Trauer ist ein Reifeprozess

Im Trauern ziehen wir Bilanz und ordnen unser Leben neu. Was war bisher wichtig? Prioritäten verschieben sich oder werden neu gesetzt. Dahinter steht das Bedauern über das ungelebte Leben, über verpasste Chancen. Der Tod zeigt uns, wie unwiederbringlich vieles ist. Man trauert über das, was man immer aufgeschoben hat und für das es nun zu spät ist. Im günstigsten Fall erlebt man einen Wertewandel. Man möchte nicht mehr in den Tag hineinleben, sondern die verbleibende Zeit sinnvoll nutzen. Aus der Erkenntnis heraus: Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens.

Noch wird es in unserer Gesellschaft als normal angesehen, wenn man sich nach dem Verlust eines Angehörigen vollkommen in seiner Arbeit vergräbt. Oft unternehmen Trauernde in der akuten Trauerphase Ersatzhandlungen wie das hektische Erledigen aller Erb- und Versicherungsangelegenheiten, um sich vor der Trauerarbeit zu drücken.

Trauern ist für viele die Bewältigung einer Krise mit dem Ziel, das Vergangene hinter sich zu lassen. Auch wenn viele Vorträge und Kurse mit dem Satz »Trauern ist keine Krankheit« beginnen, entsteht der Eindruck eines Krankheitsverlaufs in verschiedenen schweren Phasen, an dessen Ende wir von Traurigkeit und Erinnerungen genesen sind. In einer Gesellschaft, die alles ausgrenzt, was mit Ohnmacht und Funktionseinschränkung zu tun hat, bekommt Trauern manchmal den Beigeschmack eines Hürdenlaufs, der in möglichst kurzer Zeit absolviert werden sollte.

Was kann der Trauernde also tun, um diese schwierige Zeit zu meistern, auch wenn man nicht auf die Hilfe der Gemeinschaft zählen kann, wenn man nicht in der Lage ist, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn eine Entscheidung zu fällen. Am besten sucht man sich, bis man weiß, wie es weitergehen soll, einen Ort, an dem man sich wohlfühlt – das kann das Bett sein, ein entlegenes Hotel, das ehemalige Kinderzimmer im Elternhaus oder ein bestimmter Platz in der Natur –, und lässt dort seinen Gefühlen freien Lauf.

Dieser Haltung ist nicht mit positivem Denken zu verwechseln. Positives Denken versucht sich die Realität zurechtzubiegen und Belastendes schönzureden. Hier geht es nicht um »Trauer light«, sondern darum, die Realität des Todes anzuerkennen und Trauer als natürlichen Prozess zu akzeptieren. Der Tod lässt nicht mit sich handeln und er lässt sich nicht schönreden.

Ein zentrales Thema im Trauerprozess ist das Hinnehmen der Machtlosigkeit, die wir angesichts der Unausweichlichkeit eines Todes oft empfinden. Ebenso zentral ist aber das Thema des aktiven Gestaltens und Tuns, das uns hilft, dieses Gefühl der Machtlosigkeit zu überwinden. Darum ist es so wichtig, in den ersten Stunden nach dem Tod eines uns nahestehenden Menschen so viel wie möglich selbst tun zu können. Der Tod muss begreifbar sein, nicht auf der mentalen, sondern auf der emotionalen Ebene. Besonders dann, wenn ein geliebter Mensch plötzlich stirbt, brauchen die Angehörigen Zeit, um zu erfassen, was geschehen ist. Wenn ein Bestatter den Angehörigen empfiehlt, »den Toten in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn zuletzt gesehen haben«, tut er dies, um sie zu schonen. Aber Trauernde kommen über das Leid und den Schmerz, den ein Tod verursacht, besser hinweg, wenn sie mit allen Sinnen begreifen können, dass etwas Endgültiges, Unumstößliches geschehen ist, dass dieser Mensch nicht wieder lebendig wird.

Darum ist es wichtig für die Hinterbliebenen, nicht nur Augenblicke, sondern Stunden mit dem Toten zu verbringen. Die Erinnerung an diese Zeit, die sie mit ihren Toten verbracht haben, ist für die meisten rückblickend außerordentlich kostbar. Wie lange man sich dafür Zeit nimmt, bleibt jedem selbst überlassen. Der Trauernde wird schon spüren, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, den Sarg zu schließen.

Für ein Essen mit Freunden nimmt man sich Zeit. Soll man dann zum endgültigen Abschied eines Freundes »mal eben hingehen«? Das Bedürfnis der Trauergäste, nach dem Begräbnis ein paar Stunden zusammenzubleiben, ist dann besonders groß, wenn sie eine stimmige Trauerfeier erlebt haben, in der die Persönlichkeit des Verstorbenen wirklich greifbar wurde. Wer später das Gefühl hat, seinem toten Freund sagen zu müssen: »Ich war auf deiner Beerdigung, aber du warst nicht da«, der wurde um seinen Abschied in der Gemeinschaft betrogen.

Der Tod macht sprachlos. Gelebte Trauer kann die lähmende Sprachlosigkeit durchbrechen. Oft wird behauptet, nur das persönliche Gespräch habe eine heilsame Wirkung. Aber das stimmt nicht in jedem Fall. Manch einer kann besser schreiben als reden. Ein anderer fühlt sich freier, wenn er sich mit Unbekannten, die ein ähnliches Schicksal haben, austauschen kann. Menschen treffen sich in Internetforen, um ihre Erfahrungen miteinander zu teilen und gemeinsam zu trauern. Das Wichtigste ist, dass Trauernde ihre Gefühle ausdrücken. Ob sie darüber reden oder schreiben, ob sie sich durch Singen, Malen oder Tanzen ausdrücken – entscheidend ist nur, dass sie nicht stumm bleiben.

Dazu beitragen, dass Trauernde ihre Sprache wiederfinden, kann eine angemessene Trauerbegleitung, der allerdings in Deutschland immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Solange der Verstorbene noch am Leben war, stand er im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit seinem Tod sollte diese Zuwendung jedoch dem Hinterbliebenen gelten. In diesem Moment ist der Arzt nicht mehr der Behandelnde eines Patienten, sondern der Begleiter eines Angehörigen. Er muss den entscheidenden Satz sagen: »Ihr Mann ist tot.« Wo lernen Ärzte, was in dieser Situation Begleitung heißt? Wo lernen Medizinstudenten den Umgang mit dem Tod und den Hinterbliebenen? Sicher nicht in der Anatomie. Hier ist noch viel gesellschaftliche Bewusstseinsarbeit zu leisten, um diejenigen, die beruflich mit Tod und Trauer zu tun haben, zusammenzubringen und auf diese Aufgabe angemessen vorzubereiten.

Was mir vorschwebt, ist eine neue Institution, die alle Spezialisten unter einem Dach vereinigt: Ärzte, Seelsorger, Psychologen, Bestatter und viele andere mehr, an die wir heute vielleicht nicht einmal mehr denken – eine Art »Trauerhospiz«. So, wie in einem Hospiz für Sterbende anders gearbeitet wird als in einer Klinik, stelle ich mir vor, dass in einem Trauerhospiz alle Helfer zusammenarbeiten, um Trauernden mit Beratung und Begleitung beizustehen. Neben einem solchen Trauerhospiz wünsche ich mir eine Friedhofsberatung, die sich um Veränderungen in der Friedhofskultur bemüht. Andere europäische Länder sind uns, was die Freiheit der Gestaltung bei der Bestattung der Toten betrifft, weit voraus. Tote und Trauernde stehen bei uns weit hinten auf der politischen Prioritätenliste.

Eine solche institutionelle Unterstützung kann Wege öffnen hin zu einem kreativen Umgang mit Trauer, indem sie Angehörige ermutigt, neue Formen der Trauer zu leben. Es gehört Mut dazu, Vertrauen in das eigene Handeln zu setzen und sich damit auch in den modernen Sterbewelten der Krankenhäuser durchzusetzen, die solche Spielräume häufig nicht zugestehen.

Wenn wir Tod und Trauer wieder einen Platz im Leben geben, löst sich für Trauernde der Widerspruch auf zwischen unveränderter Außen- und veränderter Innenwelt, und sie sind nicht mehr allein in ihrem Bemühen, sich in dieser veränderten Welt neu einzurichten.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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