15

Nachdem Sam ihr von seinen Plänen erzählt hatte, einen Spielsalon zu besitzen, saß Beth am Fenster und blickte über die Dächer und den grauen Himmel über ihnen und dachte an all die Leute, die sie in Liverpool gekannt hatten. Sie fragte sich, was sie wohl dazu sagen würden, wie Sam und sie jetzt lebten.

Sie hatte den Langworthys seit ihrer Ankunft alle zwei Wochen geschrieben und schämte sich jetzt, weil sie in ihren Schilderungen alles ein bisschen schönte. Sie benutzte das Wort »Hotel« statt »Wohnheim«, sie beschrieb den Central Park und die Fifth Avenue statt die Lower East Side. Das alles war zwar nicht wirklich gelogen, aber sie hatte das Heaney’s als ein exklusives Etablissement geschildert und Iras Laden als einen, in dem es Kleider zu kaufen gab und keine Secondhand-Kleider. Sie hatte freudig ihren Umzug in eine Wohnung verkündet, aber nicht hinzugefügt, dass sie sich darin nur ein Zimmer mit Sam teilte.

Sie rechtfertigte diese Auslassungen damit, dass die Leute zu Hause sich Sorgen machen würden, wenn sie die ärmlichen Umstände beschrieb, unter denen sie lebte, und dass sie Angst um sie haben würden, wenn sie offener war, was das Heaney’s anging. Aber jetzt, wo sie alle jene Menschen in Gedanken vor sich sah, die ihr etwas bedeuteten, hatte sie das Gefühl, dass sie sich mehr Sorgen darüber machen würden, wie sehr Sam und sie sich verändert hatten, als über die Art und Weise, wie sie lebten.

Ganz sicher würden sie es nicht gutheißen, dass sie in scharlachrotem Satin auftrat oder dass sie jeden Abend, wenn sie im Heaney’s spielte, ein oder zwei Gläser Rum trank. Sie wären entsetzt gewesen, dass sie sich mit einer Hure angefreundet hatte und dass der Mann, der ihr gefiel, ein Frauenheld war.

Was Sam anging, wären sie schockiert darüber gewesen, dass er jede Nacht wegblieb und plante, einen eigenen Spielsalon zu eröffnen. Mrs Bruce würde zu ihrer Flasche mit Riechsalz greifen!

Der Gedanke, dass sie ein Leben führte, das ihre alten Freunde niemals gutheißen würden, machte Beth traurig, doch sie hatte nicht vor, wieder eine überarbeitete, aber anständige Wäscherin zu werden. Jedes Mal, wenn sie auf der Bühne stand, fühlte sie sich wie ein Vogel, den man aus dem Käfig gelassen hatte, und sie liebte es, bewundert zu werden und Applaus zu bekommen.

Der einzige Teil ihres alten Lebens, der ihr fehlte, war Molly, und der dumpfe Trennungsschmerz verließ sie nie ganz. Doch gleichzeitig war sie froh, ihre kleine Schwester sicher in England zu wissen, denn das hier war kein Ort für ein kleines Kind.

Beth wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den Raum mit objektivem Blick. Ihr wurde klar, dass die Dekorationen im Zimmer ihre tatsächliche Situation symbolisierten. Die blaue Tagesdecke, die als Vorhang zwischen ihrem und Sams Bett hing, war jetzt mit einem roten Samtband zurückgebunden, um es etwas eleganter zu machen; die Theaterposter versteckten die fleckigen Wände; die bunten Kleider, die sie im Heaney’s trug, waren ebenfalls dekorativ aufgehängt, und jede Woche kaufte sie einen Strauß Blumen, um das Zimmer gemütlicher zu machen.

Aber damit hatte sie das Zimmer genauso geschönt wie ihre Beschreibungen in den Briefen, die sie nach Hause schickte. Die Dekorationen überdeckten nur die Trostlosigkeit dieses Raumes.

Ihr wurde klar, dass Sam mit seiner sensiblen Art das vermutlich schon seit ihrem Einzug so empfand. Vielleicht war er deshalb so fest entschlossen, reich zu werden, damit sie niemandem mehr etwas vorspielen oder sich für irgendetwas schämen mussten.

Beth wollte nicht viel mehr als das, was sie jetzt hatte, nur eine ruhigere Wohnung, ein eigenes Zimmer und ein richtiges Bad. Aber sie wollte eines Tages auch nach Hause fahren und Molly besuchen, und sie wollte ganz sicher nicht als arme Verwandte zurückkehren. Also sollte sie vielleicht anfangen, nach vorne zu schauen und Pläne zu schmieden, so wie Sam es tat.

An diesem Abend spielte sie besser als jemals zuvor. Die Musik schien von ihrem ganzen Körper Besitz zu ergreifen, und sie tanzte auf der Bühne herum und versetzte das Publikum beinahe in Ekstase. Der Applaus war ohrenbetäubend, und die Leute verlangten immer mehr Zugaben, sodass Pat Heaney am Ende auf die Bühne gehen und ihren Auftritt beenden musste.

»Ist unsere kleine Zigeunerin nicht großartig?«, schrie er in die Menge. »Sie spielt am Montagabend erneut für euch, also sorgt dafür, dass ihr das nicht verpasst.«

Er kam zu ihr ins Hinterzimmer, um ihr das Geld zu bringen, als sie sich gerade mit einem Handtuch den Schweiß von Gesicht und Hals wischte. »Du warst toll heute Abend«, sagte er mit sehr viel mehr Wärme in der Stimme als sonst. »Du bist zu einer echten Attraktion geworden, seit du hier bist.«

Er hielt ihr das Geld hin, und sie sah, dass es ungefähr sieben Dollar waren. Aber sie hatte Dutzende von Dollarscheinen in den Hut fallen sehen.

»Ich glaube, dann wird es Zeit, dass Sie mich besser bezahlen«, sagte sie aus einem Impuls heraus. »Oder mir zumindest den Hut geben, damit ich das Geld selbst zählen kann.«

Sein Lächeln verschwand, und Beth spürte einen ängstlichen Stich.

»Du undankbare kleine Schlampe!«, rief er. »Willst du damit sagen, dass ich dich betrüge? Ich habe dir Arbeit gegeben, als niemand dich wollte.«

Beth wusste, dass dies ein entscheidender Moment war. Sie konnte entweder nachgeben oder sich wehren. Sie hatte große Angst; seine kalten Augen und diese furchtbare Narbe sagten ihr, dass er zu gefährlich war, um sich mit ihm anzulegen. Aber sie hatte sich heute Abend die Seele aus dem Leib gespielt, und etwas tief in ihrem Innern sagte ihr, dass sie sich wehren musste, wenn sie nicht für immer unter seiner Knute stehen wollte.

»Sie waren der Erste, an den ich mich gewandt habe«, widersprach sie ihm. »Es gab vom ersten Abend an viele andere, die mich gerne engagiert hätten. Und ich weiß genau, dass Sie mich schon die ganze Zeit betrügen. Sie geben mir nie die Hälfte von dem, was im Hut ist.«

»Ich habe dir einen Gefallen getan«, schrie er sie an.

»Nein, haben Sie nicht, Sie haben sich selbst einen Gefallen getan«, entgegnete sie und streckte das Kinn vor. »Es kommen mehr Leute, wenn ich spiele, und sie bleiben und betrinken sich. Es kostet Sie keinen Cent, mich hier zu haben, und die Gäste legen das Geld für mich in den Hut, weil ihnen die Musik gefällt. Also betrügen Sie sie auch, indem Sie es behalten.«

»Weißt du, was mit Leuten passiert, die sich mit mir anlegen?«, fragte er, und sein Gesicht war jetzt direkt vor ihrem, so nah, dass sie den Whiskey in seinem Atem riechen konnte.

»Ich habe mich nicht mit Ihnen angelegt«, sagte sie. »Aber wenn Sie es als Provokation empfinden, dass ich hier weggehe und in einem anderen Saloon spiele, dann werde ich genau das tun, wenn ich nicht bekomme, was mir zusteht.«

Sie konnte sehen, dass er sie gerne schlagen wollte, denn die Hand, mit der er das Geld umklammerte, ballte sich zur Faust. Doch sie hielt seinem Blick stand, obwohl sie Angst hatte.

Er stieß eine lange Reihe von Schimpfworten aus, aber Beth griff nach ihrem Mantel und zog ihn an. »Sie haben eine Minute, daraus fünfzehn Dollar zu machen«, erklärte sie und blickte auf das Geld, das er noch immer in der Hand hielt. »Oder ich gehe und komme nicht wieder.«

»Ich werde deinen Bruder entlassen, wenn du das tust«, sagte er, und seine Augen wurden schmal wie die einer Schlange.

»Dann sind Sie viel dümmer, als ich dachte«, entgegnete sie scharf. »Einen so ehrlichen Barkeeper wie ihn können Sie lange suchen.«

Er hob die Faust, aber Beth war jetzt so wütend, dass sie sie wegschlug. »Wenn Sie mich schlagen, dann gehe ich und spiele im Saloon direkt nebenan, nur um Sie zu ärgern«, zischte sie ihn an. »Und Sam arbeitet dann auch nicht mehr für Sie. Es ist Ihre Entscheidung. Geben Sie mir fünfzehn Dollar, oder gehen Sie mir aus dem Weg.«

Sie wusste, dass sie gewonnen hatte, als er in seine Tasche griff, ein Bündel mit Geldscheinen herausholte und einige für sie abzählte. Irgendwie war sie darüber enttäuscht, denn er hatte ihr gerade bewiesen, wie wertvoll sie für ihn war, und jetzt konnte sie nicht gehen und für jemanden arbeiten, den sie mochte und dem sie vertraute.

»Ich werde von jetzt an das Geld im Hut selbst zählen«, warnte sie ihn. »Ich gebe Ihnen die Hälfte davon, weil wir uns darauf geeinigt hatten, aber wenn Sie noch mal versuchen, mich zu betrügen, dann bin ich weg.«

Sie rauschte an ihm vorbei in den Saloon und ging zu Sam. »Sei vorsichtig, was du heute Abend zu ihm sagst«, flüsterte sie. »Ich habe mich gerade mit ihm gestritten.«

Sam sah besorgt aus und blickte sich zum Hinterzimmer um. »Er will, dass ich heute länger bleibe, um beim Kartenspielen zu bedienen. Wird er dir eine Droschke rufen?«

»Ich bringe sie nach Hause«, sagte eine vertraute Stimme direkt hinter ihr. »Natürlich nur, wenn Beth damit einverstanden ist!«

Beth wirbelte herum. »Theo!«, rief sie und konnte ihre Freude nicht verbergen.

Als die Droschke zur Houston Street fuhr, erzählte Beth in kurzen Worten von ihrem Streit mit Heaney.

»Natürlich war es gut, dass du hart geblieben bist«, sagte Theo. »Und sehr mutig. Aber Heaney ist ein nachtragender Mann, Beth, ich habe schon viele Geschichten über ihn gehört.«

»Er wird Sam doch nichts tun, oder?«, fragte sie ängstlich.

»Ich glaube nicht, er braucht ihn. Ich bezweifle auch, dass er es wagen wird, sich an dir zu vergreifen, es gibt zu viele Gäste, die ihn dafür aufknüpfen würden, wenn er das täte. Aber ihr müsst beide auf der Hut sein. Es wäre bestimmt gut, ihm ein bisschen Honig um den Bart zu schmieren, wenn du das nächste Mal dort bist.«

»Das werde ich nicht tun«, erklärte sie entrüstet.

»Meine Liebe«, seufzte Theo, »nimm einen Rat von mir an. Entwaffne deinen Feind immer mit Charme, das klappt viel besser als mit Fäusten, Waffen oder Messern.«

Als die Droschke vor Beths Haus stehen blieb, nahm Theo ihre Hand. »Ich fahre jetzt wieder dorthin zurück, aber darf ich dich morgen irgendwohin ausführen?«

Beth strahlte, und Theos Frage verdrängte ihre Auseinandersetzung mit Heaney fast völlig aus ihrem Kopf.

»Sehr gerne«, erwiderte sie.

»Dann hole ich dich gegen ein Uhr ab«, sagte er. »Und wie wäre es jetzt mit einem dieser süßen Küsse?«

Es war wie immer stockdunkel im Treppenhaus. Das einzige Gaslicht befand sich an der Haustür, und das war schon lange ausgestellt. Beth hatte das Gefühl, verhext worden zu sein, während sie sich in den vierten Stock hinauftastete. Theos Kuss hatte sie in Flammen gesetzt, ihr Herz raste, und sie war außer Atem vom Treppensteigen. Sie stolperte mehrmals, weil sie eine Stufe nicht richtig traf, aber die Freude darüber, Theo schon am nächsten Tag wiederzusehen, vertrieb den Streit mit Heaney aus ihren Gedanken.

Als sie in ihrem Zimmer war und die Petroleumlampe brannte, ließ sie sich, noch immer schwer atmend, auf das Bett fallen. Theo wollte sie, und das war alles, was zählte.

»Du siehst sehr hübsch aus, Beth«, sagte Theo, als er am nächsten Tag aus der Droschke sprang und sie begrüßte. »Ich hoffe, du hast nicht lange hier draußen in der Kälte gewartet?«

»Oh nein, ich bin gerade erst heruntergekommen«, log sie. Tatsächlich stand sie schon seit zwanzig Minuten auf der Treppe, weil sie zu viel Angst hatte, dass er vielleicht durch die immer offen stehende Haustür gehen und sehen, hören und riechen würde, wie dreckig und laut es dort drinnen war und wie sehr es stank.

Sie wünschte, sie hätte genauer gewusst, wohin er mit ihr gehen wollte, weil sie sich dann etwas Neues aus Iras Laden hätte aussuchen können. So trug sie denselben alten braunen Mantel, hatte sich aber von Amy einen Fuchsfellkragen und einen Hut geborgt, um ihn etwas aufzupeppen. Das Kleid darunter war aus dunkelviolettem Crêpe mit einem hohen Kragen und Bündchen aus cremefarbener Spitze, aber es war nicht sehr modisch geschnitten, weil es ein abgelegtes von Mrs Langworthy war.

»Ich dachte, wir gehen in den Central Park«, sagte Theo, als er ihr in die Droschke half. »Die Bäume tragen bestimmt schon ihr Herbstkleid, und später gehen wir dann in ein Restaurant in der Nähe, das ich kenne.«

Beth war seit August nicht mehr im Central Park gewesen, als das Gras braun gewesen war vom fehlenden Regen. An jenem Tag hatten sogar die Blätter an den Bäumen schlaff herabgehangen und waren von einer Staubschicht bedeckt gewesen. Aber jetzt sah er wieder wunderschön aus, das Gras war üppig grün, und die Bäume strahlten gelb, rostrot, golden und braun im Sonnenschein.

Arm in Arm gingen sie um den See herum, und Theo erzählte ihr, dass er am vergangenen Abend bei Heaney’s viel gewonnen hatte. »Ich werde da eine Weile nicht mehr hingehen können«, sagte er. »Heaney ist ein übler Kerl, und ich traue ihm zu, dass er mich angreifen und ausrauben lässt, wenn ich seinen Laden verlasse. Er weiß auch, dass ich dich gestern Abend nach Hause gebracht habe – wenn er dich also über mich ausfragt, dann sagst du ihm, dass du mich kaum kennst und dass wir uns nur einmal auf dem Schiff begegnet sind.«

»Mehr könnte ich auch gar nicht sagen«, entgegnete sie schelmisch. »Ich weiß nicht viel über dich.« Er lachte. »Und ich habe vor, genau das heute zu ändern. Was möchtest du gerne wissen?« Sie setzten sich auf eine Bank am See, und er erzählte ihr von seinen Eltern, seinem älteren Bruder, seinen beiden jüngeren Schwestern und seinem Zuhause.

Beth hatte ein Bild von einem Herrenhaus umgeben von Ländereien vor Augen, mit einem von Bäumen gesäumten Weg, der dorthin führte. Er war zuerst von einer Gouvernante erzogen worden, später im Internat. Sein Vater führte das Gut selbst, und Theo beschrieb ihn als einen schroffen, starrsinnigen und selbstsüchtigen Mann, der sich nur für Leute interessierte, die so gut reiten und schießen konnten wie er.

»Es war ein Glück, dass ich beides mindestens so gut beherrschte wie er, wenn nicht besser«, erklärte Theo mit einem Grinsen. »Aber das machte mein fehlendes Interesse an der Gutsarbeit nicht wett oder meinen Ruf als Frauenheld. Er gab meiner Mutter die Schuld daran, aber er hat ihr an fast allem die Schuld gegeben.«

Er beschrieb seine Mutter als eine liebevolle, aber sehr zerbrechliche Frau, die ihrem herrischen Mann nichts entgegenzusetzen hatte. Sein älterer Bruder war wie sein Vater, und Theo hatte das Gefühl, dass er mit beiden nichts gemeinsam hatte. Er liebte seine beiden jüngeren Schwestern sehr, war jedoch verzweifelt darüber, dass sie offenbar genauso waren wie ihre Mutter, unentschlossen, schwach und ohne eigene Meinung, weshalb er davon überzeugt war, dass sie Männer genau wie seinen Vater heiraten würden.

»Ich bin das schwarze Schaf der Familie«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Ich wollte immer mehr, als es gab – Aufregung, Farbe und neue Erfahrungen. Der Gedanke, das ruhige Leben zu führen, das meinem Vater vorschwebte, in dem ich unweigerlich eine passende Frau hätte heiraten müssen, erfüllte mich mit Entsetzen. Ich will Abenteuer, und wenn ich heirate, dann wird das ebenfalls ein Abenteuer, und ich nehme nur eine Frau, die ihren eigenen Kopf, Leidenschaft und Humor hat. Ich will nicht, dass meine Kinder in einer so kalten Förmlichkeit aufwachsen wie ich.«

Beth fand insgeheim, dass das nach einer Frau wie ihr klang, aber sie behielt diese Meinung für sich und erzählte ihm stattdessen, dass sie eigentlich auch eine pflichtbewusste Tochter hätte sein müssen, die bis zum Tode ihrer Eltern zu Hause bleibt, um dann in eine andere Art von Knechtschaft zu wechseln.

Sie sagte ihm, dass ihr Vater an einem Herzinfarkt und ihre Mutter nach Mollys Geburt im Kindbett gestorben war, sprach dann aber schnell weiter über ihre Arbeit bei den Langworthys, wobei sie die Dramatik ihrer Geschichte herunterspielte, indem sie betonte, wie gut ihre Herrin zu ihr gewesen war.

»Mein Herz habe ich in England zurückgelassen«, gestand sie. »Es war das Beste so, und Mrs Langworthy schreibt mir alle paar Wochen und erzählt mir, wie Molly sich entwickelt.«

»Du bist ein wirklich mutiges Mädchen«, sagte Theo nachdenklich. »Nicht viele schaffen es, in so jungen Jahren schon mit so viel fertig zu werden. Ich bin sicher, deine Eltern wären stolz auf dich.«

Beth lachte. »Ich bin nicht so sicher, ob sie es gutheißen würden, dass ich in einem Saloon Geige spiele.«

»Du benutzt dein gottgegebenes Talent, und du machst damit eine Menge Leute glücklich. Für mich ist das nicht verwerflich.«

»Ich habe früher davon geträumt, in einem eleganten Hotelfoyer Klavier zu spielen«, gestand sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich in einem stinkenden Mietshaus ende oder für einen Gangster arbeite.«

Theo schüttelte amüsiert den Kopf. »Ihr werdet euch bald hocharbeiten. Sam hat mir gestern Abend von seinen Plänen erzählt, in Spielsalons zu arbeiten. Ich glaube auch, dass er das kann – er ist schlau, er hat Charme, und er hat dich an seiner Seite. Ich wette, ihr beide macht ein Vermögen.«

»Man braucht Geld, um überhaupt anfangen zu können«, seufzte Beth.

»Nicht immer.« Theo lächelte und kitzelte sie unter dem Kinn. »Mit Charme und einer guten Idee findet man immer Unterstützer. Ich habe einen verrufenen Onkel, nach dem ich angeblich komme. Er erzählte mir einmal, dass man nie das eigene Geld in eine Geschäftsidee stecken soll. Er hat danach gelebt und auf diese Weise ein Vermögen gemacht.«

»Was sind deine Pläne?«, fragte sie.

»Im Moment will ich herausfinden, wie viel Geld ich in New York gewinnen kann, während ich mich nach einer aufblühenden Stadt umhöre.«

»Einer aufblühenden Stadt?«, rief Beth. »Was meinst du damit?«

Theo saugte seine Wangen ein. »Wie San Francisco im Jahr 1849 zum Beispiel. Es war damals ein kleines Fischerdorf, bis in der Nähe Gold gefunden wurde. Plötzlich fielen dort ganze Horden von Menschen ein, und viele machten ein Vermögen.«

»Nicht viele davon fanden Gold«, erwiderte Beth, die sich an ihren Geschichtsunterricht zu diesem Thema erinnerte.

»Die intelligenten Leute suchen nicht nach dem, was die Masse haben will, ob nun Gold, Diamanten oder Silber«, erklärte er schmunzelnd. »Das ist immer eine sehr schwere Arbeit, und nur ein paar haben Glück und finden etwas. Die wirklich schlauen Leute, solche wie du und ich, gehen dorthin und bieten etwas an, in Läden, Saloons, Hotels, Restaurants, Tanz- und Musiklokalen.«

Beth kicherte. »Und ich spiele Geige in einem dieser Saloons, und sie bewerfen mich mit Goldnuggets?«

»Genau.« Er lächelte. »Es würde ja keinen Spaß machen, reich zu sein, wenn man den Reichtum nicht mit vollen Händen ausgeben kann.«

»Aber all das Gold, die Diamanten und das Silber sind doch inzwischen gefunden?«, wollte Beth wissen.

»Nicht unbedingt. Teile von Amerika sind noch völlige Wildnis, und wer weiß, was da unter der Erde liegt? Aber aufblühende Städte können auch aus anderen Gründen entstehen. Wegen der Eisenbahn zum Beispiel – wo immer sie hinfährt, wollen die Leute Häuser, Läden und den Rest haben.«

»Wie Spielsalons?«, fragte sie und hob fragend eine Augenbraue.

Er lächelte, und in seinen Augen lag ein schelmisches Glitzern. »Wie Spielsalons.«

»Also, falls du etwas von einer aufblühenden Stadt hörst, dann vergiss nicht, Sam und mir davon zu erzählen. Wir würden sehr gerne mitkommen.«

Theos Arm hatte bis jetzt auf der Lehne der Bank gelegen, aber jetzt legte er ihn ihr um die Schultern. »Ich kann mir keine zwei Menschen denken, die besser geeignet wären, mich zu begleiten«, erwiderte er. »Sam ist jemand, mit dem man rechnen muss, weil er so entschlossen ist. Und was dich angeht, mit deiner Geige bist du überall ein Gewinn.«

Beth glaubte, dass Theo sie küssen würde, aber er musste sich daran erinnert haben, dass es sich nicht gehörte, eine junge Frau öffentlich zu umarmen, denn plötzlich sagte er, dass es kalt geworden sei und es Zeit würde, sich ein Café zu suchen, um sich aufzuwärmen.

Während sie den Park verließen, dachte Beth, wie perfekt er war – gut aussehend, ein Gentleman und so amüsant.

Es hatte auch Spaß gemacht, mit Jack zusammen zu sein, aber im Vergleich zu Theo war er nur ein Junge, ohne Manieren oder Bildung. Wenn er ihre Hand nahm, dann war es ungeschickt, er überfiel sie mit seinen Küssen, und er hatte ganz sicher nicht die Fähigkeit, Sachen zu sagen oder zu tun, die eine Frau erschaudern oder erbeben ließen.

Wenn Theo ihre Hand nahm, dann streichelte er sie mit seinem Daumen; wenn er seine Hand an ihre Hüfte legte, dann drückte er sie leicht. Sie gingen in ein kleines Café gegenüber vom Park, und als sie sich gesetzt hatten, nahm er ihre Hand und hob ihre Finger an seine Lippen, nicht, um sie zu küssen, sondern um mit der Zunge sanft über jede einzelne Fingerspitze zu fahren.

»Ich möchte dich auf den Mund küssen, aber im Moment muss ich mich damit begnügen«, flüsterte er.

Es war das Unerwartete an den kleinen Berührungen und Komplimenten, das es so aufregend machte.

Er erzählte von der Notlage einiger Einwanderer, die keine Unterkunft gefunden hatten und vor ein paar Tagen unter den Büschen im Central Park erwischt worden waren, aber plötzlich brach er ab, um ihr eine Haarsträhne zurückzustreichen, die unter ihrem Hut hervorgekommen war. »Deine Augen sind wie tiefe Waldseen«, sagte er, und dann redete er weiter über das, was er vorher erzählt hatte.

Er schob einen Finger in ihren Mantelärmel, als wolle er ihren Puls fühlen, und die Intimität dieser Geste ließ sie rot werden. »Deine Haut ist so sanft und weich wie die eines Babys«, flüsterte er. Als sie ihren Teelöffel fallen ließ, weil er sie so durcheinanderbrachte, hob er ihn wieder auf und legte seine Hand an ihr Bein, direkt über ihren Stiefeln.

Aber es waren nicht nur seine Berührungen, die sie entflammten, es war die Art, wie er redete. Seine Stimme war tief, aber weich und kultiviert, und fast alles, was er ihr berichtete, ob nun über sein Leben in England oder über die Leute, die er seit seiner Ankunft in Amerika kennengelernt hatte, schilderte er so lebhaft, dass sie alles deutlich vor sich sehen konnte.

»Miss Marchment, meine Vermieterin, lebt in sehr ärmlichen Verhältnissen«, erzählte er ihr. »Sie hat die Ausstrahlung einer Herzogin, obwohl sie alt und gebrechlich ist, und ihr einziges Einkommen sind die Zimmer, die sie untervermietet. Sie sitzt den ganzen Tag in einem violetten Samtsessel, der schon ganz fadenscheinig ist, trägt einen Spitzenschal um die Schultern und kommandiert ihre Haushälterin herum, als ob sie immer noch über ein zwanzigköpfiges Personal befehligen würde. Das Haus ist völlig verfallen, die Teppiche sind abgelaufen, eine dicke Schicht Staub liegt auf den Bildern, den Spiegeln und den Dekorationen, aber sie lädt mich zum Tee ein und weist die Haushälterin an, ihn in der verbeulten Silberkanne zu servieren. So eine elegante alte Dame!«

»Putzt die Haushälterin dein Zimmer?«, fragte Beth, der die Idee nicht gefiel, dass er im Dreck lebte.

»Ja, das tut sie, ich schätze, sie weiß, dass sie kein Gehalt mehr bekommt, wenn die Mieter ausziehen. Aber die arme Frau hat so viel zu tun, dass ihr einfach keine Zeit bleibt, die Zimmer ihrer Herrin richtig sauber zu machen.«

»Ist sie auch alt?«, wollte Beth wissen.

»Ungefähr fünfzig. Sie hat ihr ganzes Leben lang für Mrs Marchment gearbeitet. Aber du willst bestimmt keine traurigen Geschichten über alte Ladys hören. Erzähl mir von den Leuten in deinem Haus.«

Vielleicht lag es daran, dass er die Menschen so lebhaft beschrieben hatte, dass Beth es ihm gleichtat. Sie erzählte ihm von dem verrückten Iren im ersten Stock, der jedes Mal brüllte, wenn jemand an seiner Tür vorbeiging, und dem komischen kleinen polnischen Mann, der sich immer seine braune Ledertasche vor die Brust presste, wenn er die Straße hinunterging, und der sich hektisch umblickte, so als würde er Staatsgeheimnisse transportieren und glauben, jemand könnte sie ihm entreißen. Theo lachte so laut, dass sich mehrere andere Leute im Café nach ihm umdrehten.

»Ich glaube, es wird Zeit, dass wir etwas essen gehen«, sagte er und schmunzelte, während er erneut ihre Hand küsste. »Es tut so gut, mit einer schönen Frau zusammen zu sein, die mich zum Lachen bringt. Ich habe festgestellt, dass die meisten leider keinen Humor haben.«

An Thanksgiving im November war Beth so verliebt in Theo, dass sie von dem Moment, in dem sie morgens die Augen öffnete, bis zum Abend, wenn sie einschlief, nur an ihn denken konnte.

Sie hatte das Gefühl, dass er sie auch liebte, selbst wenn er das nie gesagt hatte, denn er gab sich immer Mühe, sie einmal in der Woche zu sehen, selbst wenn er New York geschäftlich verlassen musste. Und er ließ sie nicht fallen, obwohl sie ihn auf Abstand hielt.

Bei ihrer zweiten Verabredung hatte er sie gefragt, ob er noch mit nach oben kommen dürfe, aber sie hatte verneint, weil sie wusste, dass sie vermutlich seinen Küssen und Berührungen nicht widerstehen konnte, wenn sie allein waren.

Bei ihrer dritten Verabredung schlug er vor, sie für eine Nacht mit in ein Hotel zu nehmen. Sie tat so, als wäre sie entrüstet über seinen Vorschlag, doch in Wirklichkeit war sie versucht mitzugehen, denn dann würden zumindest die Nachbarn nicht mitbekommen, was sie tat. Aber ihr Verstand siegte: Sie musste nur daran denken, was mit ihrer Mutter passiert war, um zu wissen, dass sie nicht riskieren konnte, schwanger zu werden, oder dass Theo sie vielleicht sitzen ließ, sobald er bekommen hatte, was er wollte.

Seitdem versicherte Theo ihr immer, wie sehr er sie begehre, aber obwohl er auf viele zärtliche Arten versuchte, sie zu überreden, drängte er sie nie. Und wenn er von der Zukunft sprach, dann klang es, als schließe er sie in seine Pläne mit ein.

So traurig Beth Theos lange Abwesenheiten auch fand, als Thanksgiving kam, war sie doch erleichtert, dass er noch unterwegs war. Amy und Kate hatten beschlossen, dass Beths und Sams erstes Thanksgiving in Amerika denkwürdig werden sollte, und wollten ein traditionelles Truthahn-Essen veranstalten.

Da in ihrer eigenen Wohnung so wenig Platz war, fragten sie Beth, ob sie bei ihnen kochen könnten, und schlugen vor, die Rossinis auch einzuladen. Beth bat Sam, auch seine Freundin dazuzubitten, aber sein entsetzter Blick sagte ihr, dass er nicht vorhatte, seine Liebste zu einer Dinnerparty mit zwei Huren und einem älteren italienischen Ehepaar mitzubringen, das nur ganz wenig Englisch sprach.

Doch als der Tag näher rückte, wurden Beth und Sam von Amys Begeisterung für das besondere Essen angesteckt. Sam brachte eine alte Tür mit nach Hause und legte sie über zwei Böcke, damit sie einen Tisch hatten, an den sie alle passten; sie liehen sich von verschiedenen Leuten im Haus Stühle; Ira borgte ihnen eine Spitzendecke, und Mrs Rossini suchte ein altes Familienrezept heraus, um einen besonderen Nachtisch zu machen.

Amy und Kate übertrafen sich selbst bei der Zubereitung des Essens. Um sechs Uhr abends war alles fertig, der Truthahn tiefbraun und das Gemüse perfekt gekocht. Sie wollten sich gerade an den Tisch setzen, als Jack kam.

Beth hatte ihn einige Male gesehen, seit sie sich getrennt hatten, meistens im Heaney’s, wo sie sich ihrer Distanz akut bewusst geworden war, aber er war auch ein paar Mal in Iras Laden gewesen, um Hallo zu sagen. Das erste Mal, als er kam, hatte sie Angst gehabt, dass er immer noch etwas von ihr wollte, aber als er klargemacht hatte, dass er nur an Freundschaft interessiert war, und sogar ein Mädchen erwähnte, mit dem er tanzen ging, war sie froh, dass sie weiter Freunde sein konnten.

»Ich wäre nicht gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass ihr Gäste habt«, sagte er und sah ein bisschen verlegen aus. »Ich habe ein bisschen Fleisch und Früchte mitgebracht.«

»Es ist schön, dich zu sehen, und du bist mehr als willkommen, dich zu uns zu setzen«, erklärte Beth und nahm ihm die Tasche aus der Hand. Sie enthielt eine Menge Lammkoteletts, einige Würstchen und Äpfel und Orangen. »Vielen, vielen Dank. Das ist sehr nett von dir.«

»Der Boss hat uns eine Tüte mit Sachen für Thanksgiving gegeben.« Er wirkte noch immer verlegen. »Das kann ich allein gar nicht aufessen.«

Jacks unerwartetes Auftauchen stellte sich als Segen für den Abend heraus, denn er verwandelte das, was vielleicht eine langweilige Party geworden wäre, in eine laute und fröhliche.

Er brachte Amy und Kate oft zum Lachen, hielt Sam davon ab, sich unwohl zu fühlen, weil er allein alle Frauen unterhalten musste, und da er inzwischen ein bisschen Italienisch von seinen Kollegen gelernt hatte, konnte er die Rossinis in die Gespräche miteinbeziehen.

Beth stellte fest, dass sich der unerfahrene junge Mann mit den ungehobelten Manieren, den sie auf dem Schiff kennengelernt hatte, in einen selbstbewussten und sehr amüsanten Mann verwandelt hatte. Die harte körperliche Arbeit hatte ihn muskulös gemacht, sein kantiges Gesicht war jetzt voller, und die Narbe verlieh seinem Gesicht noch mehr Ausdruck. Er war auch sehr viel eloquenter als früher. Er erzählte humorvolle Geschichten von den Männern, mit denen er arbeitete, doch es klang auch viel Verständnis für die Probleme durch, mit denen die Einwanderer zu kämpfen hatten.

Beth sah zu, wie er mit Amy und Kate flirtete, und nahm an, dass er diese Selbstsicherheit den Frauen verdankte. Er lachte, als sie ihn fragte, ob er eine Freundin habe, und erklärte charmant, dass sein Herz ihr gehöre. Aber allein diese Bemerkung zeigte ihr, dass es da jemanden geben musste, der ihn so hatte werden lassen. Denn so etwas hätte er niemals gesagt, als sie noch mit ihm ausgegangen war.

Am Ende des Abends hatten alle ziemlich viel Wein getrunken. Die Rossinis küssten jeden auf beide Wangen und bedankten sich überschwänglich, bevor sie zu Bett gingen. Amy und Kate gingen ebenfalls, nur Jack blieb noch. Er setzte sich auf Sams Bett, und Beth befürchtete für einen Moment, dass er Schwierigkeiten machen würde.

Aber sie irrte sich.

»Ich hoffe, ihr denkt nicht, dass ich heute Abend vorbeigekommen bin, um ein Gratisessen zu bekommen«, sagte er und sah von Beth zu Sam. »Das war es nicht, ich bin gekommen, weil ich gestern was gehört habe, das mir Sorgen macht.«

»Über Beth?«, fragte Sam.

»Nein, über keinen von euch, nur über Pat Heaney. Da braut sich was zusammen, er hat sich mit einem Kerl namens Fingers Malone angelegt. Fingers und Heaney haben jeweils eine Gang hinter sich, Typen, mit denen sie seit ihrer Jugend rumhängen.«

Sam nickte. »Das habe ich auch gehört. Ich habe Fingers sogar mal getroffen – er kam fast jeden Abend in den Saloon, als ich dort anfing.«

»Es heißt, dass es bald eine Art Showdown geben wird. Es ist nicht nur eine Sache zwischen Heaney und Fingers, es könnte ein richtiger Bandenkrieg werden. Ich dachte, ich sollte euch vorwarnen, damit ihr von da abhaut, sobald es irgendwelchen Ärger gibt.«

»Danke für die Warnung«, sagte Sam ein bisschen steif, so als nehme er es Jack übel, dass er es vor ihm gehört hatte.

»Das ist noch nicht alles.« Jack sah Sam scharf an. »Ich mache mir Sorgen um Beths Sicherheit. Sie ist wertvoll für Heaney, und Fingers weiß das. Er denkt vielleicht sogar, dass sie Heaneys Freundin ist.«

»Wieso sollte er das denken?«, rief Beth.

»Vielleicht, weil Heaney die Leute das glauben lässt«, erwiderte Jack.

Jack ging bald danach, und die Tür war kaum hinter ihm zugegangen, als Sam behauptete, dass das alles Unsinn sei. »Was weiß der schon? Das ist nur ein unausgegorenes Gerücht, das er irgendwo aufgeschnappt hat, und er benutzt es, um sich wichtigzumachen.«

»Wie kannst du so etwas sagen«, erwiderte Beth verärgert. »Du bist nur sauer, weil Jack es zuerst gehört hat. Aber niemand würde wagen, es dir zu erzählen; du stehst Heaney zu nahe. Sie hätten Angst, dass du ihn warnst.«

»Ich und Heaney nahestehen!«, schnaubte Sam verächtlich. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

»So wirkt es aber nicht auf andere Leute. Alle wissen, dass er dir vertraut.«

»Jack will sich nur wieder bei uns einschmeicheln«, meinte Sam wütend. »Und wie könnte ihm das besser gelingen als mit der Behauptung, dass du in Gefahr bist? Bevor du dich versiehst, bietet er dir an, dich jeden Abend nach Hause zu begleiten; er ist nur eifersüchtig, weil er gehört hat, dass du mit Theo zusammen bist.«

Beth machte sich weniger Sorgen um den drohenden Bandenkrieg als um Theo, der immer noch fort war. Jeden Abend, wenn sie spielte, suchte sie im Publikum nach seinem Gesicht und hoffte, dass er da war.

Sam traf Vorsichtsmaßnahmen, indem er sie jeden Abend nach dem Spielen in der Droschke nach Hause begleitete, selbst wenn das bedeutete, dass er danach oft in den Saloon zurückkehren musste, um bei den privaten Glücksspielen Getränke zu servieren. Aber er betonte immer, dass das die Aufgabe eines Bruders sei und dass es nichts mit Jacks Warnung zu tun habe.

Am Abend von Mollys zweitem Geburtstag Mitte Dezember fiel Schnee, und als Beth erwachte, lag die Stadt unter einer weißen Decke und weckte schmerzliche Erinnerungen an die Geburt ihrer Schwester und den Tod ihrer Mutter. Sie hatte immer versucht, nicht zu viel über ihre Mutter nachzudenken. Selbst als sie vor zwei Wochen ein Geschenk und eine Karte zu Mollys Geburtstag abgeschickt hatte, dachte sie nur daran, wie ihre kleine Schwester jetzt wohl aussehen mochte, und nicht daran, unter welchen Umständen sie geboren worden war. Aber da Theo noch immer fort war und sie nichts von ihm gehört hatte, beschlich sie das Gefühl, dass sie sitzen gelassen worden war, genau wie ihre Mutter.

Noch mehr Schnee fiel, und die weihnachtlich geschmückten New Yorker Geschäfte sahen wunderschön aus. Viele der eleganteren hatten neue elektrische Lichter installiert, und wenn es auf den Straßen dunkel wurde, erstrahlten die fantastisch dekorierten Fenster in Licht und Farbe. Selbst in den kleinsten Läden oder Ständen hingen Dekorationen oder zusätzliche Petroleumlampen, es gab riesige Weihnachtsbäume auf vielen Plätzen, und in der Luft lag der Duft von in Öfen gerösteten Kastanien.

Beth kaufte Geschenke – einen königsblauen Schal für Sam, duftende Seife für Amy und Kate, eine Flasche Lavendelwasser für Ira – und hoffte, dass das hübsche rote Kleid und die Stoffpuppe, die sie Molly geschickt hatte, rechtzeitig zu Weihnachten ankommen würden. Sie wollte auch ein Geschenk für Theo kaufen, beschloss jedoch, noch abzuwarten, ob er wieder auftauchte.

Als sie zwei Tage vor Heiligabend immer noch nichts gehört hatte, war Beth sehr bedrückt. Im Laden war den ganzen Tag über viel zu tun, und der ständige »Frohe Weihnachten«-Ruf, wenn Leute das Geschäft verließen, machte es noch schlimmer, weil sie wusste, dass sie niemand Besonderen hatte, mit dem sie diesen Tag verbringen konnte.

Ira musste bemerkt haben, dass etwas mit ihr nicht stimmte. »Liebes, du solltest mit Jack tanzen gehen«, schlug sie plötzlich vor. »Du willst doch nicht auf einen Mann warten, der dir nicht mal einen Brief schreiben kann, wenn er nicht da ist, in dem er dir versichert, dass er an dich denkt.«

Beth war über Iras Bemerkung gar nicht erfreut. Sie schmollte eine Weile, aber am Nachmittag beruhigte sie sich und probierte ein hübsches, tiefrosafarbenes Kleid an, von dem Ira behauptet hatte, es würde perfekt zu ihr passen.

Ira hatte recht, und als Beth fragte, ob sie es kaufen könne, erklärte ihr die alte Dame, dass sie es ihr gerne zu Weihnachten schenken wolle.

»Du bist ein gutes Mädchen – ich weiß nicht, wie ich das alles geschafft habe, bevor du kamst«, sagte Ira mit beinahe feuchten Augen. »Dir ein Kleid zu schenken, das dir so gut steht, ist das Mindeste, was ich tun kann, um dir zu danken.«

»Dann werde ich auch nicht länger herumsitzen und auf Theo warten«, erwiderte Beth. »Ich werde die Einladung der Rossinis annehmen und Weihnachten mit Sam bei ihnen essen. Und falls Jack heute Abend im Heaney’s ist, werde ich ihm gegenüber vielleicht andeuten, dass ich gerne tanzen gehen würde.«

Als sie um fünf Uhr Iras Laden verließ, war es bitterkalt. Sie klemmte sich das Paket mit ihrem neuen Kleid unter den Arm, wickelte sich den Schal um den Hals, vergrub die behandschuhten Hände in dem Pelzmuff, den Ira ihr ebenfalls geschenkt hatte, und machte sich auf den Weg zum Markt, um ein paar Früchte, Nüsse und Süßigkeiten für das Essen mit den Rossinis zu kaufen.

Es lag eine neue Fröhlichkeit auf den Gesichtern der Leute, als Beth die Bowery hinunterging. Ein Orgelspieler hatte seine Orgel, die »Stille Nacht« spielte, mit glitzernden Sternen geschmückt, und ihr fiel eine Gruppe von Kindern auf, die staunend beobachteten, wie ein Mann an einem Stand ein paar Spielzeuge aufzog. Sie blieb stehen, um sich den Bären anzusehen, der Becken zusammenschlug, und einen Mann, der ein Boot ruderte. Sie dachte kurz darüber nach, den Bären zu kaufen und Molly zu schicken, beschloss jedoch, dass er in der Post vermutlich kaputtgehen würde.

Als sie um die Ecke bog, war es nach den hellen Lichtern der Bowery mit einem Mal sehr dunkel. Sie merkte, dass jemand hinter ihr ging, doch das war nichts Ungewöhnliches, denn es war früher Abend.

Als sich jedoch eine Hand auf ihre Schulter legte, ließ sie vor Schreck das Paket fallen.

»Keinen Mucks«, warnte sie eine raue männliche Stimme. »Das ist ein Messer an deinem Rücken.«

Sie erstarrte, denn sie konnte spüren, wie etwas gegen ihren Mantel gedrückt wurde. Ihr erster Gedanke war, dass der Mann sie ausrauben wollte, denn das kam in dieser Gegend öfter vor.

»Ich habe nur ein paar Dollar«, sagte sie. »Aber die können Sie haben.«

»Du bist für mich mehr wert als ein paar Dollar«, sagte er. »Und jetzt beweg dich, tu, was ich dir sage, und alles ist gut. Schrei, und ich stech dich mit dem Messer ab.«