Abschied als Anfang einer neuen Verbundenheit

Abschied nehmen ist ein aktiver Vorgang. Wir sollten niemanden dazu drängen, etwas Außergewöhnliches zu tun, aber wir sollten jeden dazu ermuntern, das zu tun, was ihm persönlich am besten entspricht. Dabei kann es durchaus hilfreich sein, auf vorhandene Rituale oder Angebote zurückzugreifen; es müssen aber auch Freiräume geschaffen werden, eigene Rituale zu entwickeln. Auch wenn sich der Sinn der Handlungen für andere vielleicht verschließt, gilt wie in der Liebe: Je persönlicher der Ausdruck ist, desto befreiender und belebender ist die Wirkung.

Solche Rituale müssen nicht spektakulär sein. Zentrales Element im Umgang mit Tod und Sterben ist das Abschiednehmen. Wie im Alltag der Gruß am Anfang der Begegnungen steht, so steht der letzte Abschied von einem Verstorbenen am Anfang eines Prozesses, in dem die Hinterbliebenen die Erfahrung machen, dass der Tod nicht das Ende, sondern eine Veränderung der Verbundenheit mit dem Toten ist. Ob Mutter oder Ehemann, Kind oder Freund, sie alle bleiben Teil seiner Lebensgeschichte. Im Abschiednehmen ziehen Hinterbliebene Bilanz: Was haben wir gemeinsam erlebt? Was war wertvoll in unserer Beziehung, was war schwer erträglich? Die Antworten darauf helfen, einen Schlusspunkt zu setzen. Alle Gefühle, auch die widersprüchlichen, gehören in diese erste Phase der Trauer. Abschied nehmen heißt auch, seinen Frieden mit dem Toten zu machen.

Das Berühren der Leiche ermöglicht es uns, den Unterschied zwischen tot und lebendig zu begreifen – die Tatsache des Todes zu ertasten. Dazu kann auch das Ankleiden der Toten gehören. Es zeugt von tiefem Respekt, den Leichnam in ein Behältnis zu legen, das selbst gebaut oder gestaltet wurde. Zu einem persönlichen Abschied können auch Sargbeigaben gehören – Symbole, Gegenstände, Bilder, Briefe und andere individuelle Zeugnisse des gelebten Lebens oder der Beziehung. Ein Bild oder ein Brief spiegelt eine sehr persönliche Form von Verbundenheit. Darin kann alles ausgedrückt werden, was es noch zu sagen gibt, was vielleicht unausgesprochen geblieben ist. Was hat ein Mensch Bleibendes im Leben der anderen hinterlassen? Was hat sein Tod dem Leben derer, die weiterleben, hinzugefügt?

Den Sargdeckel selbst zu schließen, den Sarg oder die Urne selbst der Erde zu übergeben – all das sind Zeichen eines bewussten Abschiednehmens am Ende eines Lebensweges. Solche Rituale sind in vielen Varianten denkbar.

Viele Angehörige erleben nach Eintritt des Todes eine Phase der Sprachlosigkeit und Fassungslosigkeit. Gerade in dieser Situation kann es hilfreich sein, sich an der Versorgung des Leichnams aktiv zu beteiligen. Das gibt Betroffenen die Möglichkeit, sich eine konkrete und bildhafte Vorstellung vom Sterben und vom Tod zu machen und das Geschehen damit besser zu begreifen. Menschen, die in der Sterbebegleitung arbeiten, und erste fortschrittlich handelnde Bestattungsunternehmen legen deshalb großen Wert darauf, den Angehörigen viel Zeit sowohl mit den Sterbenden als auch mit den Gestorbenen einzuräumen.

In der Art, wie wir persönlich Abschied nehmen, spiegelt sich die Wertschätzung für den Verstorbenen – vergleichbar der Art, in der wir unsere Liebe zum Ausdruck bringen. Wir halten es für selbstverständlich, eine Hochzeit mindestens ein Jahr im Voraus zu planen, bis ins Detail vom Tischschmuck bis zur Musikauswahl. Wir geben viel Geld aus, um einen »unvergesslichen Tag« zu erleben. Zu Recht. Selbst wenn die Ehe – wie jede zweite inzwischen – nicht bis ans Lebensende hält, bleibt die Erinnerung an ein besonderes Fest, das wir so gefeiert haben, wie es der Bedeutung entspricht. Warum denken wir nicht ähnlich beim Abschied, dem »Abschlussball« des Lebens, der letzten gemeinsamen Feier mit einem Menschen, der uns im Leben so viel bedeutet hat? Wahrscheinlich, weil wir so unvertraut mit Tod und Sterben geworden sind, dass wir jede Abweichung vom Weg scheuen.

Alle persönlichen Rituale beim Abschiednehmen sind wichtig und hilfreich, denn sie setzen Zeichen in der sichtbaren Welt. Vielleicht sind sie deshalb vielen Trauernden peinlich, denn es wird ja von ihnen erwartet, dass sie ihre Trauer nicht allzu öffentlich zeigen. Aber die Menschen, die gestorben sind, brauchen einen neuen Platz – nicht nur im Innern der Trauernden, sondern auch ihrem sichtbaren Alltag

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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