Die Kehrseite der Veränderungen

Es ist kein Zufall, dass flexible Organisationen besonderen Wert auf Fähigkeiten im Bereich »zwischenmenschlicher Beziehungen« legen und eigens Trainingsprogramme dafür anbieten. In solchen Institutionen müssen die Menschen mit schlecht definierten Situationen umgehen können. Die von flexiblen Organisationen verlangte soziale Qualifikation besteht in der Fähigkeit, mit andern in Arbeitsgruppen gut zusammenzuarbeiten, die nur für kurze Zeit bestehen und in denen man seine Kollegen nicht genauer kennen lernt. Wird die Arbeitsgruppe aufgelöst und man selbst in eine neue Gruppe versetzt, muss man sehen, dass man möglichst schnell in dem neuen Umfeld zurechtkommt.

Die Zeit rast, und wir rasen mit. In immer kürzeren Abständen müssen immer mehr Veränderungen verarbeitet werden. Wir müssen uns fortlaufend an Situationen anpassen, die nicht beständig sind, und leben in einer instabilen, provisorischen Arbeitswelt. Doch jeder Mensch hat ein eigenes Zeitmaß, wenn es gilt, Verluste zu verarbeiten und sich neu zu orientieren. Die Kehrseite dieses Wandels erleben all jene, die den Anforderungen zeitweise oder auf Dauer nicht gewachsen sind.

Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Arbeitsmedizin und Unternehmensforschung die neue Bedeutung von Angst, psychosomatischen Störungen und Depressionen. Als Heinz Nixdorf auf der Cebit 1986 mit einem Herzinfarkt zusammenbrach, war Burn-out im Management ein öffentliches Thema. Jenseits der Extremfälle gilt: Immer weniger Menschen müssen immer mehr arbeiten. Immer mehr Menschen fühlen sich durch steigende Belastung im Beruf bei knapperen Zeitbudgets unter Druck gesetzt. Die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz wachsen. Der Umsatz an Beruhigungsmitteln und Antidepressiva wächst jährlich um 10 Prozent. Jeder zehnte Fehltag, ermittelte das AOK-Institut, war 2010 auf akute Erschöpfung und Depression zurckzuführen. Im Vergleich zu 1999 ist das ein Anstieg um 80 Prozent. Aus einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse geht hervor, dass gerade Zeitarbeit – bei der seit Jahren die höchsten Wachstumsraten unter den Beschäftigungsformen zu verzeichnen sind – der Gesundheit der Beschäftigten schadet. Im Jahr 2010 war jeder Leiharbeiter in Deutschlang durchschnittlich 15 Tage krankgeschrieben und damit mehr als andere Arbeitnehmer. Die Ursachen dafür lassen sich zum Teil auf das Prinzip der Zeitarbeit selbst zurückführen. Arbeitsplatzunsicherheit, mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten, häufig wechselnde Einsatzorte sowie Niedrigstlöhne gingen offenkundig »auf die Nerven und auf die Knochen«.

Die Gründe für die zunehmenden Belastungen sind nicht allein in den objektiven Bedingungen der Arbeitswelt zu finden. Objektiv betrachtet ist das Arbeiten heute sicherer und verschlingt weniger Zeit als vor Jahrzehnten. Bis Mitte der 1950er Jahre war die Sechs-Tage-Woche die Regel, körperliche Schwerarbeit war verbreitet, Unfälle häufiger. Bestimmungen zum Arbeitsschutz, optimierte und vielfach automatisierte Prozesse haben den Arbeitsplatz weithin zu einem angenehmeren Ort gemacht – an dem immer weniger Zeit verbracht wird. Arbeitsstunden und Arbeitsvolumen haben sich in Deutschland seit 1970 fast jedes Jahr verringert. Leistete damals noch jeder Erwerbstätige in Westdeutschland durchschnittlich 1 966 Arbeitsstunden, waren es 1991 nur noch 1 559 Stunden, und im Jahr 2007 lag der Wert für Gesamtdeutschland bei 1 433 Stunden. Die Produktivität pro Arbeitsstunde verbesserte sich zwischen 1991 und 2007 um rund ein Drittel.

Wie passt das zusammen? Für den Anstieg der seelischen Belastungen am Arbeitsplatz gibt es mehrere Gründe. Durch den Zerfall von Familien und fehlende Bindungen gewinnt die Erwerbsarbeit eine größere Bedeutung. Für viele Menschen ist der Beruf nicht nur Einnahmequelle, sondern er gibt ihrem Leben Sinn und Inhalt. Damit steigt der Druck, perfekt zu funktionieren – und die Enttäuschung, wenn dies nicht genügt oder nicht zum Erfolg führt. Das Scheitern wiegt umso schwerer. Hinzu kommt, dass in einer zunehmend entgrenzten Arbeitswelt die Menschen gefordert sind, selbst Grenzen zu ziehen und persönliche Grenzen zu akzeptieren.

Im Kampf gegen die Verluste, die der Leistungs- und Veränderungsdruck in Unternehmen für Menschen bedeutet, kommt Führungskräften eine Schlüsselrolle zu: Sie müssen in der Lage sein, die Belastung ihrer Mitarbeiter zu erkennen, die Grenzen dieser Belastbarkeit zu akzeptieren, Leiden wahrzunehmen und die Verlusterfahrung in Veränderungsprozessen als »Trauerarbeit« anzuerkennen. Das gilt im besonderen Maße für den Umgang mit Entlassungen, die Menschen sehr oft in eine existenzielle Krise stürzen.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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