Credo ergo sum

Es gibt weder Grund noch Anlass, diese Gefühle zu beurteilen oder zu bewerten. Trauer kann auch mit negativen Gefühlen – von Reue, Wut oder Enttäuschung beispielsweise – verbunden sein. Viele Menschen entdecken auf ihrem Trauerweg, dass sie vieles versäumt oder zu viel hingenommen haben, dass sie sich angepasst haben, anstatt zu ihrer eigenen Wahrnehmung und inneren Wahrheit zu stehen. Gerade solche Gefühle brauchen einen Raum, in dem sie erlaubt sind.

In der ersten Zeit der Erschütterung überdeckt der Schmerz alles andere. Gegen diesen Schmerz gibt es keine Erste Hilfe, die mit Worten zu beschreiben wäre – so klug sie sein mag. Es ist oft genug wiederholt worden: Die Philosophie hat noch keine Träne getrocknet. Wer Menschen in einer schweren Krise unterstützen will, hat nur einen großen Verbündeten: die Zeit. Trauer ist kein statischer Zustand, sondern ein (heilsamer) Prozess, der einen Verlust in die persönliche Lebensgeschichte einbindet. Dieser Verlauf ist nie eine gerade Linie, sondern ein Weg mit vielen Schleifen und Windungen.

Sehr greifbar und anschaulich wird dieser gewundene Weg in der Installation »Pfad der Sehnsucht«, die in meinem Haus in Bergisch Gladbach zu besichtigen ist. Sie beginnt mit der mehrfach gewundenen vergoldeten Linien-Skulptur aus Eisenblech von Knopp Ferro. Die Arbeit spiegelt den Verlauf des menschlichen Seins. Über Jahrhunderte sind wir zum Cogito, ergo sum, »Ich denke, also bin ich«, erzogen worden. Die gesamte Installation lädt den Betrachter ein, sich einem Credo, ergo sum, »Ich glaube, also bin ich«, zu öffnen. Deshalb verlässt er die Rationalitätsebene und steigt symbolisch ab auf eine emotionale Ebene.

Es ist unmöglich, einem Zurückbleibenden ein Konzept für seinen Trauerweg vorzugeben, aber es ist möglich, ihm ein Gespür zu vermitteln, dass er auch über den Tod hinaus von den »guten Mächten« derer, die er irdisch vermisst, begleitet wird. Der Weg in die »Zyklen der Stille« führt zu einer Glaswand. Hinter einem Schleier aus fließendem Wasser, das die stetige Veränderung allen Seins symbolisiert, steht ein Text von Nelly Sachs: »Alles beginnt mit der Sehnsucht«. Doch um dies zuzulassen und zu entdecken, muss der Betrachter erst den Tod der Person, nach der er sich sehnt, akzeptieren.

Jeder Tod ist für den, der damit leben muss, wie eine Lawine, ein Erdbeben, ein Zusammenbruch bestehender Lebensvorstellungen. Der Tod – symbolisiert durch eine Gerölllawine – bricht in die Alltagswelt ein. Der Betrachter muss seinen Weg durch ein Trümmerfeld finden. Und wenn er versucht, die Bruchstücke zu sortieren, entdeckt er die Spuren, die von der Lebensbahn des Verstorbenen zurückgeblieben sind.

Ein Abzweig führt in einen Glasgang. Die rechte Kopfwand ist vom übergroßen Foto der menschlichen DNA beherrscht. Sie vermittelt dem Betrachter die Einzigartigkeit jeden menschlichen Seins. Der Glasboden symbolisiert die Zerbrechlichkeit und gleichzeitig die Bedeutung aller menschlichen Beziehungen. Eine Wand mit Namen verdeutlicht dem Betrachter, wie viele Menschen ihn auf seinem Lebensweg begleiten. Gleichzeitig entsteht Erinnerung über das bewusste Wahrnehmen von Gegenständen, die in einem Glasregal aufbewahrt sind. Einige Spiegelscherben im Regal erlauben einen Aus- und Einblick auf die Himmelsöffnung – einem Glasboden über einem Schacht.

Mit der bewussten Wahrnehmung der Namen und der konkreten Erinnerungsstücke durchwandert der Betrachter auch diverse Stationen seines eigenen Lebens. Dies ruft Träume, Gefühle und besonders Sehnsüchte nach Geborgenheit, Wärme, Heimat, Kindsein hervor. Die Hoffnung, dass dieser Ort des Geborgenseins, des Glücks und der ewigen Vollkommenheit nach dem Tode im Himmel oder in einem verlorenen Paradies erfahrbar wird, ist eine der großen universellen Sehnsüchte der Menschheit.

Immer haben die Menschen versucht, dieses Paradies bereits zu Lebzeiten auf Erden zu verwirklichen. Hierzu lädt der nächste Raum ein, auch wenn der Eintritt in ein solches irdisches »Spiegelparadies« Überwindung erfordert. Diese Scheu mag zu Fluchten in Seitenwege führen. Leicht folgt der Mensch Täuschungen, Verlockungen und auch falschen Heilsversprechungen. Aber Sackgassen sind ein Bestandteil des Lebens. Dies zu erkennen und zu akzeptieren ist wichtig, und deshalb sollten wir immer wieder aus unseren Sackgassen heraus nach dem Paradies suchen, wo immer es sein mag.

Beim Durchschreiten des »Paradieses« wird am Ausgang des Weges eine Videoprojektion abgespielt. Zu sehen ist in eine Wiese, aus der die Samen von Pusteblumen aufsteigen, gleichzeitig schneit diese Sommerwiese immer mehr zu. Die Videoinstallation in Schwarz und Weiß steht im Kontrast zur realen Welt, in die man durch eine Türe wieder austritt. Diese reale Welt, die wir täglich erfahren dürfen, ist viel bunter und lebendiger als all die Scheinwelten, die uns heute so vertraut sind. Sie muss nur immer wieder neu entdeckt werden.

Der Betrachter verlässt die Ebene der Gefühle vielleicht etwas sehender, mutiger und hoffentlich lebendiger: Er wagt einen neuen Gang in das alltägliche Leben, wohl spürend, dass er in der ihm verbleibenden Zeit von denen begleitet wird, die er auf der Erde vermisst.

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Trauerbegleitung kann auch bedeuten, dass man sich gemeinsam erinnert und das bewahrt, was bleibt: die Geschichte, die Erfahrung der gemeinsamen Zeit, die Besonderheiten und Erlebnisse. Niemand muss ein Musiker oder Maler, Schriftsteller oder Schauspieler sein, um genau das zu tun, was Künstler – Menschen, die wir so nennen – tun: einen eigenen Ausdruck finden für das, was in ihm vorgeht, was ihm wichtig ist, wie er die Welt sieht und wahrnimmt. Wenn man seine Gefühle, seine Erinnerungen und Empfindungen in einer Geschichte verarbeitet, in einem Bild malt, in eine Melodie verwandelt, gibt man ihnen eine einzigartige Form. Es spielt keine Rolle, ob dabei etwas entsteht, das in den Augen anderer ein Kunstwerk ist; es kommt nur darauf an, dass es unser ureigener Ausdruck von Gefühlen ist.

Trauer und Liebe nähren sich aus der gleichen Quelle – aus einer intensiven, inneren Bindung an einen anderen Menschen. Diese Quelle ist eine im Wortsinn »schöpferische« Kraft. Ich wage die Behauptung, dass bei acht von zehn Kunstwerken Liebe oder Leiden am Anfang steht. Es sind Grundmotive, die jeder aus seiner individuellen Sicht immer wieder neu erfindet und in Erfahrung verwandelt.

Das ist kein Zufall. Schmerz lehrt Aufmerksamkeit: »Leben ist eine Form des nicht sicher Seins, des nicht Wissens, was als nächstes kommt oder wie es kommt. In dem Augenblick, in dem du weißt wie, beginnst du, ein wenig zu sterben. Der Künstler weiß nie ganz genau. Wir raten. Wir haben vielleicht Unrecht, aber wir machen einen Sprung nach dem anderen in die Dunkelheit hinein.« (Agnes de Mille)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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