Das Individuum und das kollektive Gedenken

Laut Ariès hat die Gesellschaft im 20. Jahrhundert »den Tod ausgebürgert«, »ausgenommen den Tod der großen Staatsmänner«. Auch das Leichenbegängnis verliert, erst in der Stadt, später auch auf dem Land, an Pomp und Glanz. Anstatt zu feiern, bringt man die Sache hinter sich. Es beginnt, was Ariès in seiner Geschichte des Todes die »Medikalisierung« des Todes nennt. Der Kranke verschwindet in der Klinik, man vermeidet die Gerüche, den Anblick. Aus dem einstmals »schönen« Tod wird »der schmutzige, der unerträgliche, den Einzelnen überfordernde Tod«. Das Krankenhaus wird zum »Ort des normalen Todes«. Dem entspricht, dass es unschicklich wird, Trauer zu zeigen. Das Ideal ist die unbewegte Miene.

Der Tod prägt nicht nur das Verständnis vom Menschen, sondern bildet die Grundlage der kollektiven Erinnerung oder der für jede Kultur charakteristischen »Gedächtniskultur«, wie es Jan Assmann in Das kulturelle Gedächtnis ausdrückt: »Der Tod ist die Ur-Erfahrung solcher Differenz [zwischen Gestern und Heute], und die an den Toten sich knüpfende Erinnerung [ist] die Urform kultureller Erinnerung.« Die Geschichte der Erinnerung überschneidet sich an vielen Punkten mit der Geschichte des Todes.

Die zahllosen Kriege des 20. Jahrhunderts, insbesondere die beiden Weltkriege und die großen Genozide, vor allem die Vernichtung der kontinentaleuropäischen Juden, haben viel kreative Nachdenklichkeit über die Formen kollektiven Totengedenkens angeregt. Die Erinnerung an die zahllosen Opfer verband sich mit der Frage, inwieweit über den Tod der Vielen hinaus auch deren Individualität präsent bleiben kann. Schon in den politischen Totenkulten des 19. und 20. Jahrhunderts war neben dem »unbekannten Soldaten« immer auch der Einzelnen gedacht worden, beispielsweise in den lokalen Gefallenenlisten auf Erinnerungstafeln in den Kirchen (oder den Vorräumen der Kirchen), auf Friedhöfen oder an Gedenkorten der Gemeinde wie dem Kriegerdenkmal vor dem Rathaus oder einem anderen zentralen Platz von Stadt und Dorf.

Das Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C. verknüpft die kollektive Erinnerung an die toten Soldaten besonders überzeugend mit dem Gedenken an die Menschen als Individuen, sind auf der 150 Meter langen schwarzen Granitwand doch die Namen aller amerikanischen Vietnamkriegstoten in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, sodass sich hier individualisierte Erinnerungspraktiken entwickeln konnten: Viele Angehörige und Freunde zeichneten den Namen »ihres« Opfers auf Papier nach. Steven Spielberg ließ sich vom Vietnam Veterans Memorial dazu inspirieren, mit Hilfe seiner Shoah Foundation Namen, Lebens- und Leidensgeschichten der in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordeten Juden soweit noch möglich digital zu archivieren – eine symbolische Rettung des Individuums vor der radikalsten Form der Entindividualisierung.

Spielbergs digitales Gedächtnis, der Versuch, den Millionen anonymen Opfern der Shoah ihre Individualität zurückzugeben, regte zahllose andere dazu an, das Netz als einen globalen, für höchst unterschiedliche Erinnerungsformen offenen Gedenkort zu gestalten. Inzwischen finden sich hier »Halls of Memory« und »Internet Cemeteries«, in denen Verstorbener individuell gedacht werden kann – durch Lebensläufe, Bilder, autobiografische Texte, Erinnerungszeugnisse von Verwandten und Freunden. Traueranzeigen im Netz nehmen ebenso zu wie diese virtuellen Gedenkorte.

In einem Diskussionspapier im März 2004 über die vielen neuen Herausforderungen evangelischer Bestattungskultur hat das Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland denn auch jede pauschale Kritik der Virtualisierung des Totengedenkens vermieden und auf jüdische wie christliche Wurzeln digitalisierter Memoriae hingewiesen: »Das ewige Gedächtnis der Toten, bisher als Fähigkeit Gottes gesagt und als Glaubenstrost verkündet, wird gleichsam computeranimiert rekonstruiert … . Die Entwicklung läuft zu auf einen Abschied vom konkreten Grabmal bei gleichzeitiger ›Verewigung‹ der individuellen Biografien in medialer Form.« Gerade in diesen Individualisierungschancen liegt die große Faszination digitalisierten Totengedenkens. Jeder Einzelne kann hier insoweit ein postmortales Leben gewinnen, als er in zentralen (auto-)biografischen Zeugnissen digital präsent bleibt.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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