrommeln?«

Gray seufzte. »Ein paar. Einiges mehr, wenn ihr mir ein paar Tage Zeit gebt.«

Lincoln wandte sich wieder an Josephine, aus seinem Gesicht sprach stählerne Entschlossenheit. »Mit Abtrünnigen und Akademiemitgliedern sollten wir es dann von der Anzahl her mit ihnen aufnehmen können.«

»Und wie lautete noch mal dein Plan?«, erwiderte Josephine, wobei sie Desinteresse heuchelte.

Ich war mir sicher, ich war nicht die Einzige, der aufgefallen war, dass Lincoln gerade in die Rolle des Anführers geschlüpft war. Eine Welle des Stolzes überkam mich, aber die Wut war noch nicht verraucht. Er hielt dieses Meeting hinter meinem Rücken ab. Bestimmt war ich doch Teil einer dieser möglichen Pläne, wenn es darum ging, Phoenix aufzuhalten?

Lincoln schritt selbstbewusst durch den Raum, aber ich merkte, wie sehr er sich anstrengen musste. Er machte gerade den Mund auf, um weiterzumachen, hielt aber mitten in einem Schritt an. Ein wütender Ausdruck huschte – nur eine Sekunde lang – über sein Gesicht, bevor er wieder seine vorherige Haltung einnahm.

»Entschuldigt bitte«, sagte er zu der Gruppe und zog sein Handy aus der Tasche. »Ich muss einen Anruf annehmen.« Er ging zur anderen Tür hinaus.

Fragend sah ich Spence an, der mit den Schultern zuckte. Ich hatte Lincolns Handy gar nicht klingeln hören.

Wir blieben, wo wir waren, und lauschten, während Josephine fortfuhr. »Er ist weg. Es gibt hier zu viele Unbekannte, um irgendetwas sicher sagen zu können, Drenson. Griffin hat sein Team immer zusammengehalten, sie werden ihm treu sein bis zum Ende. Er kommt morgen zurück, wenn nicht schon heute Abend, und wir haben keine neuen Informationen über das Mädchen, außer dass die Begegnung mit dem Hüter erfolgreich verlaufen ist – die beiden sind tatsächlich seelenverwandt. Das hilft uns aber überhaupt nicht weiter.«

Während Josephine sprach, ließ sie ihre Blicke prüfend über Gray wandern, der kein Interesse an ihrem Gespräch zeigte. Ihr letzter Blick – und seine Botschaft – kam jedoch trotzdem deutlich an: Er würde kein Wort davon wiederholen.

»Nun, Lincoln scheint einen Plan zu haben. Lass uns zuerst das Chaos, das sie angerichtet haben, überstehen, und dann kümmern wir uns um das Mädchen«, sagte die männliche Stimme über Lautsprecher.

»Hm«, überlegte Josephine. »Niemand kennt ihre Kraft, und die, die eine Vorstellung davon haben, geben sich zugeknöpft. Es ist nur eine Frage der Zeit – wir können es uns nicht leisten, es zu lange aufzuschieben.«

»Nein«, stimmte er zu.

Eine Hand umklammerte meinen Oberarm und wirbelte mich herum. Lincoln – ein sehr, sehr zorniger Lincoln – klappte seine andere Hand über meinen Mund, bevor ich etwas sagen konnte. Spence sprang auf.

»Pst!«, sagte Lincoln lautlos.

Wir nickten beide und ließen uns von ihm ins Treppenhaus schleifen.

»Was macht ihr da?«

»Ich … Ich … Sie haben über mich geredet.«

Sein Blick schoss drohend in Richtung Bar.

»Violet, du darfst nicht hier sein«, flüsterte er eindringlich. Und dann, als hätte er soeben etwas beschlossen, zerrte er mich auf die Treppe zu.

»Hey, Linc, komm schon, Mann, wir wollen doch nur wissen, was los ist«, versuchte es Spence, aber es war aussichtslos: Lincoln schäumte vor Wut.

»Spence«, knurrte er, wobei er meinen Arm nicht losließ. »Ich soll wohl auch noch dankbar sein, dass du dich nicht durch eine Blendung unsichtbar machst und einfach hereinspaziert kommst. Geh spazieren.«

Genau das hätten wir besser getan.

Spence gab nicht klein bei.

Gut für ihn.

»Eden?«, fragte er, und ich wusste es sehr zu schätzen, dass er mich entscheiden ließ. Die meisten Typen übernahmen einfach das Kommando und kehrten den Macho heraus.

Ich sah Lincoln an, der sich wohl nicht so schnell wieder beruhigen würde.

»Schon gut. Ich komme später nach.«

Spence zögerte einen Augenblick, dann seufzte er. »Und nur, weil ich dich kenne, Mann«, sagte er zu Lincoln. »Aber …«, er deutete auf die Hand, die noch immer meinen Arm umklammerte, »immer hübsch langsam.« Und damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging auf die Foyertür zu.

Lincolns Griff lockerte sich sofort, aber er ließ mich nicht los. Stattdessen führte er mich die Treppe hinauf und zu meinem Zimmer.

»Schlüssel«, verlangte er, er blieb vor meiner Tür stehen und streckte, ohne mich anzusehen, die Hand aus. Ich zog den Schlüssel heraus und gab ihn ihm.

Er schloss die Tür auf und zerrte mich hinein.

»Bleib hier drin. In einer Stunde gehen wir zum Vulkan. Bis dahin verlässt du nicht das Zimmer. Schaffst du das?«

»Du kannst mich nicht einfach so herumkommandieren, Lincoln!«, sagte ich und riss mich von ihm los.

»Doch, das kann ich. Griffin hat mir die Verantwortung übertragen. Im Moment musst du akzeptieren, dass es Leute gibt, die mehr wissen als du, mehr Erfahrung haben als du und gute Gründe haben könnten, dich in bestimmte Dinge nicht einzuweihen.«

»Was? Du willst also, dass ich so tue, als hätte ich nicht gerade gehört, dass du eine Art Armee aufstellen willst? Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«

»Violet, ich habe dich gerade dabei ertappt, wie du ein privates Meeting belauscht hast. Wenn du nicht wie ein Kind behandelt werden willst …«, er presste einen Augenblick lang den Kiefer zusammen und wandte seinen Blick von mir ab. »Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen.«

Ich war sprachlos. So hatte er noch nie zuvor mit mir gesprochen. Lincoln war verständnisvoll, er bezog mich in Dinge mit ein, ermutigte mich, meine Meinung zu sagen. Er hatte mir noch nie zuvor gesagt, dass ich wegbleiben soll, selbst wenn es bedeutete, dass es gefährlich für mich sein könnte. Und er hatte mich noch nie als Kind bezeichnet. Es war fast, als hätte er absichtlich das gesagt, von dem er wusste, dass es mich am meisten aufregen würde.

Er ging zurück zur Tür und drehte sich nicht zu mir um, als er stehen blieb und sagte: »Bleib einfach in deinem Zimmer … Bitte.«

Ich wollte ihm sagen, dass er sich seine guten Ratschläge sonst wohin stecken könnte. Ich wollte mich wehren, für mich eintreten, aber ich war wie gelähmt, sodass ich nichts herausbrachte außer einem kleinlauten »Ja«, das von meinen Lippen fiel.

Nachdem ich ein paar Minuten im Zimmer auf und ab gegangen war, ließ ich mich aufs Bett fallen und zog mir ein Kissen über den Kopf. Ich hatte eine Stunde Zeit, bis wir uns unten treffen würden.

In dem Moment, in dem ich aufhörte, wegen Lincoln vor Wut zu kochen, und meine Augen schloss, um endlich ein wenig Schlaf zu bekommen, spürte ich natürlich, wie sich der Raum veränderte, als hätte er sich vom Boden losgelöst. Ich war so erschöpft, mein Körper war so träge, dass er sich nicht mehr rühren wollte. Dieses Mal war es zwar einfacher für mich, den Bann zu brechen, aber es war auch körperlich anstrengend. Ich hatte einfach nicht die Energie, was nicht gut war, wenn man bedachte, dass ich bereits Besuch von Uri bekommen hatte. Es musste Nox sein, der da gerade kam und meine Realität verzerrte, um Platz zu schaffen für seine.

Ich schob das Kissen von meinem Gesicht und klemmte es unter meinen Kopf. Okay, das war ein Schachzug, der nicht gerade zur Verteidigung taugte, aber immerhin war es eine Verbesserung.

Dieses Mal rieselte der Sand wasserfallartig vom oberen Teil der Wände herunter, bis Nox erschien und sich neben Stephs Bett stellte.

Eigentlich sah er aus wie immer – aber etwas war anders. Wie immer war er aalglatt – er wirkte lässig und einladend, aber immer schien etwas dahinterzustecken, immer schien er alles so hinzudrehen, wie es ihm passte. Und dann seine Kleidung. Anders als Uri genoss er die materiellen Aspekte der Menschheit, und heute präsentierte er sich in einer schmalen schwarzen Tunika, bodenlang und tailliert, mit hochgestelltem Kragen.

Bitte. Ich verdrehte die Augen.

»Wie in Matrix, findest du nicht auch?«, fragte er. Er kam nicht näher, sondern legte mir gegenüber den gleichen Widerwillen an den Tag wie Uri.

Ich fragte mich flüchtig, was er wohl machen würde, wenn ich ihn anniesen würde. Wahrscheinlich schreiend davonlaufen.

»Wenn du mir jetzt eine Pille anbieten willst, die mich in Unwissenheit leben lässt – ich nehme sie.«

Das brachte mir ein Lächeln ein, wenn auch kein besonders warmherziges.

»Ich bin müde, Nox. Ich bin mir sicher, du hast mir etwas total Wichtiges mitzuteilen, aber ehrlich gesagt ist mir das egal.«

»Du siehst tatsächlich fertig aus. Sogar für deine Verhältnisse.«

Ich stützte mich auf die Ellbogen. Er betrachtete Stephs Bett. »Weißt du was? Du nervst.«

Nicht gerade die stärkste Retourkutsche aller Zeiten.

Ich konnte die gleichen Bewegungen im Hintergrund sehen wie immer, wenn er oder Uri zu Besuch kamen. Sie waren ganz zart – durchsichtige Formen wie Quallen, aber wenn ich meinen Blick auf die Stelle richtete, schienen sie sich aufzulösen und woanders neu zu bilden, wobei sie sich noch immer bewegten, als würden sie versuchen, irgendwohin zu gehen.

Suchend.

Nox beobachtete mich und folgte meinem Blick. »Du siehst sie?«, fragte er, wobei er versuchte, seine Neugier zu verbergen.

Ich nickte.

»Rufen sie dich?«

»Ich … Ich weiß nicht.« Und doch fühlte ich mich deutlich zu ihnen hingezogen. »Was ist das?«

»Wenn es sein soll, dann wirst du es wissen.«

»Wie schon gesagt, du nervst.«

Er zog eine Augenbraue nach oben und bewegte sich dann auf Stephs Bett zu. Ich ließ mich auf meinem Bett zurückfallen, während er sich auf das andere sinken ließ. Er legte sich auf den Rücken und positionierte sich sorgfältig in der Mitte.

Komischer Kauz.

»Also, das hat ja zuvor noch niemand zu mir gesagt«, sagte er, wobei er damit beschäftigt war, die Sprungfedern zu testen.

»Na ja, tust du aber. Eigentlich ihr alle – Engel nerven im Allgemeinen. Ohne euch wären wir besser dran.«

Er lachte leichthin, aber es war eine deutliche Warnung. Ich spürte seine Anwesenheit Furcht einflößend nah bei mir, trotz der Tatsache, dass er sich keinen Zentimeter bewegt hatte.

»Ohne uns wärt ihr nicht mehr als niedere Tiere. Nur durch uns erhält euer trüber Verstand die Fähigkeit zu höherer Intelligenz. Ohne uns würdet ihr immer noch auf Bäumen leben, bis euch größere Lebewesen, die ein stärkeres Revierverhalten haben, auslöschen würden.«

Darauf fiel mir keine Erwiderung ein, und von der Art her, wie er das sagte, war ich mir ziemlich sicher, dass eine Erwiderung auch nicht willkommen gewesen wäre.

Ich beließ es bei: »Würdest du jetzt bitte vom Bett meiner besten Freundin aufstehen?«

»Hat dir mein Geschenk gefallen?«, sagte er höhnisch, ohne sich zu rühren.

»Wie bitte?«

»Oh, ich weiß, es ist ein Jammer, dass ich nicht dabei sein konnte. Uri hat dieses Mal darauf bestanden, den ersten Besuch abzustatten, deshalb habe ich die Gelegenheit verpasst, mit dir zu reden, wenn du das Kleid anhast, aber ich habe zugeschaut. Ich glaube, ich habe dadurch eine beträchtliche Verbesserung erreicht. Hättest du dieses Mädchen wirklich angegriffen?«, fragte er lächelnd.

Das Kleid. Das war er.

»Wie …? Josephine hat das Outfit ausgesucht.«

»Ja, aber Zufall ist meine Spezialität. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass es nur Zufall war, dass das Kleid, das du in der Gegenwart der Finsternis bewundert hast, nicht zu dir kommen und dir seine Gunst erweisen würde?«

»Ich …« Ich setzte mich auf. Er zog die Augenbrauen nach oben und beobachtete, wie leicht ich mich inzwischen in dieser verzerrten Wirklichkeit bewegen konnte. »Was soll das heißen?«, fragte ich. Panik stieg in mir auf. »Warum sollte mich die Finsternis begünstigen?«

Er kicherte. »Fürchte dich nicht.« Er setzte sich ebenfalls auf. »Bemerkenswert bequem«, sagte er und bestaunte das Bett. Ich starrte ihn an, und er winkte ab, gelangweilt davon, Erklärungen abzugeben. »Du bist so leicht zu beeinflussen, Violet. Wirklich, deshalb ist es auch so unterhaltsam, mit dir zu arbeiten. Vor allem, wenn ich das Vergnügen habe, mich zu fragen, wo dich dein Wille als Nächstes hinträgt. Wie war es eigentlich mit Phoenix?«

»Denkst du, ich sollte mit ihm gehen?«, flüsterte ich, weil ich mich vor der Antwort fürchtete.

Dies schien Nox mehr als alles andere zu erheitern.

»Die bessere Frage ist – wenn du gedacht hast, ich will, dass du das tust, hättest du dann das Gegenteil gemacht, einfach nur so aus Prinzip?«

»Raus hier!« Ich hasste die Art und Weise, wie er alles verdrehte, wie er mir Schuldgefühle einflößte, wenn ich überhaupt nichts Falsches getan hatte. Trotzdem brachten seine Worte mich zum Nachdenken. Ich wollte weder die Gunst der Finsternis noch wollte ich direkt in seine Fallen tappen.

»Gewiss.« Mit einer fließenden, eleganten Bewegung stand er auf, doch dabei platzte einer der vielen kleinen Knöpfe vorne an seiner Jacke ab. Instinktiv fing ich ihn, bevor er mir ins Gesicht sprang. Nox schaute zu, verblüfft über die neue Unvollkommenheit seines Outfits, aber er erholte sich schnell wieder davon. »Bevor ich gehe, wollte ich noch wissen … Wenn du etwas bekommen könntest, wonach du dich sehr verzehrst, etwas, was dir verweigert wird … Wenn du das bekommen könntest – würdest du dann in Erwägung ziehen, die Tore des Tartarus selbst zu öffnen?«

»Nein.«

Er lächelte wissend und ging. Der Sand schmolz wieder zurück in die Wand, und der Abdruck, den sein Gewicht auf Stephs Bett hinterlassen hatte, verschwand vollständig.

Ich öffnete meine Hand. Wie die Sandkörner war dieses Mal der Knopf zurückgeblieben.

Ich kann Dinge behalten.

Übelkeit unterbrach jeden weiteren Gedanken. Ich drehte mich um und schloss kurz die Augen, dann wälzte ich mich vom Bett. Gerade noch rechtzeitig schaffte ich es ins Bad. Die Kombination aus Erschöpfung und dem Überqueren der Grenzen zwischen den Reichen bekam meinem Magen nicht gut, und ich hatte das Gefühl, dass nichts mehr von mir übrig geblieben war, nachdem ich zum dritten Mal den Kopf über die Kloschüssel gehängt hatte.

Endlich kroch ich zurück ins Bett. Dabei fragte ich mich, ob ich jemandem von diesen jenseitigen Besuchern erzählen sollte. Aber dann fiel mir wieder ein, wie Lincoln mit mir gesprochen hatte, wie er mir befohlen hatte, an Ort und Stelle zu bleiben, und da hob sich mir wieder der Magen, deshalb legte ich den Kopf auf das Kissen, kickte meine Schuhe von mir und beschloss boshaft, es jemand anderem zu sagen.

Später.