Trauer-Power: Die Kraft der Trauer
In Deutschland wird immer noch viel zu wenig über Tod und Trauer nachgedacht. Wir wollen nichts damit zu tun haben – und leiden zugleich an der Angst vor dem großen Unbekannten, das Sterben und Tod geworden sind. Doch die Trauer ist nicht unser Feind, sondern vielmehr eine Zuflucht, eine Art Schutz, und sie kann, kann man sie annimmt, zu einem positiven Lebensereignis werden. Durch Trauer – und nicht trotz ihrer! – kann es zu Wachstum kommen. Bei Tod und Trauer geht es um ein Grundthema des Menschseins, um den Umgang mit scheinbar unerträglichen Situationen. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf Krisen zu reagieren. Man kann klagen: »Warum passiert gerade mir das? Womit habe ich das verdient? Wie konnte das geschehen? Es ist so schrecklich, das überstehe ich nicht!« Man kann aber auch sagen: »Ich habe nicht erwartet, dass mir so etwas Schreckliches widerfährt. Aber nun ist es geschehen, es liegt nicht in meiner Macht, es ungeschehen zu machen. Vor mir liegt eine äußerst schwierige und schmerzhafte Zeit – was kann ich tun, damit es mir gelingt, sie zu meistern?« Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit auf das Problem und auch auf seine Entstehung zu wenden – schließlich aber auch über die Frage nachzudenken, wie es konkret und praktisch gelöst werden könnte.
Was ist der Sinn der tiefen Traurigkeit, die Hinterbliebene empfinden? Traurigkeit hilft, den Tod eines uns nahestehenden Menschen zu bewältigen, indem sie dafür sorgt, dass der Betroffene die Aufmerksamkeit nach innen richtet. Wer traurig ist, nimmt eine Auszeit und zieht sich aus der Geschäftigkeit des Alltags zurück. Man hat Gelegenheit, in Ruhe nachzudenken und sich dadurch an die neue Situation anzupassen.
Insofern müssen wir Trauern als Kraft begreifen lernen. Wie können wir mit Trauer leben? Können wir überhaupt damit leben? Müssen wir uns wirklich bemühen, so schnell wie möglich mit dem Trauern fertig zu werden, damit wir dann endlich wieder leben können? Oder ist es nicht eher umgekehrt: Dass wir aus der Fähigkeit zu trauern viele Kräfte gewinnen, die unsere Leben bereichern. Denn mit der Trauer leben, statt gegen sie oder um sie herum, ist eine anstrengende, aber heilsame Erfahrung.
Trauerprozesse sind Phasen, die nicht nur mit heftigen Gefühlen verbunden sind. Sie regen uns auch dazu an, Freiräume und neue Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Im Lauf der Trauerjahre verlagert sich der Schwerpunkt des Trauerprozesses. Zunächst sind es die schweren und verlustbetonten Aspekte, später immer mehr das Anerkennen dessen, was ein Mensch mit seinem Leben und Sterben dem eigenen Leben gegeben hat. So wandelt sich auch das, was mitten im Leben von der Trauer sichtbar wird. Ist es zunächst viel Schmerz und Einsamkeit, so werden es im Lauf der Zeit Lebensweisheit, Geduld und die Fähigkeit, mit Erinnerungen umzugehen.
Unser Abschied, unsere letzten Ruhestätten sollen unsere Individualität widerspiegeln.
Wenn wir Wert darauf legen, unseren eigenen Tod zu sterben, den Abschied von unseren Nächsten so individuell zu gestalten, wie wir das eigene Leben leben wollen, dann ist es höchste Zeit, dass wir den Tod nicht mehr aus dem Leben ausklammern und jeden Gedanken daran von uns weisen. Vielmehr sollten wir das, was uns im Zusammenhang mit Sterben und Trauer beunruhigen könnte, endlich einmal zu Ende denken. Es ist hilfreich, sich auch emotional mit dem Tod vertraut zu machen, und zwar rechtzeitig, bevor der Ernstfall eintritt – ein Ernstfall, von dem wir mit absoluter Sicherheit wissen, dass er eines Tages eintreten wird. Eine solche innere Vorbereitung ist Fürsorge und Vorsorge im besten Sinne. Sie sagt uns, mit welchen Entscheidungen uns der Ernstfall konfrontieren wird. Eine Vorbereitung nimmt nicht schon vorweg, wie wir uns entscheiden werden, aber sie verhindert kopfloses Zustimmen und erlaubt stattdessen ein Innehalten. Wenn sich Hinterbliebene in den Zeiten der Trauer wirklich Zeit nehmen, dann werden sie erkennen, was sie brauchen, um den Verlust zu verkraften – und wie sie verhindern, dass aus einem Trauerfall eine Katastrophe wird.
Wer sich mit dem Tod vertraut gemacht hat, ist nicht länger hilflos im Umgang mit Trauernden. Es ist unvermeidbar, dass wir im Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft Menschen begegnen, die einen schweren Verlust erlitten haben und deshalb Verständnis und Beistand brauchen. Häufig ist ihnen schon damit geholfen, dass sie in ihrer Trauer wahrgenommen und nicht gemieden werden.
Wir gewinnen viel, wenn wir uns die Fähigkeit aneignen, mit Krisen und Verlusterfahrungen umzugehen, mit denen wir häufiger denn je konfrontiert sind. Sterben bedeutet für jeden etwas Einzigartiges, dem wir mit Ehrfurcht begegnen sollten, nicht mit Furcht. Der Einfluss, den wir nehmen können, ist der auf unsere Gedanken und inneren Bilder, auf unsere Erfahrungen. Es genügt nicht, sich theoretisch mit dem Thema Sterben auseinanderzusetzen. Das Begreifen des Todes muss eine sinnliche Erfahrung sein. Kein Zweifel: Bilder berühren – aber sie berühren uns persönlich nur für den Moment. Wir müssen dem Tod im Alltag wieder begegnen können, nicht nur virtuell und theoretisch.
Es geht darum, Sterben und Trauer anzunehmen und zurückzubringen in die Mitte der Gesellschaft. Wir müssen uns unserer Toten wieder annehmen, den Tod persönlich nehmen, Feierlichkeiten und Beerdigung selbst aktiv gestalten und, wo nötig, auch bürokratische Hürden in Frage stellen, um bei Gestaltung und Zeitplan mehr Freiraum zu schaffen für den Einzelnen. Trauer ist eine wertvolle Phase der Veränderung und muss als solche angenommen werden. In den folgenden Kapiteln möchte ich zeigen, was man vom Tod und von der Trauer für die Bewältigung von Lebenskrisen lernen kann und was wir gewinnen, wenn wir zu einer neuen Sterbekultur finden; einer Sterbekultur, die den Tod, die Trauer nicht ausgrenzt, sondern zurückholt. Und ich möchte den Menschen, die in ihrem beruflichen Umfeld dem Tod begegnen – Medizinern, Pflegenden, Seelsorgern, Bestattern, Polizisten – Hinweise geben, die sie besser auf den Umgang mit Hinterbliebenen vorbereiten. Ich will dazu ermutigen, die eigenen Handlungsspielräume zu entdecken und sie zu nutzen. Es geht mir darum zu zeigen, was fehlt, wenn der Tod, wenn Trauer in unserer Alltagserfahrung keinen angemessenen Platz mehr einnimmt. Was uns fehlt, wenn es um Sterben, Tod und Trauer geht.
Tod und Trauer haben nicht nur eine private Dimension, sondern auch eine betriebswirtschaftliche und ökonomische, die Argumente dafür liefert, das Thema nicht nur in Sonntagsreden aufzugreifen und es ansonsten auszuklammern. Auch für Unternehmen ist es wichtig, sich mit dem Thema Trauer zu befassen: Betriebsräte, Personalchefs, Betriebsärzte und Manager sind Menschen, deren Kompetenz gefragt ist, wenn ein Mitarbeiter trauert. Wir leben in einer Zeit, in der die Zahl der älteren Arbeitnehmer drastisch ansteigt, in der Burn-out zur Volkskrankheit geworden ist und immer mehr Menschen wegen psychischer Leiden ihrer Arbeit fernbleiben. Wir müssen lernen, was Trauer bedeutet und wie das berufliche Umfeld dazu beitragen kann, den Zeitraum der Beeinträchtigung zu verkürzen und das positive Potenzial im Trauerprozess zu nutzen.
Aus der Begegnung mit dem Tod gewinnen wir wertvolle Einsichten darüber, wie wir die Veränderungsprozesse gestalten können, die wir im Leben zu bewältigen haben. Es ist nicht möglich, den Umgang mit Tod und Trauer isoliert zu betrachten. Er wird beeinflusst von anderen Entwicklungen – und er beeinflusst umgekehrt das Leben in der Gesellschaft. Das heißt: Wenn wir anders mit Tod und Trauer umgehen, dann hat das Folgen, die über diesen Erfahrungsbereich hinausgehen. Wenn wir dem Tod einen Platz im Leben geben, dann verändert sich dieses Leben dadurch. Es verändert sich mindestens so gravierend, wie der Tod das Leben des Einzelnen verändern kann. Die Wiederaneignung des Todes und der Toten hat weitreichende Konsequenzen für die Gesellschaft und ihre Werte.
Es geht darum, dass wir uns Tod und Trauer wieder zu eigen machen und sie in den eigenen Lebens- und Handlungshorizont integrieren, anstatt sie an Experten zu delegieren. Für eine andere Kultur des Sterbens und Trauerns müssen wir selbst die Verantwortung übernehmen, und wir müssen uns bemühen, die fehlende Wirklichkeit des Todes zurückzugewinnen. Dafür braucht es Mut.