Die a-mortale Gesellschaft

Wir haben die Möglichkeit, das Lebensende, die reale Begegnung mit Tod und Trauer, aus dem Alltag auszublenden und auf Distanz zu halten. Aber wenn wir uns entscheiden, uns mit Tod und Trauer befassen, gewinnen wir für das Leben: einen Rahmen, der im individuellen wie gesellschaftlichen Leben Auskunft gibt über die Werte, denen wir folgen wollen. Ein solcher Umgang mit Sterben, Tod und Trauer schärft unser Bewusstsein für die Endlichkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens – und stärkt so die Fähigkeit, Veränderungen – die immer auch Verlusterfahrungen sind – zu bewältigen. Lebenskrisen wie Trennung oder Arbeitsplatzverlust haben viele Gemeinsamkeiten mit dem, was Trauernde erleben und bewältigen müssen. Sie erfordern den Abschied von einem Leben, wie es war, die Verarbeitung einer Verlusterfahrung und ihre Integration in ein »Leben danach«.

Wenn die eigene Endlichkeit aus dem Alltagsleben ausgeblendet wird, fehlt die Erfahrung der Grenzen, die der Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und Planbarkeit des Lebens gesetzt sind. Wenn heute von Grenzen die Rede ist, geht es fast immer darum, sie zu überschreiten, niederzureißen und zu überwinden. Grenzenloses Wachstum in einer grenzenlosen Wirtschaft, grenzenlose Informationen, grenzenloser medizinischer Fortschritt vermitteln den Eindruck einer Welt unendlicher Möglichkeiten. Dazu passt der Tod nicht.

Es sagt sich so leicht: Der Tod gehört zum Leben. Aber inmitten der täglichen Geschäftigkeit mit ihren Terminen und To-do-Listen, Freizeitvergnügen und Ärgerlichkeiten hat dieser Gedanke selten die Chance, ins Bewusstsein vorzudringen. »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen«, heißt es in einem Kirchenlied. Darunter können wir uns noch vorstellen, dass wir morgens von der Straßenbahn überfahren werden könnten oder die Diagnose einer unheilbaren Krankheit von einem Tag auf den anderen alle Lebenspläne über den Haufen wirft. Der Tod gehört, für die meisten, eben nicht zum Leben. Er ist ein dunkler Schatten, dem wir ausweichen, so lange und so gut wir können.

Was wäre, wenn wir ewig leben würden und es die Grenze, die der Tod setzt, nicht (mehr) gäbe? Wir müssten uns nicht entscheiden. Wir könnten jede Entscheidung revidieren.

Anders gesagt: Es ist die Endlichkeit des Lebens, die uns zwingt abzuwägen. Der Tod schafft die Werte, nach denen Menschen ihr Leben führen und ihre Erfahrungen bewerten. Was ist wichtig, was ist weniger wichtig? Was passiert, wenn wir darüber nachdenken, dass wir irgendwann sterben werden? Oder noch schärfer formuliert: Wenn wir wüssten, dass wir nur noch zwei Monate oder fünf Jahre zu leben hätten? Wir würden sehr wahrscheinlich anfangen, das zu tun, was uns wichtig ist, und die Dinge zu ignorieren, von denen uns andere gesagt haben, dass wir sie tun sollen. Die Begegnung mit dem Tod setzt andere Prioritäten, weil sie an die begrenzte Zeit erinnert, in der Handeln möglich ist.

Wer seine Grenzen wahrnimmt, kann sie als Orientierung nutzen. Aus den Antworten auf die Endlichkeit des Lebens ergeben sich daher die Maßstäbe des individuellen Handelns. Diese wiederum prägen die unzähligen Entscheidungen, die wir täglich zu treffen haben und die bestimmen, wie wir unser Leben führen und womit wir es füllen.

Wir definieren uns über das, was wir wählen. Bekanntlich ist es der Platonische Sokrates, der die Frage, »wie man leben soll«, erstmals ausdrücklich für sich selber gestellt und es abgelehnt hat, darauf eine generelle, unterschiedslos auf alle Menschen zutreffende Antwort zu geben. Es ist der individuelle Mensch, der nach seinem Weg im Leben sucht. Wäre es anders, müsste von »Selbst« und von »Individualität« gar keine Rede sein. Es ist keine Selbstverständlichkeit, den eigenen Werten zu folgen. Akteure in einer Gesellschaft, so die Theorie, sind immer bestrebt, ihr Verhalten den Normen und Erwartungen ihres sozialen und kulturellen Umfeldes anzupassen. Wir folgen deshalb selten unseren eigenen Wegen, sondern stattdessen den Mustern, denen eben alle anderen auch folgen. Das spart Zeit, Nerven und die Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen. Es ist aber nicht immer von Vorteil

Die Vervielfachung von Angeboten, die Pluralisierung von Werten vergrößern die Wahlfreiheit und damit die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, der Individualität. Im Gegenzug erhöhen sie die Anforderungen an die Fähigkeit des Einzelnen, Werte zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln. Der britische Philosoph Isaiah Berlin hielt vor mehr als einem halben Jahrhundert seine bahnbrechende Antrittsvorlesung in Oxford über die wichtige Unterscheidung zwischen »negativer Freiheit« und »positiver Freiheit«. Negative Freiheit ist für ihn »Freiheit von« Zwang, Freiheit von den Vorschriften anderer. Positive Freiheit ist »Freiheit zu« der Nutzung von Möglichkeiten und Chancen, die Freiheit, unser Leben zu gestalten, ihm Bedeutung und Sinn zu geben. Wenn die Zwänge, die in uns den Wunsch nach der »Freiheit von« wecken, sehr groß sind, lässt sich die »Freiheit zu« nicht verwirklichen. Jede Wahl, die wir treffen, ist ein Zeugnis für unsere Autonomie, für unser Gefühl der Selbstbestimmung. Fast jeder Politik-, Sozial- oder Moralphilosoph in der abendländischen Tradition seit Platon hat solcher Autonomie eine besondere Bedeutung eingeräumt. Und mit jeder neuen Ausweitung der Wahlmöglichkeiten erhalten wir noch mehr Gelegenheit, unsere Autonomie auszuüben und damit unseren Charakter unter Beweis zu stellen. Wir können heute im Vergleich zu früheren Generationen weitaus freier über unser Leben bestimmen, wissen aber oft nicht mehr genau, was für eine Art Leben wir führen wollen.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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