Individuelle Gestaltung statt Pomp

Heute kann ich mich nur über die naiven Vorstellungen wundern, die ich vom Bestattungswesen hatte, als ich ein traditionsreiches Bestattungshaus in Bergisch Gladbach übernahm. Der Tod war für mich von Kindheit an nie etwas Unnatürliches. Auf dem elterlichen Hof bin ich sehr früh mit dem Tod konfrontiert worden. Als ich sechs Jahre alt war, starb meine Oma. Sie hatte an diesem Tag noch nachmittags, wie es auf dem Bauernhof üblich war, mit allen Kaffee getrunken, danach die Milchkanne gespült und meinem Vater mitgeteilt: »Ich fühle mich nicht wohl, ich gehe nach oben.« Sie ging einfach in ihr Zimmer und legte sich ins Bett. Nach einer halben Stunde rief sie ihren Sohn zu sich und sagte: »Ich glaube, es geht dem Ende entgegen. Bitte ruf die Geschwister, ruf den Pastor.« Alle kamen zusammen, und wir konnten von ihr Abschied nehmen. Am Abend, zwei, drei Stunden später, war sie tot. Wir saßen um das Bett herum, es war nichts Bedrückendes, wir beteten, sprachen über sie, und sie blieb bis zum Tag der Beerdigung im Haus. Dann wurde sie abgeholt und von den Nachbarn zu Grabe getragen. Und es war eigentlich ein Fest. Wir Kinder waren traurig, aber wir wurden nicht, wie heute, von dem Leichnam ferngehalten. Wir waren einfach dabei.

Als ich das Bestattungshaus übernahm, hatte ich mir vorgestellt, so oder so ähnlich würden Menschen auch heute noch von ihren Verstorbenen Abschied nehmen. Mir war der Niedergang der Trauerkultur nicht bewusst geworden.

Was mich in meiner neuen beruflichen Heimat am meisten bedrückte, war der Umgang mit den Hinterbliebenen. Ich stellte sehr schnell fest, dass sich in den konventionellen Bestattungshäusern alles ausnahmslos um den Verstorbenen dreht. Die Notwendigkeit, den Angehörigen zu einem persönlichen Abschied, zu einem stimmigen Ritual zu verhelfen, wurde nicht erkannt. Fast alles wird den Hinterbliebenen aus der Hand genommen – es bleibt ihnen nur, über Details zu entscheiden, wie bei einem Autokauf: Vielleicht noch eine Chromleiste, eine Klimaanlage? »Von allem, was den Tod betrifft, stößt mich nichts ab – nur der Pomp, mit dem man ihn umgibt«, schreibt der französische Künstler Jean Cocteau und fährt fort: »Bestattungen verleiden mir die Erinnerung. Beim Begräbnis von Jean Giraudoux sagte ich zu Lestringuez: ›Gehen wir! Er ist nicht gekommen.‹«

Im unternehmerischen Sinne ist das durchaus logisch: Damit der Kunde zahlt, muss man ihm Angebote unterbreiten – nach dem Motto: Jetzt wollen wir mal den Opa richtig ausstaffieren, und eine pompöse Trauerfeier soll er auch haben. Dem Hinterbliebenen wird dadurch signalisiert: Du musst dir dann nicht nachsagen lassen, du hättest deinen Großvater vernachlässigt, ihn gar schlecht behandelt. Denn es ist ja augenfällig, dass du kräftig gezahlt hast. Jeder soll sehen, was er dir wert war. Gar zu viele, die in ihrem Beruf mit Toten zu tun haben, handeln danach.

Ich meine dagegen: Man kann dem Toten nichts Gutes mehr tun. Es ist der Trauernde, der im Mittelpunkt der Bemühungen stehen muss. Natürlich ist es wichtig, dass ein Körper würdig bestattet wird; doch teure Begräbnisse, riesige Kränze, aufwändige Särge und große Anzeigen sind dazu nicht notwendig, sie beeindrucken höchstens die Nachbarn. Von ungelösten Problemen in der Beziehung zum Verstorbenen kann man sich damit nicht freikaufen. Die Hinterbliebenen, nicht die Toten brauchen eine besondere Betreuung. Sie brauchen die Aufforderung: »Traut euch zu trauern! In der Familie, am Arbeitsplatz, auf der Straße. Mutet anderen eure Tränen zu!« Sie müssen in ihrem Wunsch bestärkt werden, die Erinnerung an den Verstorbenen lebendig zu halten, auch wenn ringsum bald tiefes Schweigen herrscht. Sie brauchen die Ermutigung, sich aktiv mit der neuen Realität auseinanderzusetzen, solange die unmittelbare Begegnung mit dem Verstorbenen noch möglich ist. Sie brauchen die Bestätigung, dass ihr Verlust vielleicht der größte, mit nichts zu vergleichende persönliche Verlust ist, ihr ganz persönlicher Katastrophenfall.

Deshalb gilt es, die Trauer wieder aus ihrem Versteck herauszuholen und in die Lebensräume, in den Alltag zurückzubringen. Die Trauer muss aus der Sterilität von Totenkammern und Friedhofskapellen in eine Umgebung zurückgeführt werden, wo das Leben zu Hause ist und wo sie – auch in der Gemeinschaft – erfahrbar gemacht werden kann. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass der Anblick einer Bestattungsfirma Tristesse vermitteln muss. Warum ist das so? Warum muss sich in der Schaufensterdekoration eines Bestattungsunternehmens von heute das Ambiente von Trauerfeiern der 1950er Jahre widerspiegeln? Warum müssen es Büros mit Holztäfelung sein, gediegen, düster, gespenstisch? Warum spricht man mit Kunden, die gerade einen Menschen verloren haben, mit gedämpfter Stimme, als ob es um ein Geheimnis ginge, von dem möglichst niemand etwas erfahren soll? Warum benutzen viele Bestattungsunternehmen bis heute in ihrer Kommunikation eine gefühlsfreie Formelsprache? Es gibt keine zwingenden Gründe für die Art und Weise, wie sich Bestattungsfirmen präsentieren. Es gibt, weit eher, zwingende Gründe, daran etwas zu ändern.

Unsere Gesellschaft hat vieles verlernt, was einmal ganz selbstverständlich zum Umgang mit dem Tod und zur Trauerkultur gehört hat. Gemeinschaftliche Rituale bezogen sich nicht nur auf das Begräbnis, sondern genauso auf das Andenken an den Toten. Mit zunehmender Säkularisierung gibt es immer weniger Totenmessen, Jahresgedächtnisse und andere Anlässe, die es dem Einzelnen ermöglichen, sich in einer Gemeinschaft der Verstorbenen zu erinnern. Erst geht die Form verloren, dann der Inhalt. Heute kommt es uns naiv vor, wenn wir hören, dass man früher ein totes Kind ein Engelchen genannt hat. Aber ob naiv oder nicht, wenigstens wurde das Kind den Eltern gegenüber immer wieder erwähnt. Heute, so scheint es, müssen Eltern große Anstrengungen unternehmen, damit ihr Kind nicht vergessen wird. Die meisten von ihnen haben nicht nur den Verlust zu verkraften, sondern auch die schmerzliche Erfahrung, dass die Umwelt sich so verhält, als habe ihr Kind nie existiert.

Es gibt heute viele Wege, sich seine Toten stehlen zu lassen. Nicht nur durch die Gerichtsmedizin und die Entsorgungsmentalität, sondern auch durch das Schweigen der Gemeinschaft.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
titlepage.xhtml
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_000.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_001.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_002.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_003.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_004.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_005.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_006.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_007.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_008.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_009.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_010.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_011.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_012.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_013.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_014.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_015.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_016.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_017.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_018.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_019.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_020.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_021.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_022.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_023.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_024.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_025.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_026.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_027.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_028.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_029.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_030.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_031.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_032.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_033.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_034.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_035.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_036.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_037.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_038.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_039.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_040.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_041.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_042.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_043.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_044.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_045.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_046.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_047.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_048.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_049.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_050.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_051.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_052.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_053.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_054.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_055.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_056.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_057.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_058.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_059.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_060.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_061.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_062.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_063.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_064.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_065.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_066.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_067.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_068.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_069.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_070.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_071.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_072.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_073.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_074.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_075.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_076.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_077.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_078.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_079.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_080.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_081.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_082.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_083.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_084.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_085.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_086.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_087.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_088.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_089.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_090.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_091.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_092.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_093.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_094.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_095.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_096.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_097.html
CR!BQJMVNDYB90BDFXTJYV2TPG5W2DY_split_098.html