Die Bedeutung von Totenritualen in der Geschichte

Nein, früher war nicht alles besser, auch das Sterben nicht. Doch es war vertraut und eingebettet in den Alltag und die Alltagserfahrung. Früher haben die meisten schon in ihrer Kindheit erlebt, dass der Großvater oder die Großmutter starb, eine Tante, ein Nachbar, Menschen, die Teil des Alltags waren. »So ist das eben, so ist der Lauf der Welt, das gehört dazu« – das sind die Sätze, die zu diesen Toden passen, sie sind selbstverständlich, aber vor allem sind sie nicht bedrohlich. Dieses »So ist der Lauf der Welt« war ein Aspekt des Alltags, in dem Erfahrungen mit Sterben und Trauer dazugehörten.

Fast zwei Jahrtausende lang – »von Homer bis Tolstoi« – blieb im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens, er wurde akzeptiert, und die letzte Lebensphase wurde häufig als Erfüllung empfunden. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Der Tod ist zu etwas Furchteinflößendem und Unfassbarem geworden, und er ist in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den »eigenen Tod« betrogen.

Dass der Mensch wider besseres Wissen seine Endlichkeit verdrängt, ist allerdings keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon in der Antike gab es Klagen darüber, dass Menschen ihre Sterblichkeit vergessen und in den Tag hineinleben, als ob es den Tod nicht gäbe. Und Montaigne bemerkte in Philosophieren heißt Sterben lernen, dass seine Zeitgenossen weniger philosophisch lebten, wenn es um Tod und Sterben ginge: »Der Notbehelf des gemeinen Volks besteht darin, nicht an ihn zu denken.« Gut achtzig Jahre später ergänzte Blaise Pascal in Fragment 168: »Da die Menschen unfähig waren, Tod, Elend, Ungewissheit zu überwinden, sind sie, um glücklich zu sein, übereingekommen, nicht daran zu denken.« Das aber sei ein elender Trost, der das Übel nicht kuriere, sondern es verberge.

Philippe Ariès beschreibt in seiner Geschichte des Todes als eine Konstante der Gesellschaften des 20. Jahrhunderts das »Verdrängen« des Todes. Der Tod ist zum Tabu geworden, man redet nicht mehr darüber. Er ereignet sich nicht mehr zu Hause, unter den Augen der Angehörigen und Freunde, sondern in der Einsamkeit des Krankenhauses. Die traditionellen Riten wie die »letzte Ölung« des Sterbenden werden durch eine diskrete, verweltlichte Zeremonie ersetzt. Öffentliches Trauertragen ist nicht mehr gebräuchlich. Die religiösen Darstellungen des Jenseits und des Seelenheils sind in Vergessenheit geraten. Der letzte Wille des Toten gilt der Verteilung seiner materiellen Güter, nicht der Sorge um seine Seele.

Im Lauf der Geschichte, sagt Ariès, hat sich die Einstellung zum Tod allmählich gewandelt. Etwa im 2. bis 3. Jahrhundert wurde die bis dahin in Europa gebräuchliche Feuerbestattung durch die Körperbestattung ersetzt, und zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert vollzog sich eine der wichtigsten Veränderungen in der Sozialgeschichte des Todes in der westlichen Welt: die Anordnung des Gemeindefriedhofs rund um die Kirche. Die Toten hielten so die Lebenden fest, und die meisten europäischen Landschaften sind davon immer noch geprägt. Kirche und Friedhof bilden den Mittelpunkt der Dörfer, um den sich die Wohnhäuser in konzentrischen Kreisen gruppieren.

Etwa um das 12. Jahrhundert fingen die Leute an, sich um den »eigenen Tod« Gedanken zu machen, darum, wie sie den Augenblick des Todes erleben würden und wie es ihrer Seele im Jenseits ergehen würde. Diese eng verbunden mit dem Christentum verbundene Phase der Beschäftigung mit dem »eigenen Tod« reichte vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution. Im Zuge der fortschreitenden Urbanisierung, Verweltlichung, Industrialisierung und Verbürgerlichung im 18. und 19. Jahrhundert trat der »Tod der anderen« in den Vordergrund. Gleichzeitig wurde dem Tod sein eigener Platz zugewiesen: der große öffentliche Friedhof – eine riesige Totenstadt –, der im 18. Jahrhundert in die Außenbezirke der Städte wandert, bevor die neuen Wohngebiete die Toten wieder einholten und einbezogen. Diese noch relativ neue Phase im Umgang mit dem Tod und den Toten verändert sich unter unseren Augen und macht einer Verdrängung des Todes und der Trauer Platz. Gräber werden nun diskret – und fast schon anonym – gestaltet: ein einfacher Stein aus Marmor, ein Name, zwei Daten, prunklos – ni fleur ni couronne, »weder Kranz noch Blumen«.

Über Jahrhunderte blieben in der Zeit des »gezähmten Todes« die essenziellen Aspekte bei der Durchführung des »Übergangsritus« des Todes die gleichen: die Begleitung der Sterbenden im Todeskampf, die religiösen Riten des christlichen »guten Todes«, der öffentliche Charakter der Bestattungsfeierlichkeiten sowie die periodische Erinnerung an den Verstorbenen im Rhythmus: Neun-Tage-Amt, Dreißig-Tage-Amt sowie Jahresgedächtnis als bis ins Kleinste geregelte zeitliche Struktur der »Trauerarbeit«. Die Hölle, der Glaube an Wiedergänger, die Begräbnisökonomie, die sich hieraus entwickelt hat, festigten die Macht der Kirche über die christliche Gesellschaft, indem die Priester zu unentbehrlichen Mittlern zwischen den Menschen und dem Jenseits wurden. Alles, was mit dem Tod zusammenhing, besaß einen entscheidenden Platz im Denken, in den Gebräuchen und auch in der ideologischen und materiellen Macht der Kirche. Der Tod ist nicht »der Schatten des Lebens«, sondern der immaterielle Horizont, der dem Leben Sinn verleiht.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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