Ein Trauerritual ist wie ein Bilderrahmen

An die Stelle von überlieferten Ritualen können persönliche Rituale treten, die jede und jeder Trauernde für sich allein oder mit einem kleinen Kreis vertrauter Menschen erfindet. »Es muss feste Bräuche geben«, sagt der Fuchs in Antoine de Saint-Exupérys Roman Der kleine Prinz. »Es ist das, was einen Tag vom andern unterscheidet, eine Stunde von den anderen Stunden.« Ein Ritual, wie simpel es auch sein mag, zieht eine Grenzlinie um eine Aktivität wie einen Rahmen um ein Bild. Gefühle brauchen einen Rahmen. Um die Kraft zu nutzen, die wir daraus schöpfen können – für uns selbst und andere. Um die Erfahrung des Todes, des Verlusts, der Trennung in eine Stärke zu verwandeln. Indem wir durch sie hindurchgehen. Die Krise bestehen. Die Augen öffnen anstatt sie zu verschließen und die Kraft zu verschwenden, die in der Angst gebunden ist. Wie starke Liebe macht starker Schmerz mutig und angstfrei, zwingt uns innezuhalten und hinzuhören.

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, wie groß das Bedürfnis nach individuellen Abschiedsritualen ist, die die Leere einer genormten Begräbniskultur füllen können. Traditionelle, alte und selbst erfundene, neue Rituale müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Manche Beerdigung besteht aus einer Mischung von alten und neuen Ritualen, und durch den Freiraum, den selbst gestaltete Handlungen eröffnen, bekommen auch die alten Handlungen wieder neue Bedeutung. Solche Rituale können einen Trauerprozess über viele Jahre hinweg begleiten.

Jeder Mensch trauert anders. Folglich soll jeder das machen, was ihm oder ihr in dieser Zeit das stärkste Bedürfnis ist: weinen, mit dem Toten reden, einen Brief schreiben, Musik hören, vielleicht ein Video von der letzten Geburtstagsfeier ansehen. Um den Tod zu begreifen, braucht man die reale Nähe und reale Zeit mit dem Toten. Erfahrene Trauerbegleiter wissen, dass Trauernde vor allem Ermutigung brauchen. Ermutigungen der Art: »Tun Sie genau das, was Ihnen Ihrer Meinung nach guttun könnte.« Auf viele Menschen wirkt das wie eine heilsame Befreiung. Aber Angehörige brauchen auch die Information, dass die letzte Begegnung mit dem Toten nicht etwas ist, das man möglichst schnell hinter sich zu bringen hat. Im Gegenteil. Diese letzte Begegnung ist etwas sehr Kostbares. Die Zeit zwischen dem Tod und der Bestattung besitzt einen besonderen Wert. Anstatt sich auf einen beschleunigten, betäubenden Erledigungsparcours zu begeben, ist es hilfreicher, ausgiebig Abschied zu nehmen. Dieses Abschiednehmen kann sich gerne, wenn möglich, nicht über Stunden, sondern über Tage hinweg erstrecken. Die Bereitschaft Trauernder, aktiv und bewusst zu selbst gewählten Bestattungsformen und als passend empfundenen Trauerritualen beizutragen, wächst erkennbar.

Die Erfahrung, die ein Mensch beim Tod eines ihm Nahestehenden macht, braucht auch die Anerkennung durch andere. Das Sprechen über den gestorbenen Menschen und die Art seines Sterbens ist wichtig. Gedanken und Gefühle, die sich nur in der Vorstellung des Trauernden abspielen, bleiben viel unwirklicher als solche, die mit anderen geteilt werden. In früheren Zeiten war es in der Regel der Pfarrer oder »Seelsorger«, der bei der Bewältigung des Todes Beistand geleistet hat; heute wird diese Rolle zum Teil durch Psychologen, Therapeuten oder auch ausgebildete Trauerbegleiter übernommen – ein klassisches Beispiel dafür, wie sich neue, säkularisierte Formen entwickeln, um Bedürfnisse zu stillen, die die in der religösen Gemeinde nicht mehr mit der früheren Selbstverständlichkeit aufgehoben sind.

Die Entwicklung der Psychotherapie und die Rolle, welche die Psychotherapie, speziell die Psychoanalyse, in unserer modernen Gesellschaft spielt, ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich eine Gesellschaft neue Formen sucht, um religiöse Bedürfnisse zu befriedigen. Verblüffend ist zuweilen, wie im Kaleidoskop der vielfältigen psychotherapeutischen Richtungen und Angebote auch archaische Totenvorstellungen wieder zum Vorschein kommen: So gibt es heute sogenannte »Familienaufstellungen«, in denen die Gegenwärtigkeit auch längst verstorbener Familienangehöriger für die Lösung von Problemen herangezogen wird. Ein Signal dafür, dass auch in der Moderne die Verbindung zwischen den Lebenden und »ihren Toten« weiterlebt.

Ob wir als Trauernde die Wirklichkeit eines Todes begreifen und verarbeiten können, hängt auch davon ab, ob wir in unseren Alltagsbeziehungen, in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft die Unterstützung bekommen, die wir brauchen. Das setzt voraus, dass wir eine Vorstellung davon haben, was Trauer bedeutet. Wir wissen heute so wenig über Trauer, dass sich viele, wenn sie in die Situation kommen, fragen: »Ist mein Verhalten normal?« Zu dieser Verunsicherung trägt eine Reihe von Vorstellungen davon bei, wie Menschen auf einen Todesfall reagieren (sollten). Wahr ist jedoch: Obwohl Hinterbliebene ganz unterschiedlich trauern, ist letztlich fast jeder in der Lage, den Tod eines geliebten Menschen zu verkraften.

»Für die meisten von uns ist Trauer weder erdrückend noch permanent«, sagt George Bonnano, klinischer Psychologe an der New Yorker Columbia University, der seit fast zwanzig Jahren die verschiedensten Aspekte von Trauer erforscht. Bonanno fand (bei aller Variabilität) drei besonders häufige Muster, wie Menschen auf einen schmerzhaften Verlust reagieren: Etwa 10 Prozent verfallen in eine chronische Trauer, ihr Zustand scheint sich im Laufe der Zeit nicht zu bessern, und ihre Sehnsucht nach der geliebten Person nimmt nicht ab. Weitere 10 Prozent der Hinterbliebenen leiden ebenfalls stark unter dem Verlust, jedoch nur einige Monate lang. Danach sind sie psychisch größtenteils wieder gesund, wobei ein Rest von Schmerz bleibt. Den größten Anteil machen nach Bonnano jedoch Personen aus, die über das verfügen, was man als »Resilienz« beschreibt, die also belastbar und stabil sind: Auch sie verspüren zunächst Schmerz und Traurigkeit, doch sie entwickeln die Fähigkeit, diese zu überwinden und zurück ins Leben zu finden. Entscheidend ist, dass sie sich individuell auf einen Prozess der Verarbeitung einlassen.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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