Darf man erleichtert sein, wenn jemand stirbt?

Claudia Höges (21) erlebte hautnah, wie ihre 83-jährige Großmutter Paula immer mehr »abbaute«. Anfangs war es eine mittelschwere Demenz. Claudia besuchte ihre Großmutter regelmäßig nach der Uni und kümmerte sich um sie. Paula wurde immer schwächer und konnte nicht mehr allein aus dem Bett aufstehen oder zur Toilette gehen. Sie weigerte sich, Essen oder Trinken zu sich zu nehmen, und verschlief den ganzen Tag. Mehr als einmal sagte Paula: »Lass mich hier einfach liegen und sterben.« Nach einem halben Jahr der intensiven Pflege und der fortschreitenden Altersschwäche kam die ganze Familie noch einmal zusammen, um Paulas Geburtstag zu feiern. Es war ein sehr trauriger Geburtstag, Paula war kaum mehr ansprechbar. Zwei Wochen später erlitt sie einen Schlaganfall und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sie war halbseitig gelähmt und konnte kaum noch sprechen. Die Ärzte bereiteten die Familie auf den nahenden Tod der Großmutter vor: »Es sieht nicht gut für sie aus.« Die Familie holte Paula nach Hause. Drei Wochen später wurde sie von ihren Leiden erlöst und starb zu Hause in ihrem Bett.

Wie viele Angehörige, die einen geliebten Menschen über eine lange Zeit pflegen, lebt Claudia nach dem Tod ihrer Großmutter im Zwiespalt. Sie trauert um Paula. Aber sie fühlt auch Erleichterung, und dieses Gefühl der Erleichterung verunsichert sie: »Darf ich denken, endlich ist es vorbei? Darf ich so empfinden?«

Claudia leidet unter diesen Gedanken, möchte aber mit ihrer Familie nicht darüber reden. Sie hat Angst, dass ihre Familie sie nicht versteht.

In der Trauer gibt es viele Gefühle. Traurigkeit, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Erschütterung, Schock. Sogar Wut, Zorn und Hass. Und eben auch Erleichterung. Wenn man einen Menschen liebt, leidet man mit ihm, wenn eine schwere Krankheit voranschreitet. Wenn das Leiden sehr lange dauert, ist das nicht nur für den todkranken Menschen eine Bürde. Auch die pflegenden Angehörigen tragen schwer an der Last. Da ist das Mitgefühl, das Mitleiden. Manchmal über Jahre hinweg.

Für einen Schwerkranken kann der Tod eine Erlösung sein. Viele alte und kranke Menschen wünschen sich ihren Tod herbei. Für die Angehörigen ist das schon vor dem eigentlichen Tod ein Abschied auf Raten. Sie beobachten die Krankheit und wissen nie, wie lange der geliebte Mensch noch lebt oder wann der befürchtete Anruf kommt. Mit dem Tod des Kranken ist diese Ungewissheit vorbei, es ist eingetreten, wovor sich Angehörige so lange gefürchtet haben. Auch das kann eine Erlösung sein.

Da ist es durchaus verständlich, wenn sich Erleichterung in die Trauer mischt.

Claudia trifft sich nach dem Tod ihrer Großmutter mit ihrer besten Freundin Ulrike und erzählt von ihren Gefühlen, von der Scham wegen ihrer Erleichterung über den Tod der Großmutter. Ulrike zeigt Verständnis, ihr ging es genauso, als ihr Großvater nach langer Krankheit starb. Sie machte sich genau die gleichen Gedanken wie Claudia, aber sie erkannte mit der Zeit, dass Erleichterung und Trauer sich nicht gegenseitig ausschließen. Sie fühlte beides, und das war für sie irgendwann in Ordnung. Das Gespräch mit der Freundin hilft Claudia, es macht ihr Mut, alle Gefühle zuzulassen, auch die Erleichterung. Denn Erleichterung ist genauso normal wie die Traurigkeit, die einen übermannt, wenn ein geliebter Mensch stirbt.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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