Der Tod als Weltverbesserer

Wie weit Lebensformen und Umgang mit Tod und Sterben in der modernen Welt in die Vergangenheit hineinreichen und zum Teil dort ihre Wurzeln haben, hat die Kulturwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer in ihrem Essay Das Leben als letzte Gelegenheit ausführlich aufgezeigt: Demnach sind es nicht Neugier und Vernunft, die den modernen Menschen hervorgebracht haben, sondern es ist die Angst vor dem Tod, die unser Lebensgefühl, unser Selbstverständnis bis heute prägt. Im 16. Jahrhundert betrat der Mensch als »Macher« die Bühne: »Erhobenen Hauptes, taten- und erkenntnisdurstig, durch und durch Akteur. Im Erwachen aus dem Dämmerzustand seiner vormodernen Existenz hatte ihm zu dämmern begonnen, wozu er fähig war, nämlich zur Umgestaltung der Welt nach seinen Plänen und nach seinem Willen.« Sein Auftreten war begleitet von Selbstbewusstsein und Zuversicht, seine ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung ist eine Kampfansage an den »heillosen Tod«, der in der Großen Pest die europäische Bevölkerung heimsuchte.

Nur in dem Maße, in dem der Einzelne seine Eigenart und seinen Eigensinn entfaltet, gewinnt er Lebenssinn. Seine Freiheit besteht darin, sich zu verwirklichen, und sein Risiko darin, an dieser Selbsterschaffung zu scheitern. Dem neuzeitlichen Individuum ist die »Sorge um sich« grundlegend aufgetragen, und der Einzigartigkeit des Individuums wird in der Folge ein absoluter Wert beigelegt. Das allein macht den Ernst, der die Gestalt umgibt, jedoch nicht aus. Der Preis für die Individualisierung ist eine durch nichts gemilderte Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit. Die Tatsache, dass sich das Individuum dadurch, dass es sich an die Stelle Gottes setzt, der Hoffnung auf das Jenseits beraubt, macht den Tod zu einem endgültigen Ende.

Doch allmählich ernüchtert sich der Blick, wird kühl und abschätzend wie bei einer Musterung von Material. Die Welt da draußen wird zum Projekt; es geht nur noch um das zu Machende. Wenn der Tod nicht mehr aus der Hand Gottes kommt, dann ist er ein Verhängnis der Natur; oder, wenn man sich die Natur weniger machtvoll denkt, ein Übel, ein Makel, der ihr anhaftet. Der Mensch, der an seine schöpferische und selbstschöpferische Fähigkeit zu glauben begonnen hat, wird sich daranmachen, sich eine zweite, verbesserte Natur zu schaffen. Als sich der abendländische Mensch angesichts eines feindseligen Todes auf sich selbst gestellt sah, als er sich für seine Sicherheit selbst zuständig fühlte, eröffneten sich ihm zwei Wege, die in ganz verschiedene Richtungen führten. Sie lassen sich an den Positionen zweier in ihren Auffassungen gegensätzlicher Denker illustrieren, wie Marianne Gronemeyer ausführt: Michel de Montaigne und René Descartes.

Über den Tod schreibt Michel de Montaigne um 1580: »Lasst uns also denselben mit unverrücktem Fuße erwarten, und uns zur Gegenwehr setzen. Und damit wir ihm seinen besten Vortheil abgewinnen, so wollen wir einen ganz andern Weg erwählen, als man gemeiniglich geht. Wir wollen ihm das Fremde nehmen, wir wollen Bekanntschaft mit ihm unterhalten, wir wollen uns an ihn gewöhnen, wir wollen nichts so oft als den Tod in den Gedanken haben, wir wollen ihn unserer Einbildungskraft alle Augenblicke und unter allen möglichen Gestalten vorstellen.« Der Tod ist unausweichlich, und er ist Teil unseres Lebens sowie die Bedingung neuen Lebens: »Macht andern Platz, gleichwie euch andere Platz gemacht haben«, lautet die Mahnung Montaignes in Philosophieren heißt Sterben lernen.

Was nun die Lebensführung angeht, so kann jemand gelebt haben, wie er will, die Todesfurcht ist in jedem Falle gegenstandslos: Wer sein Leben Augenblick für Augenblick recht genützt hat, kann auch in jedem beliebigen Moment lebenssatt sterben. Wer es aber ungenützt verstreichen ließ, dem ist es ohnehin zu nichts nütze. Warum sollte er es festhalten? Jedoch wird dem Todesfürchtigen nicht Todesvergessenheit angeraten, er wird nicht zur Sorglosigkeit ermuntert. Damit hat Montaigne nichts im Sinn. Sie ist es gerade, die die Menschen so anfällig macht für die Furcht und die dem Tod so viel Macht über die Lebenden gibt. Man muss des Todes allzeit gewärtig und zur »Abreise gerüstet« sein.

Diese Vorstellung vom Tod, den man nicht bekämpft, sondern dem man entgegengeht und den man als selbstverständlichen Teil des Lebens akzeptiert, findet sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Schilderungen wie jener vom Tod der Madame de Rhert, die Philipe Ariès in seiner Geschichte des Todes zitiert: »Sie selbst hat ihr Leichenbegräbnis vorbereiten, ihr Haus in Schwarz hüllen und im voraus Messen für die Ruhe ihrer Seele lesen lassen und ihre Angelegenheiten geordnet – und dies alles, ohne dass ihr das Geringste fehlte. Als sie schließlich alle notwendigen Anordnungen getroffen hatte, um ihrem Gatten alle Besorgnisse zu ersparen, mit denen er ohne diese Voraussicht belastet gewesen wäre, starb sie am Tag und zur Stunde, die sie bezeichnet hatte.« Damit der Tod sich auf diese Weise ankündigen konnte, durfte er nicht plötzlich eintreten. Wenn er sich nämlich nicht im Voraus bemerkbar machte, hörte er auf, zwar furchtbare, aber doch wohl oder übel erwartete und willig hingenommene Notwendigkeit zu sein. Er setzte dann die Ordnung der Welt, an die jedermann glaubte, außer Kraft. In dieser mit dem Tod so vertrauten Welt war der plötzliche Tod hässlich und gemein; er flößte Angst ein – ein fremdartiges und schreckliches Phänomen, an das man lieber gar nicht dachte. Der hässliche und gemeine Tod war im Mittelalter nicht nur der plötzliche und absurde Tod, sondern auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien, der Tod des Reisenden unterwegs, des zufällig vom Blitz getroffenen Nachbarn.

Die vertraute Einfachheit ist einer der beiden unabdingbaren Wesenszüge des rituellen Todes. Der andere ist seine Öffentlichkeit, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erhalten hat. Ende des 18. Jahrhunderts klagten Ärzte und Hygieniker über die sich in den Sterbezimmern drängenden Menschenmengen. Allerdings ohne großen Erfolg. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte jeder, sogar ein der Familie Unbekannter, sich dem Priester auf der Straße anschließen und das Haus eines Sterbenden betreten.

In einer von Veränderung geprägten Welt wie der unseren bietet die traditionelle Einstellung zum Tode den Eindruck eines Walles von Trägheit und Kontinuität.

Unsere Alltagswirklichkeit hat diesen Wall inzwischen derart abgetragen, dass wir sogar Mühe haben, ihn uns auch nur vorzustellen und begreiflich zu machen. Die alte Einstellung, für die der Tod nah und vertraut und zugleich abgeschwächt und kaum fühlbar war, steht in schroffem Gegensatz zur unsrigen, für die er so angsteinflößend ist, dass wir ihn kaum beim Namen zu nennen wagen.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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