Selbstbestimmung am Ende des Lebens

Solange der Tod »kam«, musste sich keiner rechtfertigen. So wie die Geburt immer häufiger zu einem im Voraus geplanten Zeitpunkt eingeleitet wird, wird auch das Sterben immer mehr das Ergebnis einer Handlung, über die Experten, Betroffene und Angehörige entscheiden.

Das Individuum, das sich von allen Fesseln der Tradition befreit hat, ringt nun mit den Entscheidungen, die es selbst zu treffen hat. So schreibt der Erlanger Bioethiker Jochen Vollmann: »Die zahlenmäßige Zunahme von alleinstehenden und älter werdenden Menschen in einer dynamischen, individualisierten und wertepluralistischen Gesellschaft macht eine rechtzeitige Entscheidungsfindung und Planung für den Fall von Krankheit und Sterben erforderlich … Vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen im Gesundheitswesen wird auch eine medizinisch und ethisch begründete Prioritätensetzung zwischen kurativer und palliativer Medizin unvermeidbar sein. Angesichts hoher Krankenhausbehandlungskosten am Lebensende wird insbesondere bei hochbetagten Patienten zu entscheiden sein, ob diese Ressourcen nicht besser in eine gemeindenahe palliative Medizin investiert werden sollen.«

Die Entscheidungsfragen und Wertedebatten, die aus den Fortschritten der Medizin erwachsen, treten besonders am Lebensende hervor. Was soll mit komatösen Patienten geschehen? Wie viel kurative Medizin ist sinnvoll und human? Das 21. Jahrhundert antwortet auf die Todesängste der Menschen nicht mehr mit Philosophie, auch kaum noch mit Religion, sondern zuerst mit Institutionalisierung. Die Institutionalisierung des Sterbens kann auch begriffen werden als der Versuch, die Schrecken des Todes zu domestizieren.

Je deutlicher christliche und aufklärerische Fundamente wegbrechen, desto heikler werden ethische Fragen. Aus welchen Quellen sollen sie beantwortet werden? Kann der säkulare Staat moralische Ressourcen aus sich heraus entwickeln? Noch scheint es einen gesicherten europäischen Konsens darüber zu geben, dass »nutzlos« gewordene Menschen nicht entsorgt werden. Ist dieser Konsens den christlichen und aufklärerischen Überbleibseln in den europäischen Gesellschaften zu verdanken? Die Euthanasiefrage ist nicht nur eine praktische oder juristische oder medizinische Frage. Sie ist zuerst eine ethische Frage in einer Lebenswelt, der die Grundlagen ihrer Ethik weitgehend abhanden gekommen sind. Vielleicht ist die Euthanasiedebatte auch mit der Chance verbunden, die Bindung an abendländische Traditionen als wichtig wahrzunehmen, weil sonst einer Ethik der Nützlichkeit nichts mehr entgegenzusetzen ist. Es sind große Fragen, die sich uns in der Diskussion um Sterben und Tod stellen. In dem Augenblick, in dem der Tod machbar geworden ist, kommen neue ethische Fragen auf uns zu, Fragen nach Werten, individuellen Freiräumen und gesellschaftlich notwendigen Grenzen.

Die Selbstbestimmung, die im Leben zu den höchsten Werten zählt, ist am Lebensende zu einer Streitfrage geworden: Wer soll, wer darf, wer kann entscheiden, ob und unter welchen Umständen ein Mensch in medizinischer Obhut sterben darf? Bis vor wenigen Jahren galt für Ärzte offiziell eine klare Linie: Selbst wenn ein sterbenskranker Patient den Tod herbeisehnte, kam eine Unterstützung des Arztes nicht in Frage – allenfalls eine Sterbebegleitung. Von einer solch klaren Linie kann inzwischen nicht mehr die Rede sein. Im Jahr 2009 wurde das Gesetz zur Patientenverfügung verabschiedet, das die Selbstbestimmung Kranker am Ende ihres Lebens stärkt. Der Wille des Patienten ist verbindlich, bis zum Lebensende. Was jemand festlegt für den Fall, dass er seinen Willen nicht mehr äußern kann, das muss sein Arzt auch beachten. Diese Willensbekundung muss weder notariell beglaubigt sein noch von einem Mediziner bestätigt werden.

Im Juni 2010 sprach der Bundesgerichtshof den Arzt und Anwalt Wolfgang Putz frei: Er hatte der Tochter einer todkranken Frau die Empfehlung gegeben, die Magensonde ihrer Mutter zu durchtrennen. Eine Behandlung abzubrechen sei gerechtfertigt, begründete das Gericht seine Entscheidung, wenn das dem Willen des Patienten entspreche. Die veränderte Auffassung zu ärztlichen Pflichten und ärztlichem Ermessen zeichnete sich ab und wurde vom Bundesärztekammerpräsidenten Jörg-Dietrich Hoppe bestätigt: »Wenn ein Arzt es ethisch mit sich vereinbaren kann, beim Suizid zu helfen, dann kann er das auch unter heutigen Bedingungen schon tun.«

Doch in der Neuordnung des Standesrechts wurde im Juni 2011 die Rückkehr zu klaren Verhältnissen ohne Ermessensspielräume festgelegt und die ärztliche Möglichkeit zur Begleitung im Suizid ausgeschlossen. Verstößt ein Arzt dagegen und ist bereit, einem Todkranken seinen Sterbewunsch zu erfüllen, droht ihm der Verlust der Approbation. Die Neuformulierung soll Klarheit schaffen, was ärztliches Handeln darf und nicht darf. »Das Gewissen der Ärzte soll gleichgeschaltet werden«, kritisiert Michael de Ridder, ein prominenter Befürworter des ärztlich assistierten Suizids in gut begründeten Einzelfällen. Auch die Palliativmedizin kann nicht alle Schmerzen lindern.

In Deutschland sind zwischen 60 und 80 Prozent der Bürger der Ansicht, dass es Ärzten erlaubt sein sollte, Schwerstkranken auf Wunsch ein tödliches Mittel bereitzustellen.

Es sind Grenzfragen, die hier verhandelt werden. Wo liegen die Grenzen, innerhalb derer Menschen – Ärzte – ihrem Gewissen folgen dürfen, sollen? Wer Sterben als einen natürlichen Prozess begreift, kann auch die Aufgabe des Arztes so begreifen, dass er diesen Prozess nicht mit allen technischen Mitteln aufhalten darf. Es sind keine Fragen, die sich allgemein, abstrakt entscheiden lassen – auch nicht im Verbot; jeder Einzelfall erfordert eine eigene Einschätzung. Die sollte von demjenigen getroffen werden dürfen, um dessen Leben und um dessen Tod es geht.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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