Die enteigneten Toten

Sobald ein Arzt den Totenschein ausgestellt hat, setzen sich die professionalisierten Abläufe unter der Regie des Bestattungsunternehmens fort. Gesetzlichen Vorschriften entsprechend dürfen höchstens zwei Tage vergehen, bis der Verstorbene »in einer dafür vorgesehenen Einrichtung« ordnungsgemäß aufbewahrt und für die Bestattung vorbereitet wird. Die Fragen, die zu beantworten sind – Art der Bestattung, Sargmodell und -ausstattung, Kleidung des Toten, Zeit und Ort der Trauerfeier – geben die in Deutschland erlaubten Bestattungsformen vor. Den meisten Hinterbliebenen bleibt nur die Zuschauerrolle. Vom Waschen und Kleiden des Toten bis zur Trauerfeier beschränken sich ihre Aktivitäten auf Wahlentscheidungen. Zwar ist dies nirgendwo vorgeschrieben, doch die wenigsten wissen, welche Handlungsspielräume sie haben – und noch weniger entschließen sich, diese tatsächlich zu nutzen. So wie wir einen All-inclusive-Urlaub buchen, können wir uns auch für eine All-inclusive-Bestattung entscheiden. Der Begegnung mit dem verstorbenen Bruder oder Vater, der Freundin oder dem eigenen Kind, gehen viele aus dem Weg. »Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie Sie ihn gekannt haben.« So und ähnlich lauten die Ratschläge, die in solchen Lebenssituationen aber oft mehr Schläge als Rat sind.

Wir haben gelernt, zu delegieren, uns auf Experten zu verlassen und Probleme »mental zu verarbeiten«. Doch um die Realität des Todes zu begreifen, bedarf es konkreter Erfahrung und auch der konkreten Begegnung mit dem Toten. Man sollte ihn sehen, fühlen, mit den Sinnen erfassen. Wir brauchen den Anblick der Verstorbenen, doch wir begnügen uns heute beim Abschied von einem vertrauten Menschen mit dem Anblick des blumengeschmückten Sargs oder einer Urne.

Eine normale Trauerfeier in einer deutschen Großstadt dauert kaum länger als eine halbe Stunde und findet in immer kleinerem Kreis statt, wie an den Todesanzeigen abzulesen ist: »In aller Stille wurde beigesetzt …«. Die Selbstverständlichkeit, mit der Nachbarschaften benachrichtigt werden und für den gemeinsamen Kranz sammeln, nahe Angehörige oder Freunde das Tragen des Sarges übernehmen, ist schon lange verloren gegangen. Vom häuslichen Aufbahren des Verstorbenen bis zu den Trauerzügen, die durchs Dorf führten, sind viele Rituale verblasst, die dem Tod einen Platz in der Alltagserfahrung gaben. Die Sicherheit, mit der wir wissen, was zu tun ist, wenn ein Kind geboren wird – Glückwünsche, Hilfsangebote – fehlt, wenn ein Mensch gestorben ist. Rituale wie das Tragen schwarzer Trauerkleidung, das Verschicken oder Überreichen von Beileidskarten, die Beileidsbezeugung am Grab und das Kaffeetrinken nach der Bestattung werden oft als inhaltsleere Konventionen empfunden. Sie wirken verunsichernd auf viele Trauernde, weil sie sich mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen in ein Korsett gezwängt fühlen, das ihnen nicht passt.

Der Tod und die Toten sind aus unserer Mitte verschwunden wie die Dorffriedhöfe aus den Vororten der Großstädte, die Gemüsegärten und Wochenmärkte. Längst sind Leichenwagen nicht mehr als solche zu erkennen, längst sind die Friedhöfe an die Ränder der Städte gewandert und zu Orten geworden, mit denen die meisten von uns nicht mehr viel anfangen können. Die klassische Grabstelle als letzte Ruhestätte ist zum Auslaufmodell geworden: »Wer soll das pflegen?«, »Wer hat Zeit, dorthin zu gehen?«, fragen sich viele. Und verschweigen, dass ihnen auch das »Wozu?« abhanden gekommen ist.

Kosten-Nutzen-Abwägungen und Zeitknappheit machen auch vor dem Tod nicht Halt. Eine wachsende Zahl von Menschen verfügen testamentarisch, dass ihre Asche nicht in einer identifizierbaren Grabstelle beigesetzt werden soll, sondern ohne Namensnennung oder sonstige Identitätskennzeichen auf einem zumeist als Wiese oder sonstige Naturlandschaft gestalteten Urnenfeld.

Auf welche Weise wir unsere Angehörigen bestatten lassen, ist auch eine ökonomische Frage. Immer häufiger gilt: möglichst rasch und möglichst günstig. Das Sterbegeld zählt seit 2004 nicht mehr zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Seit Jahren wächst der Anteil der Feuerbestattungen, gegenüber der klassischen Beerdigung eine kostengünstigere und pflegeleichtere Alternative. Rund 13 Milliarden Euro pro Jahr werden in Deutschland für Bestattungen ausgegeben; Heute teilen sich 4 500 Betriebe den Markt, noch 1980 waren es knapp halb so viele. Für eine Standardbeerdigung liegt der Preis bei rund 4 000 Euro. Inzwischen werben Betriebe mit »Niedrigpreisen«, die unter 1 000 Euro liegen, und es gibt All-inclusive-Angebote, die von der Traueranzeige bis zur Gestaltung der Trauerfeier die komplette Palette der Dienstleistungen umfassen. Aber wo enden die Kosten einer Bestattung? Sind sie mit der Beerdigung beglichen oder setzen sie sich fort, wenn ein Betroffener noch Jahre lang medizinisch behandelt werden muss, weil er mit dem Tod seines Kindes nicht fertig wird?

Die Kosten der persönlichen und gemeinschaftlichen Verdrängung des Todes, des Sterbens, werden spätestens dann sichtbar, wenn der Tod uns nicht mehr als abstraktes Thema begegnet, sondern persönlich trifft. Wenn mit dem Tod eines nahestehenden Menschen oder der ärztlichen Diagnose einer unheilbaren Krankheit der Tod einbricht ins eigene Leben. Plötzlich wird klar, dass die Distanz, die wir zum Tod und Sterben kulturell geschaffen haben, umso verwundbarer macht. So wenig wir wissen, welches unser letzter Tag sein wird, so wenig können wir wissen, ob der Tod uns nicht schon morgen, übermorgen, nächste Woche einen uns nahestehenden Menschen nimmt. Wir können den Gedanken an Sterben und Tod aus dem Alltag verdrängen; entgehen werden wir Tod, Abschied und Trauer dadurch nicht.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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