»Outsourcing« des Sterbens

Sonntagabend, kurz nach acht. Ein Arm ragt aus dem Gebüsch, getrocknetes Blut. »Können Sie schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?« »Gestern abend zwischen acht und zehn, Genaueres nach der Obduktion.« Die Kommissare stapfen zu ihrem Wagen – der Tatort im Ersten beginnt. Das ist der Tod, wie wir ihn kennen. Allabendlich wird in Deutschland gestorben, allabendlich begegnen wir dem Tod als Verbrechen, für das es einen Schuldigen gibt. Diesen Tod werden die wenigsten sterben. Doch der Tod, wie ihn heute immer mehr Menschen erleben, hat durchaus Gemeinsamkeiten mit dem Fernsehkrimi: Das Ende des Lebens ist zur Kampfzone geworden. Zu einem Kampf, den wir immer seltener selbst kämpfen, bei dem die Regie in fremden Händen liegt.

»Als ich ihn zum letzten Mal durch die Glasscheiben eines aseptischen Zimmers sah und mich ihm nur mit Hilfe einer Sprechanlage verständlich machen konnte, lag er auf einem Rollbett, mit zwei Inhalationsschläuchen in den Nasenlöchern, mit einem Atmungsschlauch im Mund, mit irgendeinem Apparat zur Herzmassage, den einen Arm an eine Perfusions-, den anderen an eine Transfusionsverbindung angeschlossen und am Bein den Anschluss für die künstliche Niere … Da sah ich, dass Pater de Dainville die festgeschnürten Arme befreite und sich die Atemmaske abriss. Er sagte mir – und das waren, glaube ich, seine letzten Worte, bevor er im Koma versank: ›Ich werde um meinen Tod betrogen.‹« Diese Szene, die der Historiker Philippe Ariès in seinen Studien zur Geschichte des Todes im Abendland beschreibt, ist für viele Menschen ein Schreckensszenario. Bis heute wünschen sich die meisten Menschen, zu Hause zu sterben, im Kreis der Familie, möglichst schmerzfrei und schnell. Fast genauso viele Menschen sterben anderswo, im Krankenhaus oder Pflegeheim und – viel zu selten – im Hospiz. Und sie sterben wie Pater de Dainville: einen enteigneten Tod.

Zwei innere Bilder stehen sich heute gegenüber: das Ideal vom »natürlichen Tod«, bei dem man sanft entschlummert, am liebsten zu Hause im Kreis der Lieben, und das medizinische Horrorszenario vom einsamen Sterben auf der Intensivstation. Fast jeder möchte daheim sterben, aber nur jedem Vierten ist dies vergönnt; mehr als die Hälfte der Sterbenden beenden ihr Leben in einem Krankenhaus, ein Viertel in einem Alten- oder Pflegeheim. Die meisten Menschen sterben heute in einer Institution, auch wenn sie wie 70 Prozent aller Pflegebedürftigen in Deutschland zuvor von Angehörigen mit Unterstützung ambulanter Fachkräfte gepflegt wurden. Nicht nur für Deutschland, sondern für nahezu alle industrialisierten Regionen der Welt gilt: Die Professionalisierung des Umgangs mit Krankheit, Leiden und Sterben hat dazu beigetragen, dass der Tod aus unserer Alltagserfahrung verschwunden ist.

Nach der Definition des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton ist die Medizin eine Institution, von der Gesellschaft geschaffen, um ihre Mitglieder von der Beunruhigung durch Krankheit und Sterben zu entlasten. Sie verbirgt den Anblick des Sterbenden hinter ihren Mauern und gibt die Beschäftigung mit dem Problem an Experten ab, die ihrerseits Mittel und Wege finden, sich das Thema vom Leibe zu halten: »Das Entsetzen darüber, dass ein Mensch sich im Sterben in einen bloßen Körper verwandelt, kann ferngehalten werden, wenn man sich von Anfang an nur für den Körper interessiert«, merkt der schwedische Psychiater Per Christian Jersild an.

In manchen Rettungsleitstellen, berichtet der Intensivmediziner Michael de Ridder, kommt mittlerweile die Hälfte aller Einweisungen aus Pflegeheimen. Niemand möchte sich einer Unterlassung schuldig machen, weder Pflegekräften noch Angehörigen noch Ärzten ist die schwierige Entscheidung zuzumuten, ob es sich womöglich noch um eine behandelbare Krankheit handelt, wenn ein Hochbetagter eine Herzschwäche oder eine Lungenentzündung erleidet – beides noch vor wenigen Jahrzehnten als »natürliche Todesursachen« angesehen – oder um ein »natürliches Sterben«.

Mittlerweile hat man den Einsatz medizinischer Intensivmaßnahmen sowohl auf chronisch kranke Menschen ausgeweitet als auch auf Menschen, die an den Grenzen ihres Lebens angekommen sind. Kaum jemand stirbt ohne Infusion oder künstliche Ernährung: »Im Extremfall schockt man jemanden mit einem Tumor im Endstadium ins Leben zurück«, stellt de Ridder fest. Rund 100 000 Menschen in Deutschland leben mit einer PEG-Sonde, obwohl zahlreiche Studien belegen, dass die PEG in der Endphase des Lebens weder das Leben verlängert noch die Lebensqualität verbessert. Einfach so zu sterben ist nicht mehr vorgesehen. Der Tod wird, wie so vieles, »hergestellt«.

Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, den Rettungswagen zu rufen, wenn die Großmutter über Tage hinweg stiller wurde, weniger Appetit hatte und oft auch ahnte, dass es »zu Ende« ging. Kaum einer würde es heute wagen, solche Signale als Beginn eines Sterbens zu deuten. Nur noch in den wenigsten Familien leben mehrere Generationen zusammen und können so Erfahrungen mit Altern, Sterben und Tod machen.

Dort, wo die Traditionen schwächer werden, entstehen Freiräume, die zur Entscheidung auffordern. In der Frage, wann Leben endet und Sterben beginnt, verlassen wir uns seit langem auf medizinische Definitionen; in der Frage, wie wir mit den Toten umgehen, rücken ökonomische Aspekte in den Vordergrund. Was wir erleben, ist eine Enteignung: Technik, Konventionen und Standards regieren dort, wo wir nicht (mehr) steuern und gestalten können und wollen. Die modernen, westlichen Gesellschaften tun so, als müssten – als könnten! – sie Tod und (individuelles) Leid aus der Welt schaffen.

Der faustische Ausruf »Zwei Seelen, ach, wohnen in meiner Brust« bringt das Verhältnis der Deutschen zu Tod und Sterben auf den Punkt: Der Normalfall eines langsamen, medikalisierten Sterbens im Krankenhaus wird, wenn es um den eigenen Vater oder die Mutter geht, fast immer klaglos akzeptiert. Den eigenen Tod wollen sich die wenigsten so vorstellen, wenn man die Diskussionen um Patientenverfügungen und ein »Sterben in Würde« ernst nimmt. Für viele stellt sich die Frage, was wir verloren haben, seit es möglich ist, das Lebensende medizintechnisch immer länger hinauszuzögern.

Innerhalb nur einer Generation ist der reale Tod aus unserer Alltagserfahrung verschwunden. Die meisten Jugendlichen haben zwar schon Tausende sterben sehen – allerdings nur auf der Leinwand. Einen echten toten Körper haben die wenigsten schon einmal gesehen. Die Großmutter stirbt im Pflegeheim oder in der Klinik. Sie wird vom Bestatter abgeholt, der uns manchmal Gelegenheit gibt, sie vor der Einäscherung noch einmal zu sehen. So sehr wir im Leben auf Individualität Wert legen, so selten fordern wir als Angehörige im Umgang mit »unseren« Toten, mit unserer Trauer, dieses Recht ein. Die Ausgrenzung des Sterbens aus der Alltagserfahrung, die Auslagerung und Enteignung des Todes findet im Umgang mit den Toten einen nahtlosen Anschluss.

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur
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