Sich Zeit nehmen zum Trauern

Heute werden in Deutschland etwa 37 Prozent der Verstorbenen eingeäschert, in Japan sind es 99 Prozent. Selbstverständlich kann auch ein Urnengrab ein Ort der lebendigen Erinnerung sein, sofern es als Begräbnisstätte eines bestimmten Verstorbenen identifizierbar ist. Beinah ebenso wichtig, wie einen Ort der Begegnung zu haben, ist es, sich Zeit für das Trauern zu nehmen. Gerade das fällt den Menschen heute besonders schwer. Zeit, wer hat noch Zeit? Die gängige Erfahrung mit Zeit ist, dass sie fehlt. Zwar sind wir, gemessen an Lebensjahren, »reicher«, als Menschen es je zuvor waren. Keiner Generation vor uns war eine so lange Lebensspanne und so viel Freizeit beschert. Dennoch gibt mehr als ein Drittel aller Deutschen an, unter Zeitknappheit zu leiden. Wie nie zuvor ist unsere Gesellschaft heute besessen von der Idee, jede Minute zu nutzen. So beschleunigt sich der Takt des Lebens, oft bis an die Grenzen unserer Belastbarkeit. Erschreckend ist dies vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse aus der Neurobiologie: Das Gefühl, ständig unter Druck zu stehen, bedeutet Stress. Chronischer Stress kann das Gehirn dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen; er schadet der Gesundheit und mindert die Lebenserwartung.

Besonders heimtückisch ist die Hetze, wenn es um einzigartige, nicht wiederholbare Erfahrungen und Ereignisse geht wie den Tod eines nahen Angehörigen. Denn wie wir mit Zeit umgehen, hat großen Einfluss darauf, wie wir sie empfinden. »Zeit ist das Element, in dem wir existieren«, sagte einmal die amerikanische Dichterin Joyce Carol Oates. »Wir werden entweder von ihr dahin getragen oder ertrinken in ihr.« Obwohl die Zeit unser ganzes Dasein steuert, ist sie nicht die Zeit, die wir empfinden. Die innere Zeit ist unabhängig vom Lauf der mechanischen ebenso wie der biologischen Uhren. Das Bewusstsein erzeugt sich seine eigene Zeit – die innere Zeit. Sie ist gleichsam der Puls unserer Seele. An ihr messen wir alles, was wir wahrnehmen, denken, empfinden.

Weise in West und Ost legen uns ans Herz, die Aufmerksamkeit auf den Augenblick zu richten. »Wandelt in der Gegenwart Gottes«, riet Benedikt von Nursia seinen Mönchen. Der Weg zum Seelenheil liege darin, sich mit allen Sinnen und ungeteilt auf das einzulassen, was man gerade hört, sieht oder tut, schrieb Benedikt in seiner Ordensregel, der ältesten des Abendlandes. In der östlichen Tradition lautet die entsprechende Empfehlung: »Leben in Achtsamkeit.« Schon vor mehr als 2500 Jahren hat der Buddha diese Weisheit verkündet. Sich ganz der Gegenwart zuzuwenden, nannte er den vorletzten Schritt auf dem edlen achtfachen Pfad zur Erleuchtung. Die Weisen wussten, wie leicht gesagt und wie schwer getan das ist. Der vietnamesische Mönch und Dichter Thich Nhat Hanh schildert eine kleine Begebenheit: Als er einmal mit einem Freund unter einem Baum saß und Mandarinen aß, erzählte dieser von seinen Zukunftsplänen und stopfte sich währenddessen achtlos die Obststücke in den Mund. Ins Reden vertieft, schob er schon den nächsten Bissen nach, bevor er mit dem Kauen des vorigen begonnen hatte: »Es war so, als ob er überhaupt keine Mandarine gegessen hätte. Wenn er irgendetwas gegessen hatte, dann vielleicht seine Zukunftspläne.«

Indem wir unserer Zeit mehr Leben geben, geben wir auch dem Leben mehr Zeit. Das hängt mit den Gesetzen der Erinnerung zusammen. Vergangene Erfahrungen formen die Persönlichkeit; wir sind gewissermaßen aufgespulte Zeit. Doch an welcher Stelle entscheidet sich, ob ein Augenblick in unserer Erinnerung kristallisiert oder uns für immer entgleitet? Die zweite Stufe des Gedächtnisses passiert eine Information nur dann, wenn sie so wichtig erscheint, dass sie uns lange, intensiv und wiederholt beschäftigt. Nur in diesem Fall kann sie ins Langzeitgedächtnis gelangen. Alles andere wird gelöscht, damit sich im Kopf nicht zu viel unnützes Wissen ansammelt. Deshalb kann die Erinnerung kein fotografisches Abbild der Vergangenheit sein. Erinnerung ist nicht gespeicherte Gegenwart. Wenn eine Erfahrung Erinnerung wird, verwandelt sie sich. In der bewusst erlebten Erfahrung von Trauer verwandelt sich der Mensch, um den wir trauern, in einen »inneren Begleiter«.

In unserer von Arbeitseifer geprägten Gesellschaft gilt Zeitvergeudung als die schlimmste aller Sünden, wie der Soziologe Max Weber angemerkt hat. Der Sozialpsychologe Robert Levine weist auf die besondere Bedeutung hin, die fernöstliche Kulturen dem Raum zwischen Gegenständen und Tätigkeiten zumessen. Wo ein westlich sozialisierter Mensch nur sinnlose Leere empfindet, sehen Japaner »ma« – einen Raum »voll von Nichts«, von dem eine produktive Kraft ausgeht. Die spirituellen Schulen aller östlichen Kulturen haben aus solchen Konzepten praktische Empfehlungen abgeleitet. Der weiter oben schon zitierte Zen-Meister Thich Nhat Hanh formuliert es so: »Statt zu sagen: ›Sitz nicht einfach nur da; tu irgendetwas‹, sollten wir das Gegenteil fordern: ›Tu nicht einfach irgendetwas; sitz nur da.‹«

Erinnerungen formen die Persönlichkeit. Lebendig wird die Vergangenheit nur für den, der sich selbst als Akteur darin sieht. Die Autobiografie eines Menschen entsteht dadurch, dass ihm bewusst ist, unter welchen Umständen er diese oder jene Erfahrung gemacht hat. Wenn das Gehirn eine Erfahrung zum Speichern in ihre Teilinformationen zerlegt, merkt es sich Orte, Farben, Formen, Gefühle, Töne, Düfte, Geschmack. Die Zeit aber wird nicht kodiert. Ebenso wenig wie eine Uhr im Kopf existiert, führt das Gehirn einen Kalender.

Der Schriftsteller Marcel Proust hat dieses Phänomen so genau, so bildhaft und ausführlich beschrieben wie kein anderer. Am Ende seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erinnert sich der Erzähler an den Klang eines Glöckchens, das er einst als Kind in seinem Elternhaus hörte. Dann fällt ihm auf, dass er dieses Läuten »noch im Ohr hatte, diese Geräusche selbst, obwohl sie doch so weit in der Vergangenheit lagen. (...) Um diese Stimme möglichst aus großer Nähe zu hören, war ich gezwungen, tiefer in mich selbst hinabzusteigen. Also lag dieses Klingen noch immer in mir und zudem zwischen ihm und dem gegenwärtigen Augenblick die ganze, unendlich breit entfaltete Vergangenheit, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie in mir trug.« Mit Recht spricht Proust von den »vorübergegangenen und von uns doch nicht getrennten Jahren«. In der Begegnung mit Tod und Trauer machen wir die Erfahrung, dass die Bindung an andere mit deren Tod nicht endet. Die Toten sind in der individuellen und kollektiven Erinnerung Teil des Lebens.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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