37
Beth lag stundenlang weinend auf dem Haufen Bettzeug. Da die Fahrscheine noch immer auf dem Schminktisch lagen, schien offensichtlich, dass Jack wollte, dass sie am Morgen das Schiff nahm. Auf diese Weise war er frei und konnte mit dieser geistesgestörten Männer-Bruderschaft gehen, die ihr Leben lieber in stinkenden Hütten an einsamen Orten verbrachte und davon träumte, Gold zu finden, als eine Frau und Kinder zu haben, die sie liebten.
Sie durchlebte noch einmal die letzten zwei Wochen und versuchte herauszufinden, ob sie etwas übersehen hatte; ein Zeichen, dass sie Jack nicht so viel bedeutete, wie sie glaubte.
Da war jener Moment, wo sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebe, und er nicht sofort erwidert hatte, dass er sie ebenfalls liebe. Doch damals hatte sie geglaubt, dass er sie nur necken wollte.
Sie wusste, dass er draußen in Bonanza glücklich gewesen war, und vielleicht war es anmaßend von ihr gewesen zu glauben, dass er noch glücklicher mit ihr zusammen in der Welt da draußen sein konnte. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, hatte er nie wirklich darüber gesprochen, was er machen wollte, wenn sie Dawson verließen.
Sein Schweigen auf der Bootsfahrt nach Dawson wirkte jetzt auch verdächtig. Sie hatte geglaubt, er wäre einfach nur fassungslos darüber gewesen, dass Oz ihm so viel Geld gegeben hatte. Aber was, wenn er das Gefühl gehabt hatte, in eine Falle getappt zu sein?
Das wirkte lächerlich, aber vielleicht war für einen Mann, der das einfache Leben in der Einsamkeit liebte, die Aussicht, in einem richtigen Haus zu leben, umgeben von biederen, anständigen Leuten, etwas ganz Trostloses.
Er hätte doch aber sicher mit ihr über seine Ängste sprechen können? Also hatte er sich vielleicht erst im Monte Carlo von ihr zurückgezogen? Als Percy Turnball davon sprach, dass sie eine Legende sei, vielleicht hatte Jack da befürchtet, dass er immer in ihrem Schatten stehen würde? Dass er alles um ihr Spielen herum organisieren musste und niemals wieder frei wählen konnte, wie er leben wollte?
Aber warum sollte er das glauben? Sie dachte, sie hätte ihm deutlich genug gemacht, dass ihr nichts so wichtig war wie er. Selbst das Geigespielen war zweitranging; sie hätte gerne auch nur für ihn gespielt und sehnte sich nicht mehr nach Publikum.
Wäre er gegangen, wenn sie ihm gesagt hätte, dass sie glaubte, von ihm schwanger zu sein?
Am frühen Abend ließ ihr Stolz Beth wieder vom Boden aufstehen.
»Wenn er lieber in der Arktis mit einem Haufen von Verrückten rumläuft, als mit mir mit dem Schiff nach Vancouver zu fahren, dann ist das seine Sache«, sagte sie zu sich selbst.
Sie wuchtete die Matratze zurück auf das Bett und warf die Laken darüber, wusch sich das Gesicht in dem Becken und betrachtete finster ihre geschwollenen Augen.
»Du wirst nicht mehr weinen«, erklärte sie ihrem Spiegelbild. »Du gehst jetzt ins Esszimmer, isst etwas Gutes, dann packst du deine Sachen, damit du morgen reisefertig bist. Du wirst dir nicht anmerken lassen, dass es dir etwas ausmacht, dass er dich verlassen hat.«
»Könnte mir wohl jemand helfen, mein Gepäck zum Schiff zu tragen, bitte?«, bat Beth den Hotelmanager, als sie am nächsten Morgen die Rechnung bezahlte.
In der Lobby wimmelte es von Leuten, die nach Nome wollten, und obwohl kaum einer von ihnen aussah, als könnte er einen arktischen Winter überstehen, schienen sie wie die Schafe denen hinterherzulaufen, die schon gegangen waren.
»Natürlich, Miss Bolton«, erwiderte der Manager und lächelte sie schleimig an. »Wird Mr Child dort auf Sie warten?«
»Ja, das wird er. Er hat noch einige Geschäfte zu erledigen«, sagte sie, wütend darüber, dass dieser verschlagene Widerling sie extra Miss Bolton genannt hatte, um ihr zu zeigen, dass er wusste, dass sie nicht mit Jack verheiratet war.
Sie hatte Jacks neue Sachen eingepackt, denn wenn sie sie im Zimmer zurückließ, würde offensichtlich sein, dass er sie verlassen hatte, aber sie nahm an, dass der Manager es bereits wusste und ihren Kummer genoss.
Der Page ging hinter ihr her über die Front Street und zog einen Handkarren mit ihrem Gepäck hinter sich her. Die Straße war voller Leute, die Dawson verließen, und sie ging davon aus, dass das Schiff schrecklich überfüllt sein würde, da die Kapitäne wie alle anderen gerne schnelles Geld machten. Aber zumindest würden die zusätzlichen Passagiere nur bis St. Michael mitfahren, um sich von dort einen anderen Weg zu ihrem Ziel zu suchen.
Beth hielt den Kopf hoch, während sie ging. Ihr Herz war vielleicht gebrochen, aber sie wusste, dass sie gut aussah in ihrem neuen Kostüm und mit den unter dem Hut hochgesteckten Haaren. Trotzdem fürchtete sie, irgendwelche Bekannten zu treffen, denn die würden sich ganz sicher erkundigen, wo Jack war.
Die Maybelline war ein kleiner, aber robust aussehender Dampfer und noch relativ neu, anders als die meisten Schiffe, die während des vergangenen Jahres in Betrieb genommen worden waren. Ein Mitglied der Mannschaft trug Beths Gepäck und zeigte ihr ihre Kabine, die auf dem Oberdeck lag. Sie war klein, mit nur wenigen Zentimetern Platz neben den Betten, aber da sie aus eigener Erfahrung wusste, wie eng es auf den beiden unteren Decks war, machte ihr das nichts aus. Sie legte ihr Gepäck auf das untere Klappbett und kletterte auf das obere, wo sie sich ausstreckte und die Szene am Kai durch das kleine Bullauge beobachtete.
Wenn sie nicht so unglücklich gewesen wäre, dann hätte sie vielleicht darüber gelacht, dass so viele Leute darum kämpften, das vordere Ende der Schlange für die Fahrscheine zu erreichen, um dann zu versuchen, die Mannschaft zu bestechen, sie mit an Bord zu nehmen. Sie verstand diese Verzweiflung nicht. Nur Leute, die man liebte, waren es wert, dass man um sie kämpfte. Sie hätte mit Klauen und Zähnen um Sam gekämpft und auf jedes Vermögen verzichtet, wenn Molly dadurch in England gesund hätte weiterleben können.
Das Boot erzitterte unter dem Geräusch der Nagelschuhe, die über das Deck stampften. Vor ihrer Kabine konnte sie einen Mann sich mit lauter Stimme darüber beschweren hören, dass seine Kabine zu klein sei, und wie ein Mitglied der Mannschaft ihm unmissverständlich erklärte, dass er gerne von Bord gehen und den Fahrschein für das Doppelte an jemand anderen verkaufen könne, wenn sie ihm nicht gefiele.
Dann mischte sich eine Frau ein, die erklärte, es sei eine Schande, dass das Schiff so überfüllt war. Sie bekam eine ähnliche Antwort wie der Mann, der sich beschwert hatte.
Beth stieg von ihrer Liege herunter, als sie das Schiffshorn hörte, das die letzten Nachzügler an Bord rief. Sie hatte das Gefühl, einen letzten Blick auf den Ort werfen zu müssen, zu dem sie vor zwei Jahren mit solcher Vorfreude aufgebrochen war.
Das Fenster war nur ein Quadratfuß großes Stück Glas und ließ sich nicht öffnen, deshalb war ihre Sicht auf das begrenzt, was sich direkt davor befand: Sie sah nur eine Gruppe von jungen Männern mit Seesäcken, schweren Mänteln und Schaufeln, die immer noch darauf hoffte, vielleicht in letzter Minute mitfahren zu dürfen. Hinter ihnen lag ein Saloon, und die vielen Schnitzereien, die die Fassade schmückten, schienen darauf hinzudeuten, dass er innen genauso üppig ausgestattet war. Aber das täuschte; drinnen war es nur eine Hütte, und Tränen stiegen Beth in die Augen, denn das schien ein Symbol für ihre Beziehung zu Jack zu sein. Sie hatte geglaubt, mit ihm die wahre Liebe gefunden zu haben, dass er keine falsche Fassade hatte, dass es bei ihm keine Tricks und Betrügereien gab. Honest Jack, ein Mann, auf den sie sich verlassen konnte, der ihr Freund, ihr Geliebter, ihr Ein und Alles war.
Sie war jetzt sicher, dass sein Baby in ihr wuchs, denn ihr war wieder übel geworden, als sie heute Morgen den Kaffeeduft gerochen hatte. Sie wusste, dass sie das Baby trotz Jacks Verrat lieben würde. Vielleicht würde sie ihm mit der Zeit sogar vergeben. Aber sie wusste auch, dass sie, solange sie lebte, niemals wieder einem Mann vertrauen würde.
Weil Tränen in ihren Augen schwammen, war ihre Sicht undeutlich. Sie sah einen Mann an den Männern in der Schlange vorbeirennen, und obwohl er nur für eine kurze Sekunde in ihrem Blickfeld gewesen war, hatte sie den flüchtigen Eindruck, dass er groß war und dunkles Haar hatte. Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, doch sie wandte sich vom Fenster ab, wütend darüber, dass sie sich vorgestellt hatte, es wäre Jack.
Aber dann hörte sie jemanden rufen, und sie spitzte die Ohren, denn der Mann, der schrie, dass seine Frau seinen Fahrschein habe, klang genau wie Jack.
Sie stürmte durch die Kabinentür und rannte, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter auf das überfüllte untere Deck. Passagiere und Gepäck nahmen jeden Zentimeter Platz ein, aber dahinter konnte sie sehen, dass die Mannschaft bereits die Planken eingezogen und die Leinen losgemacht hatte. Auf dem Kai stand Jack, rot im Gesicht und wütend, während das Schiff sich langsam von ihm entfernte.
»Das ist mein Mann«, schrie sie und sprang über Koffer und Seesäcke und stieß Leute beiseite. »Lassen Sie ihn an Bord, bitte!«
Die Mannschaft sah sich überrascht um. Jack ging ein paar Schritte zurück, dann rannte er nach vorn und sprang zum Schiff hinüber.
Ein kollektives Aufkeuchen kam von den Passagieren des Unterdecks, denn die Lücke zwischen dem Schiff und dem Kai wurde rasch breiter.
Beth legte die Hand auf den Mund, denn Jack schien für einen Moment in der Luft zu hängen, und es sah aus, als würde er ganz sicher ins Wasser fallen. Aber er landete gerade noch so auf dem Schiff und fiel nach vorn auf die Knie.
Er war dreckig und unrasiert, aber Beth fand ihn wunderschön. Sie rannte nach vorn, die Arme ausgestreckt, um ihn zu umarmen.
»Gott sei Dank habe ich es noch geschafft«, keuchte er, als sie zu ihm rannte. »Du musst gedacht haben, ich hätte dich verlassen.«
Zehn Minuten später in ihrer Kabine war Jack noch immer außer Atem. »Ich musste zu Oz«, schnaufte er. »Er wurde angegriffen. Willy the Whistle schaffte es nicht, ihn alleine in sein Boot zu hieven.«
Es dauerte noch ein bisschen, bevor er wieder zu Atem kam und ihr alles erklären konnte. Er war an jenem Abend auf dem Rückweg zum Hotel, als Willy the Whistle (der so genannt wurde, weil er die Tinwhistle spielen konnte), ein alter Veteran, der schon lange vor dem großen Massenansturm Gold um Dawson herum geschürft hatte, ihm zurief, er solle stehen bleiben.
Früher an dem Abend war Willy in seiner Hütte im Wald gewesen, ungefähr sechs oder sieben Kilometer von Oz’ Claim entfernt, als er Hunde bellen und an seiner Tür scharren hörte. Er erkannte sofort, dass es Flash und Silver waren, und er wusste, dass sie gekommen waren, um Hilfe zu holen, deshalb folgte er ihnen durch den Wald. Ungefähr zwei Kilometer entfernt fand er Oz, der schlimm zugerichtet im Unterholz lag. Er war kaum noch bei Bewusstsein und blutete aus einer Stichwunde in der Brust.
Willy war nur ein schmächtiger Mann, und obwohl er es schaffte, eine behelfsmäßige Bahre zusammenzuzimmern und Oz mithilfe der Hunde, die sie zogen, zu seiner Hütte zu schaffen, wusste er, dass er nicht stark genug war, Oz bis zu seinem Boot zu schleppen und hineinzulegen. Deshalb drückte er ein altes Handtuch auf Oz’ Wunde, gab ihm Whiskey und ließ ihn bei den Hunden zurück. Dann ruderte er nach Dawson, um Hilfe zu holen.
Jack erklärte, dass er ins Hotel zurückgekommen war, um sich seine alten Sachen anzuziehen, aber da er es so eilig hatte und glaubte, am Morgen längst wieder zurück zu sein, hinterließ er keine Nachricht oder weckte Beth.
Als er und Willy an der Hütte ankamen, war es immer noch dunkel, aber nachdem er Oz untersucht hatte, war Jack sich sicher, dass er einen Transport im Boot zum Krankenhaus nicht überleben würde. Also verband er ihn, so gut er konnte, und schickte Willy los, der einen Arzt holen sollte, während er dortblieb.
»Ich habe ihm gesagt, dass er zu dir gehen und dir erzählen soll, was passiert ist«, sagte Jack. »Aber der Idiot hat auf dem Weg fast eine ganze Flasche Whiskey gesoffen, ist eingeschlafen und an Dawson vorbeigetrieben. Ich saß in Willys Hütte fest, ohne Boot, um Hilfe zu holen, aber ich hätte Oz ohnehin nicht alleine lassen können. Als Willy endlich aufwachte, wie ein Wahnsinniger gegen die Strömung zurück nach Dawson ruderte und einen Arzt holte, war es schon spät in der Nacht. Der Arzt kam im Morgengrauen mit einem anderen Mann in seinem eigenen Boot, und ich fuhr mit ihnen zurück. Nachdem Oz im Hospital war, rannte ich ins Fairview, aber du warst schon weg.«
»Ich dachte, du hättest mich verlassen und wärst nach Nome gegangen.« Beth schämte sich jetzt, dass sie an ihm gezweifelt hatte, denn das Blut und der Dreck an seinen Sachen und seine Erschöpfung waren Beweis genug, dass er die Wahrheit sagte.
»Wie konntest du das glauben?«, rief er und sah sie verletzt an. »Weißt du denn nicht, dass du für mich das Wichtigste auf der Welt bist? Ich würde dich nicht gegen eine Tonne Gold eintauschen. Ich liebe dich, Beth.«
»Aber du hattest deine Werkzeugtasche und das Geld mitgenommen«, sagte sie schwach. »Was hätte ich denn denken sollen?«
»Ich hatte mein Werkzeug mitgenommen, für den Fall, dass ich es brauche«, erklärte er. »Aber das Geld habe ich nicht mitgenommen. Das lag im Fairview im Safe.«
Er griff in sein Hemd und holte den Geldbeutel heraus. »Ich habe es in den Safe gelegt, nachdem ich dir das Geld für das Kleid gegeben hatte. Es hatte sich schon rumgesprochen, dass Oz so großzügig zu mir gewesen war, und ich hatte Angst, dass man uns beraubt.«
»Das hat mir der Manager nicht gesagt«, erwiderte sie.
Jack schüttelte ungläubig den Kopf. »Dieses miese Schwein«, zischte er. »Ich wette, er hat gehofft, dass ich nicht zurückkomme und dass er es behalten kann. Ich bin, so schnell ich konnte, hergelaufen, ich hatte nicht mal Zeit, mich zu waschen. Und jetzt kann ich dich nicht mal in den Arm nehmen, um es wiedergutzumachen, weil ich dann dein hübsches Kostüm ruiniere.«
»Ich hole dir Wasser zum Waschen, und ich habe deine Sachen mitgenommen, weil ich nicht wollte, dass jemand erfährt, dass du mich verlassen hast.«
Jack lächelte. »Dich verlassen! Wenn ich hätte schwimmen müssen, um das Schiff noch zu kriegen, dann hätte ich das getan.«
Beth spürte, wie all die Anspannung und der Schmerz von ihr abfielen. »Wie geht es Oz jetzt?«
»Er wird es schaffen. Die Brustwunde musste genäht werden, und die Mounties werden die Kerle kriegen, die das getan haben. Zum Glück hat er das Geld in der Bank hier in Dawson gelassen, und er hat sogar die Nuggets, die ich gefunden habe, in einen Beutel gesteckt und ihn an Flashs Halsband festgemacht.«
»Aber warum haben die Hunde Oz nicht verteidigt?«, fragte sie.
»Willy und ich haben darüber auch gerätselt. Aber Oz war auf dem Weg ins Krankenhaus kurz bei Bewusstsein und hat uns erzählt, dass er mit zwei Typen, die er für Freunde hielt, in deren Hütte Whiskey getrunken hat. Die Hütte liegt ungefähr anderthalb Kilometer von Willys Hütte entfernt, und er hatte die Hunde draußen angebunden. Ich schätze, die Männer dachten, Oz hätte das Geld bei sich, und in ihrer Gier fielen sie über ihn her. Aber sie verschwanden, als sie feststellten, dass es bei ihm nichts zu holen gibt, und Oz kroch nach draußen und machte die Hunde los.«
»Schöne Freunde!«, rief Beth. »Wenn die Hunde nicht so clever gewesen wären, dann wäre er da draußen vielleicht gestorben.«
Beth holte für Jack einen Eimer Wasser, damit er sich waschen konnte, und als er wieder sauber war, umarmte und küsste er sie. »Ich würde dir gerne zeigen, wie sehr ich dich liebe«, sagte er leise. »Aber nach zwei durchwachten Nächten fürchte ich, dass ich dazu nicht in der Lage bin.«
Beth ließ ihn schlafen und ging hinauf auf das Oberdeck, um sich den Fluss anzusehen. Man hatte ihr erzählt, dass Yukon das indianische Wort für »Größter« sei, und sie fand den Namen passend, denn der Fluss war über dreitausend Kilometer lang und hatte tiefe und schmale Stellen, die sich in scharfen Kurven durch Canyons wanden, genauso wie kilometerbreite, die über flaches Land flossen. Das Gletscherwasser war in den Stromschnellen so kalt, dass ein Mann, wenn er hineinfiel, allein deswegen starb oder innerhalb von Minuten von der starken und tödlichen Strömung auf den Grund gezogen wurde.
Aber er war auch wunderschön, manchmal smaragdgrün, manchmal türkis. Karibus und Elche wateten durch die flachen Stellen, Enten und Gänse schwammen im ruhigeren Wasser, und Schwalben nisteten an den Ufern. Doch sie hatte den Fluss auch im Winter geliebt, wenn das Eis über einen Meter dick war und sie und Jack mit einem von Flash und Silver gezogenen Schlitten über die huckelige Oberfläche gefahren waren.
Sie betrachtete die anderen Passagiere, die auf den Decks saßen, eingepfercht zwischen ihrem Gepäck, und bemitleidete sie, weil sie die Schönheit dieses Landes nicht sehen konnten und es nur ausbeuten wollten.
Hierherzukommen hatte sie alles gelehrt, was sie wissen musste. Ein ganzes Leben in England oder New York hätte sie niemals auf so harte Weise auf die Probe gestellt und ihr so viel beigebracht wie die zwei Jahre, die sie hier verbracht hatte. Sie konnte jetzt ohne jeden Komfort leben, aus allem eine Mahlzeit zubereiten, und sie wusste, dass der menschliche Körper zu viel mehr in der Lage war, als die Leute dachten.
Aber die größte und wichtigste Erkenntnis, etwas, das sie erst heute wirklich begriffen hatte, war, dass sie jetzt wusste, wer sie war, und dass sie allein zurechtkam. Sie war entsetzt und furchtbar traurig gewesen, als sie dachte, Jack wäre weggelaufen und hätte sie verlassen, doch die Aussicht, auf sich selbst gestellt zu sein, hatte ihr keine Angst gemacht.
Letzte Nacht beim Packen hatte sie das Gefühl gehabt, dass es nicht mehr war als das traurige Ende eines Kapitels und dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ein neues aufzuschlagen. Sie wusste, dass sie eine Wohnung und Arbeit finden würde, wenn sie in Vancouver ankamen. Sie wäre dort nicht zusammengebrochen, nur weil sie allein war.
Selbst die Aussicht, ihr Kind alleine großzuziehen, hatte sie nicht erschreckt. Sie hätte sich um der Konventionen willen vielleicht Mrs genannt, aber nicht, weil sie sich schämte. Sie war eine Musikerin, und eine gute dazu, und sie würde immer irgendwo Arbeit finden.
Natürlich war sie überglücklich und erleichtert, dass Jack zurückgekommen war. Aber irgendwie war sie auch froh darüber, dass sie diese Chance bekommen hatte zu erkennen, was für eine starke, würdevolle und patente Frau sie geworden war.
»Wann soll ich ihm das mit dem Baby sagen?«, murmelte sie zu sich selbst und legte ihre Hand unter ihrer Jacke auf ihren Bauch. Sie war sicher, dass da eins war, aber vielleicht war es besser zu warten, bis der Arzt es bestätigte.
Jack wachte erst wieder auf, als die Sonne schon sank. Er öffnete die Augen, als Beth in die Kabine kam, und lächelte.
»Geht es dir besser?« Sie beugte sich über ihn und streichelte sein Gesicht.
»Jetzt, wo ich wieder bei dir bin, schon«, antwortete er und nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich hatte solche Angst, als ich dachte, du fährst ohne mich. Ich hätte tagelang auf das nächste Schiff warten müssen und keine Möglichkeit gehabt, mit dir in Kontakt zu treten.«
»Und ich hätte nicht am Hafen gestanden in der Hoffnung, dass du auf einem der Schiffe bist«, neckte sie ihn.
Er lächelte und betrachtete ihr Gesicht. »Ich hätte dich irgendwann gefunden. Ich wäre durch Vancouver gelaufen und hätte überall Poster aufgehängt mit der Aufschrift: »Vermisst! Geigende Gypsy Queen. Belohnung für Informationen.«
»Was sollen wir machen, wenn wir dort ankommen?«, fragte sie und drängte ihn sanft zur Seite, damit sie sich zu ihm auf die Liege setzen konnte.
»Was immer du willst«, erwiderte er. »Wir könnten ein anderes Schiff nach Kalifornien nehmen, wo wir es den ganzen Winter warm haben. New York, Philadelphia, Konstantinopel, Paris oder Rom, wir können überall hingehen, wohin du möchtest. Was würdest du denn gerne tun?«
»Ich will mit dir zusammen sein«, sagte sie. »In einem warmen, ruhigen Haus mit einer richtigen Küche und einem Badezimmer. Und ich will, dass du jeden Abend bei mir zu Hause bist.«
Er sah sie zweifelnd an. »Keine großen Pläne für einen neuen Saloon? Einen Laden, eine Pension?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber da gibt es doch etwas, das du mir nicht sagst, oder? Ich kann es spüren.«
»Vielleicht.« Sie legte sich neben ihn und zog ihn in ihre Arme. »Aber im Moment gibt es nur uns beide, zusammen auf dieser kleinen Liege, und wir sollten das Beste daraus machen.«