Hilflose Trauer

Wie Sterben als Krankheit definiert wird, so gilt Trauer in unserer Gesellschaft als eine leidvolle Phase, die es möglichst rasch zu »überwinden« gilt. Trauer ist eine universelle Erfahrung, die jeder individuell und auf seine Weise erlebt. Was Trauer für uns ist, wie wir sie empfinden und ausdrücken, hat etwas mit der Zeit zu tun, in der wir leben: welche Traditionen und Freiheiten sie bietet, welche wissenschaftlichen Theorien für gültig gehalten werden. Es gibt keine verbindlichen Regeln mehr wie einst das Trauerjahr. Heute gilt »Trauerarbeit« als Bewältigung einer Krise, vergleichbar einem Krankheitsverlauf. Und wie dieser ist die Trauer ein durch und durch individueller Prozess – auch in seiner Kehrseite: Viele Betroffene machen die Erfahrung, dass sie mit ihrer Trauer allein sind, dass Kollegen, Nachbarn, selbst Freunde sich zurückziehen.

»Was soll ich denn sagen? Lieber sage ich gar nichts, bevor ich etwas falsch mache.« Es ist kein Zufall, dass uns bei der Nachricht vom Tod eines Kollegen, eines Verwandten, eines Freundes oft die Worte fehlen. Was sagt man den Hinterbliebenen? Wie geht man mit der Situation um? Auch die professionellen Kräfte, die in ihrer Arbeit im Krankenhaus oder Pflegeheim, bei der Polizei oder in der Seelsorge Trauernden begegnen, fühlen sich oft hilflos; sie würden gern etwas tun, wissen aber nicht was.

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Wir verstecken die Toten und die Sterbenden und wissen nicht, wie wir Trauernden begegnen sollen. Diese Unsicherheit im Umgang mit ihnen verhindert, dass wir sie unterstützen können. Die Leistungsgesellschaft hat wenig Verständnis für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – den Anforderungen des Alltags plötzlich nicht mehr genügen. Trauer, Rückzug und Verlusterfahrungen werden als Defizit, als Ausnahmezustand und Abweichung von der Norm wahrgenommen – und sie werden eher mit Ausgrenzung als mit Zuwendung beantwortet.

Trauer ist etwas Intimes geworden, in das sich Fremde nicht einzumischen haben, über das man vielleicht mit dem Arzt spricht, aber nicht mit der Nachbarin oder dem Arbeitskollegen. Mit der Trauer über den Verlust eines nahestehenden Menschen zu leben ist daher oft eine einsame Sache. »Da muss ich alleine durch«, ist für viele Trauernde das Motto der Stunde.

Wir verdrängen das Sterben und wir verdrängen Trauer, Leiden, Abschiednehmen. Über Tod und Bestattung wird in den meistens Familien nicht gesprochen. Nur noch 30 Prozent der Deutschen haben eine Verfügung für den Todesfall getroffen; kaum jemand hat eine Willenserklärung zur Sicherung der eigenen Bestattungswünsche hinterlegt. Damit, dass wir auf persönliche, individuelle Gestaltung verzichten, tragen wir dazu bei, dass standardisierte Verfahren greifen. Es gilt, diesen Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Im eigenen Interesse, im Interesse der Angehörigen, für die oft genug unklar ist, wie wir uns das Ende gewünscht hätten, wie wir uns den Abschied gewünscht hätten.

Der Umgang mit Sterben und Trauer, mit Verlust und Endlichkeit ist mehr als eine persönliche Angelegenheit. Er berührt vielmehr die für alle geltende Frage, wie eine Gesellschaft sich ihrer Toten erinnert. Woran sie glaubt, wie viel Individualität sie erlaubt und wie sie dies in Zukunft gestalten will. Mit der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten wächst zugleich die Notwendigkeit konkreter und individueller Entscheidungen am Lebensende und im Umgang mit Tod und Trauer.

Wir sind sepulkrale Analphabeten geworden. Wir haben uns von den letzten Dingen entfremdet. Spätestens, wenn wir persönlich mit dem Tod eines nahestehenden Menschen konfrontiert sind, merken wir, dass die alten Rituale nicht mehr passen, dass viele verzichtbar geworden sind – und dass wir gefordert sind, neue zu entwickeln. In ihrem Gedicht »Memento« schreibt Mascha Kaléko: »Den eigenen Tod, den stirbt man nur; doch mit dem Tod der anderen muss man leben.« Man muss den Tod eines nahestehenden Menschen aushalten, annehmen, akzeptieren – und Trauer nicht als lästige Unterbrechung, sondern als langen Weg einer Veränderung begreifen.

Dort, wo wir unsicher sind, wo wir uns nicht auskennen, verlassen wir uns auf Experten. Wir ersetzen die eigene Sichtweise durch eine professionelle, eine funktionale Perspektive. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist nicht nur das Sterben, sondern auch der Umgang mit Trauer zum Thema geworden. Die wissenschaftliche Beschäftigung füllt die Lücke, die das Schwinden von Traditionen und Selbstverständlichkeiten im Umgang mit einem toten Körper und den trauernden Angehörigen hinterlassen hat. Doch weder kann der Arzt entscheiden, wie wir sterben wollen; noch kann – darf – der Bestatter vorgeben, wie wir zu trauern haben. Es geht daher um die Frage, wie wir die Handlungsspielräume füllen und die Vertrautheit mit Tod, Abschied und Trauer zurückgewinnen. Wir sind an dem Punkt, dass wir über den Umgang mit Sterben und Tod neu verhandeln müssen.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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