Grenzen der Kontrolle

Der Tod lehrt uns, etwas zu akzeptieren, das so ist, wie es ist – nicht, wie wir es haben wollen. Wir hätten viele Situationen gerne anders als sie sind. »Die Leute sollten freundlicher sein.« »Die Schlange vor der Kasse im Supermarkt sollte sich schneller bewegen.« Die Klage »Ich wünschte, ich hätte meinen Job nicht verloren« raubt uns mehr Kraft als die Frage: »Ich habe meinen Job verloren; was kann ich in dieser Situation tun?« Den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren heißt nicht, dass man mit allem einverstanden sein muss und nichts ändern kann. Es bedeutet aber, dass man Grenzen annehmen kann. Niemand will, dass die beste Freundin bei einem Autounfall schwer verletzt wird. Aber wenn es so ist, wird man lernen müssen, das Unglück, das man nicht ungeschehen machen kann, anzunehmen und auszuhalten.

Endlichkeit und im weiteren Sinne Einschränkungen und Verluste zu akzeptieren ist schwierig. Es ist eine Fähigkeit, die sich auf viele Lebensbereiche auswirkt, denn sie schafft eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten: Man wird seine Zeit anders nutzen. Und man wird sich vielleicht fragen, was man in verschiedenen Lebensbereichen wirklich will. Wer lernt, Endlichkeit zu akzeptieren, stellt fest, dass jede Entscheidung davon lebt, wie gut man sich selbst, seine Werte und Ziele kennt.

Wüssten wir in diesem Moment, an welchem Tag genau wir sterben werden, so würden wir mit Sicherheit schon morgen anders leben. Denn wir wüssten, morgen wäre unwiderruflich ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Lebensrechnung. Nun ist es aber wirklich so, dass es absolut sicher ist, dass wir irgendwann sterben und dass daher der morgige Tag unwiderruflich ein unwiederholbarer Tag weniger auf unserer Lebensrechnung ist. Und damit ist klar, die Zeit ist begrenzt. Vielleicht wäre es kein schlechter Gedanke, sich ab und zu eine halbe Stunde Zeit zu nehmen und einen Friedhof zu besuchen – und für einen Moment aus allen Zweckmäßigkeiten auszusteigen. Das ist keine halbe Stunde Ewigkeit, aber: Uns begegnet für einen Moment etwas, das über dieses Leben hinausgeht

Die Begegnung mit dem Tod zeigt, dass der Augenblick einzigartig ist. Schönheit liegt nicht in der Perfektion, sondern in der Einzigartigkeit. Wir leben in einer Zeit und Kultur, in der wir dem Einzigartigen und Unwiederbringlichen kaum mehr Aufmerksamkeit schenken. Wenn wir an Schönheit denken, dann haben wir keine Bilder von der Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Unsere Vorstellung von Qualität ist, dass Gegenstände möglichst lange so aussehen wie an dem Tag, an dem wir sie gekauft haben. Spuren der Zeit werten einen Gegenstand in unseren Augen ab, und deshalb versuchen wir sie zu vermeiden: Unsere Autos dürfen keine Kratzer haben, die Farbe unserer Kleidung muss immer leuchten wie neu, Flecken müssen entfernt werden, und wenn ein Gegenstand sich gar nicht mehr in dieses Schönheitsideal einfügt, dann werfen wir ihn eben weg und kaufen einen neuen. Wir wollen von allem viel zu viel, und die meisten von uns haben auch von allem viel zu viel: zu viele Bücher, zu viele Möbel, zu viele Kleidungsstücke. Wir essen zu viel, trinken zu viel, arbeiten zu viel. Es gibt aber auch eine andere Idee vom Leben. Eine Form der Zufriedenheit, die aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit erwächst.

Der Tod ist der Ort, an dem wir Vergänglichkeit spüren können: Alles verändert sich, nichts bleibt, wie es ist, und alles findet irgendwo sein Ende. Und es geht darum, sich dieser Veränderung nicht entgegenzustellen, sondern sie als natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass unser Leben vergänglich ist und dass es darauf ankommt, wesentlich zu werden. Das heißt herauszufinden, was wir wirklich brauchen und was uns als Individuum einzigartig und unverwechselbar macht. Wer dies zum Leitmotiv seiner persönlichen Entwicklung macht, wird unabhängiger sein und dem Leben mit einer anderen Haltung begegnen: Wir können zwischen dem, was uns von außen als richtig und wichtig angeboten wird, und dem, was wir wirklich brauchen und wollen, unterscheiden. Wir können den Dingen ihren Lauf lassen, sie ihren eigenen Platz finden und geschehen lassen. Wir können uns auf das beschränken, was wirklich notwendig ist. Wir wissen, wann wir bei einer Sache bleiben sollten und wann es Zeit wird, sich von ihr zu lösen.

Ein verdrängter Tod wirft seine Schatten über das ganze Leben. Wenn ich heute einen Menschen hätte anlächeln sollen, der es gebraucht hätte, und es nicht getan habe, dann kann ich das in Wirklichkeit niemals wiedergutmachen. Jeder Moment ist unwiederholbar – weil es den Tod gibt. Daher gilt: Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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