13
»So viel?«, keuchte Beth, als Heaney ihr die Hälfte dessen gab, was die Leute für sie in den Hut gelegt hatten. Es waren alles Fünf- und Zehn-Cent-Stücke, aber es war ein großer Haufen.
»Acht Dollar und fünfundvierzig Cent«, sagte Heaney. »Willst du, dass ich es dir wechsle?«
Beth nickte, zu erstaunt, um etwas zu sagen. Sie hatte drei einstündige Sets gespielt, mit einer Pause dazwischen. Es war jetzt fast ein Uhr morgens, und sie war erschöpft.
»Erwarte nicht, dass du jeden Abend so viel bekommst«, erklärte Heaney trocken. »Heute Abend warst du neu, und es ist Samstag. Am Montag sind es vielleicht nur ein paar Cent, aber ich mag dich, deshalb verspreche ich dir, dass du hier nie ohne mindestens zwei Dollar rausgehst.«
»Sie wollen, dass ich Montag wiederkomme?«
»Jap. Montag, Freitag und Samstag. Vielleicht spielen am Wochenende auch noch ein paar andere Musiker.«
»Und wie wird das Geld dann zwischen uns aufgeteilt?«, fragte Beth, die Angst hatte, dass ihr Anteil dann geringer sein würde.
Er sah sie scharf an, vielleicht weil es ihn überraschte, dass sie das zu fragen wagte. »Das überlässt du mir«, erwiderte er. »Aber wie gesagt, ich werde dafür sorgen, dass du nicht leer ausgehst. Du kannst jetzt gehen, und dein Bruder auch. Ich möchte nicht, dass ein hübsches Ding wie du allein nach Hause geht.«
»Er ist ein komischer Kerl«, sagte Sam nachdenklich, während sie Arm in Arm nach Hause gingen. Die Bowery war noch immer genauso voll wie am frühen Abend; Betrunkene torkelten auf dem Bürgersteig zwischen den Nüchterneren herum und liefen beinahe in die Essbuden. Musik und Gelächter drangen aus den Saloons, von irgendwoher war das Stampfen tanzender Füße zu hören und wie sich Gruppen von Leuten über die Straße hinweg Grüße zuriefen. In der Luft lagen alle möglichen Gerüche: von gebratenen Zwiebeln von den Hotdog-Ständen, gemischt mit dem von Bier, von Tabak, billigem Parfüm, Schweiß und von Pferdeäpfeln der Droschken. »Er hat den ganzen Tag nicht mit mir gesprochen. Ich wusste nicht, ob es ihm gefällt, wie ich arbeite. Dann hat er mir fünf Dollar in die Hand gedrückt und gesagt, dass ich am Montag wiederkommen soll. Bedeutet das, ich kann den Job haben, so lange ich ihn will? Und wie viel bezahlt er mir pro Woche?«
»Ich glaube, er legt sich nicht gerne fest, deshalb müssen wir nach solchen Dingen ausdrücklich fragen«, erwiderte Beth gedankenvoll. »Ich weiß, dass mein Auftritt den Leuten gefallen hat, aber er hat nichts dazu gesagt.«
»Das liegt daran, dass er die Fäden in der Hand behalten will. Natürlich hast du ihm gefallen – ich habe sein Gesicht beobachtet, während du gespielt hast. Ich hoffe nur, er denkt nicht, dass er dich haben kann.«
»Das denkt er doch bestimmt nicht, oder? Er ist viel zu alt«, rief Beth.
Sam schmunzelte. »Den meisten Männern, die dir zugesehen haben, dürfte Ähnliches durch den Kopf gegangen sein. Ich denke, dass ich auf meine kleine Schwester sehr gut aufpassen muss.«
»Wer hätte das gedacht?«, sagte Beth verträumt, während sie in eine Seitenstraße einbogen, um den Weg in die Diversion Street abzukürzen. »Vor einem Jahr hatten wir furchtbare Geldsorgen, und jetzt sind wir hier in Amerika.«
»Und haben immer noch Geldsorgen.« Sam schmunzelte erneut. »Und wir arbeiten in einem Saloon! Papa würde sich im Grab umdrehen.«
»Ich glaube, er wäre stolz darauf, dass wir so mutig sind«, widersprach Beth verärgert. »Außerdem ist der Saloon nur der erste Schritt. Wir werden es schon schaffen, reich zu werden.«
Doch Beth musste feststellen, dass es nicht so leicht war, reich zu werden. Im Oktober, sechs Monate nach ihrer Ankunft in New York, spielte sie immer noch an drei Abenden in der Woche im Heaney’s, und tagsüber arbeitete sie in einem Secondhand-Laden an der Bowery. In einer guten Woche verdiente sie bis zu dreißig Dollar, aber die guten Wochen waren selten; meistens waren es nur ungefähr achtzehn Dollar. Doch das war, wie sie bald merkte, weit mehr, als die meisten Frauen verdienen konnten. Die meisten alleinstehenden Frauen arbeiteten als Putzfrauen, Verkäuferinnen oder Kellnerinnen, und alle bekamen nur wenig Lohn, und ihre Tage waren lang.
Verheiratete Frauen mit Kindern konnten dagegen nur von zu Hause aus arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen, für Leute, die ihre Verzweiflung ausnutzten. Einige nähten für wenige Cent pro Stück für Bekleidungshersteller und schufteten vierzehn Stunden am Tag in überfüllten, schlecht beleuchteten Räumen. Andere machten Streichhölzer und ließen die ganze Familie mitarbeiten. Frauen wie diese konnten sich glücklich schätzen, wenn sie einen Dollar am Tag verdienten, und die meisten bekamen nur die Hälfte.
Beth hatte den zweiten Job nicht wegen des Geldes angenommen, sondern weil sie während des Tages einsam zu Hause saß und nichts zu tun hatte. Sie war eines Tages in den Secondhand-Laden in der Nähe des Heaney’s gegangen, um nach einem neuen Kleid zu suchen. Ira Roebling, die alte Jüdin, der das Geschäft gehörte, war sehr freundlich und redselig, und als Beth den Laden mit einem eingepackten roten Satinkleid wieder verließ, hatte sie Ira eine Kurzversion ihrer Lebensgeschichte erzählt, einen Teil von Iras erfahren und einen Job angeboten bekommen.
Ira war in den 1850er Jahren mit ihrem Mann und seinen Eltern aus Deutschland gekommen. Sie hatten jahrelang erfolgreich eine Bäckerei geführt, aber ein Jahr nach dem Tod ihrer Schwiegereltern war ihr Mann während einer Grippeepidemie gestorben, und ohne ihn konnte Ira die Kuchen nicht mehr backen. Sie wandte sich dem Verkauf von Secondhand-Kleidung zu, weil sie Kleider liebte und viel Kontakt zu Leuten hatte, die ihre alten feinen Sachen an sie verkauften. Mit jedem Schiff, das neue Einwanderer brachte, kamen immer neue Leute, die billige Kleider brauchten, und genauso viele, die ihre verkaufen wollten.
Ira war eine verschrobene, manchmal geizige alte Dame. Sie bezahlte extrem wenig für die Kleider und verkaufte sie zu Höchstpreisen. Beth nahm an, dass sie etwas über sechzig war, obwohl das schwer zu sagen war, denn sie war schlank, stark und voller Energie. Sie trug immer Schwarz, inklusive eines Glockenhutes, den sie nicht mal abnahm, wenn es heiß war. Aber wie exzentrisch sie auch war, sie war lustig und clever. Beth hatte ihr zugesehen, wie sie den Blick über eine Zahlenreihe gleiten ließ und die Summen im Nu addierte, und sie vergaß nie etwas, nicht den Namen eines Kunden und kein einziges Kleidungsstück in ihrem Laden. Allein die Anzahl der Leute, die jeden Tag nur für ein kleines Schwätzchen hereinkamen, zeigte, wie beliebt sie in der Nachbarschaft war.
Ira übernahm fast immer das Verkaufen, und Beth sortierte die Kleider nach Größen, besserte sie gelegentlich aus und hielt generell Ordnung im Laden. Das war eine beachtliche Leistung, denn er war vom Boden bis zur Decke vollgestopft mit Sachen. Es gab riesige Kartons mit Schuhen, die alle durcheinanderlagen, und Beth hatte als Erstes die Paare zusammengebunden und nach Farben und Größen sortiert. Sie probierte auch oft Sachen an, etwas, zu dem Ira sie ermutigte – sie sagte immer, dass sie nur Sachen verkaufen könnten, von denen sie auch wüssten, wie sie aussähen.
Ira wohnte über ihrem Laden, und ihre drei Zimmer waren genauso chaotisch. Während des Sommers, als es unerträglich heiß war, fragte Beth sich, warum sie nicht aufgrund von Sauerstoffmangel ohnmächtig wurde, denn sie öffnete niemals die Fenster aus lauter Angst, jemand könnte hereinklettern und sie ausrauben. Aber obwohl Ira in vielerlei Hinsicht geizig war, niemals etwas wegwarf und mit den Kunden über die Preise stritt, bis ihnen die Augen tränten, gab sie Beth mittags immer etwas zu essen. Manchmal war es köstliche Hühnersuppe, die sie selbst gekocht hatte, aber öfter warme Sandwiches mit gepökeltem Rindfleisch aus dem jüdischen Delikatessengeschäft etwas weiter die Straße herunter und frisches Obst. Sie fand, dass Beth zu wenig aß und dass sie erst einen Mann finden würde, wenn sie etwas mehr Fleisch auf den Rippen hatte.
Beth lachte darüber, denn sie traf sich mindestens zweimal in der Woche mit Jack, und sie wusste, dass er sie genauso mochte, wie sie war. Sie mochte ihn auch, seinen Sinn für Humor, seine Verlässlichkeit und die Art, wie er sich um sie kümmerte. In England wäre es vermutlich schon fast wie eine Verlobung angesehen worden, wenn ein Mädchen so viel Zeit mit einem Mann verbrachte.
Aber Beth zögerte, Jack zu mehr zu ermutigen als Freundschaft.
Ira fand das weise, nicht, weil sie Jack nicht mochte, tatsächlich gefiel er ihr sehr, aber sie hatte das Gefühl, dass Beth zu jung war, um sich schon an jemanden zu binden.
»Es gibt Hunderte von netten jungen Männern da draußen«, sagte sie mit einem schelmischen Zwinkern in den Augen. »Genieße deine Jugend, so lange sie dauert.«
Aber Ira war gar nicht glücklich darüber, dass Beth im Heaney’s spielte. »Pat Heaney ist durch und durch verkommen«, erklärte sie entschieden. »Du darfst niemals mit ihm allein sein, und sorg dafür, dass dein Bruder ihn nie irgendwelche Gefallen für sich tun lässt, denn wenn er die einfordert, dann steckt Sam in großen Schwierigkeiten.«
Beth achtete tatsächlich immer darauf, Heaney auf Abstand zu halten, denn sie bekam eine Gänsehaut, wenn er ihr zu nahe kam. Er sah sie an, als würde er sie in Gedanken ausziehen, und sie spürte seine Blicke auf sich, wenn sie spielte. Gerne hätte sie seinen Saloon verlassen und für jemanden gearbeitet, den sie mochte und in dessen Gegenwart sie sich wohlfühlte, aber sie wusste, er konnte dafür sorgen, dass sie das bereute.
Dem Vernehmen nach nahm Pat Heaney Beleidigungen sehr ernst. Es gingen Gerüchte um, dass er mehrere Männer umgebracht und noch mehr verkrüppelt hatte, nur weil sie hinter seinem Rücken über ihn geredet oder sich geweigert hatten, seinen Anweisungen zu folgen.
Er hatte keine wirklichen Freunde, nur Lakaien, die alles für ihn taten, weil sie Angst hatten, es nicht zu tun. Laut Jack kontrollierte er Dutzende von Prostituierten und nahm ihnen mindestens die Hälfte ihrer Einnahmen ab. Er besaß zwei der verkommensten Mietskasernen in der Gegend um die Canal Street, und er verlangte so horrende Mieten, dass die Mieter mehrmals untervermieten mussten, um sie aufbringen zu können. Außerdem hatte er seine Hände bei den florierenden Opiumhöhlen, Hunderennen und Faustkämpfen im Spiel. Selbst wenn nur die Hälfte der Geschichten über ihn stimmte, war er ein ausgesprochen gefährlicher Mann. Beth war sicher, dass sie irgendeinen »Unfall« haben würde, wenn sie für jemand anderen in New York arbeitete. Er würde sie niemals irgendwo anders als in seinem Saloon Erfolg haben lassen.
Sam dagegen glaubte, dass ihre Fantasie mit ihr durchging. Er hielt den Mann nicht nur für ungefährlich, sondern hatte auch das Gefühl, Heaneys rechte Hand zu sein, weil dieser ihn die Bar führen ließ, ohne ihn zu kontrollieren.
Aber Beth wusste, woran das lag. So abscheulich Heaney sein mochte, dumm war er nicht. Er wusste, dass Sam ehrlich und geschickt war und genauso eine große Attraktion für die Tänzerinnen aus den Theatern der Gegend wie Beth für die männlichen Gäste. Während ihrer Pause vor dem letzten Set spähte sie manchmal durch die Tür, und es flirteten immer drei oder vier dieser Frauen mit Sam. Und natürlich liebte Sam diese Aufmerksamkeit.
Aber Beth wusste, dass sie selbst sich auch nicht davon freisprechen konnte, die Aufmerksamkeit zu lieben, die sie bekam. Es gab kein größeres Vergnügen, als ihr Publikum zu verzaubern, zu wissen, dass sie von den meisten Männern begehrt wurde, die ihr begeistert zujubelten. Es tat gut, ein schönes Kleid zu tragen und zu wissen, dass sie sich, wann immer sie wollte, ein neues leisten konnte. Sie tat etwas, von dem die meisten Frauen nur träumen konnten.
Schon bald, nachdem sie im Heaney’s angefangen hatten, fanden Sam und sie ein Zimmer im obersten Stock eines Mietshauses an der Houston Street, wo sie sich die Küche mit einem italienischen Ehepaar teilten, das in dem anderen Zimmer der Wohnung lebte. Für fast jeden, den sie kannten, war ein Raum für nur zwei Leute ein Luxus, und obwohl Beth sich oft beklagte, dass man in dem Haus mit seinen fünf Stockwerken, in denen jeweils vier Wohnungen lagen, die durchschnittlich von acht bis zehn Leuten bewohnt wurden, nie seine Ruhe hatte, war sie dankbar dafür, dass es nur der Lärm war, mit dem sie sich abfinden musste, und nicht ein Zimmer voller Menschen.
Das Zimmer selbst war nicht toll mit seiner dreckigen alten Tapete, und im Sommer wurde es zu einem Ofen, aber Beth hatte es nett hergerichtet. Sie hatte einige Theaterposter besorgt, um die fleckigen Wände zu bedecken, hatte in den Secondhand-Läden in der Nachbarschaft ein paar Möbel erstanden, und Ira hatte sie auf der Nähmaschine ein paar Vorhänge nähen lassen und ihr eine alte Tagesdecke gegeben, die jetzt zwischen den beiden Betten aufgespannt war, damit sie beide etwas Privatsphäre hatten.
Die Houston Street war eine arme Gegend, mit Wäscheleinen, die aus jedem Fenster hingen, dürren, dreckigen Kindern, die auf den Straßen spielten, und einer Kneipe an der Ecke, und sie sah oft Frauen, die schwere Säcke mit Kleidung auf dem Rücken durch die Straße trugen, die sie zu Hause genäht hatten. Aber es war eine lebendige, fröhliche Nachbarschaft. An heißen Abenden saßen die Leute auf der Treppe vor den Haustüren und unterhielten sich, die Frauen teilten sich die Beaufsichtigung der Kinder und halfen den Italienern und Deutschen mit ihrem Englisch. Alle, mit denen sie sprach, waren froh, nach Amerika gekommen zu sein, und glaubten, dass sie mit harter Arbeit ihr Ziel erreichen würden.
Das Schlimmste an dem Mietshaus war, dass es für alle nur zwei Plumpsklos im Hof gab, stinkende, schreckliche Orte, die Beth erschaudern ließen und die sie nur mit zugehaltener Nase betreten konnte. Aber Sam leerte jeden Morgen die Betttöpfe, bevor er zur Arbeit ging, und ihr Zimmer lag zur Straße raus, sodass der Gestank der Plumpsklos nicht durch ihre Fenster drang. Die Wohnung war außerdem so weit oben, dass sie keine Probleme mit Ratten hatten wie so viele im ersten und zweiten Stock.
Manchmal, wenn ihr der Lärm und die Kochgerüche der Mietskaserne sehr zusetzten oder sie davon träumte, ein richtiges Badezimmer mit fließend heißem und kaltem Wasser zu haben wie das am Falkner Square, erinnerte sie sich selbst daran, dass diese Dinge nicht wichtig waren und wie sehr sich ihr Leben verbessert hatte, seit sie in Amerika war.
Zu Hause wäre es für sie undenkbar gewesen, in einer Bar Geige zu spielen, denn dort waren junge Frauen nicht so frei wie hier. Sie konnte mit Jack abends oder an seinem freien Tag mehrere Stunden allein verbringen, ohne dass irgendjemand Anstoß daran nahm. Sie hatte mehr Geld, als sie in England jemals hätte verdienen können, und niemand hier wusste, wie ihr Vater gestorben war. Dann war da noch die große Auswahl an Essen, die man hier bekam. Sie kochte kaum je etwas, weil es so billig war, sich etwas zu kaufen. Sie liebte die Hotdogs, die Ofenkartoffeln, Donuts, Pfannkuchen und Waffeln. Ein Chinese verkaufte an einem Stand Nudeln, die sie sehr gerne aß, und sie mochte die Teller mit Spaghetti und Tomaten-Fleischsoße in dem Café, das von Italienern geführt wurde. Kaum ein Tag verging, an dem Ira sie nicht etwas Neues probieren ließ: Brezel, Pastrami, Pökelfleisch, Fischbällchen oder irgendeine deutsche Wurst.
Das Einzige, was sie an England wirklich vermisste, war Molly, und das war ein dumpfer Schmerz in ihrem Innern, der sie nie ganz verließ. Sie konnte nicht an einer Mutter mit einem molligen, dunkelhaarigen kleinen Mädchen vorbeigehen, ohne anzuhalten und mit ihr zu sprechen, und in diesen kurzen Momenten fühlte sie akuten Neid.
»Ich könnte dir ein eigenes Baby geben«, sagte Jack einmal, als sie zusammen waren und er gesehen hatte, wie sie mit einem Kind sprach. Er sagte es leichthin, denn jedes Mal, wenn sie sich küssten, erzählte er ihr, dass er davon träume, mit ihr zu schlafen.
Beth hatte gelacht, denn erst ein paar Tage zuvor hatte sie mit Amy und Kate gesprochen, den beiden jungen Frauen, die in der Wohnung unter ihr wohnten. Sie waren ein paar Jahre älter als sie und schienen sehr viel mehr Erfahrung mit Männern zu haben, aber sie waren beide lustig und lebhaft, und Beth war sehr froh, zwei neue Freundinnen gefunden zu haben.
An dem Tag hatten sie sich über die Sprüche unterhalten, mit denen Männer versuchten, Frauen rumzukriegen. Amy erinnerte sich, dass ihr erster Freund gesagt hatte: »Ich werde dich nicht schwängern«, und Kate erzählte, dass ihrer versucht hatte, sie zu erpressen, indem er sagte: »Du würdest es tun, wenn du mich wirklich lieben würdest.«
Beth war sicher, Amy würde es sehr lustig finden, dass Jack den Spruch ihres Freundes umgedreht hatte.
Aber Jack war ein echter Schatz. Er beschwerte sich nie über irgendetwas, nicht über seine Arbeit, nicht über seine Lebensumstände oder dass sie ihn immer eine Armlänge auf Abstand hielt. Er war ein unverbesserlicher Optimist und sah die lustige Seite der Dinge. Er brachte Beth zum Lachen, sie konnte ihm alles sagen, und sie vertraute ihm bedingungslos. Während des Sommers waren sie an heißen Abenden oft runter zum East River gegangen in der Hoffnung, dass die Luft dort kühler war. Keiner von ihnen war darauf vorbereitet gewesen, wie heiß es in New York werden konnte; in Liverpool hatte vom Meer her immer eine Brise geweht, selbst an den heißesten Tagen.
Sie hatten Gruppen von Jugendlichen dabei beobachtet, wie sie in das schlammige Wasser tauchten. Es war vermutlich das einzige Bad, das sie jemals nahmen, denn diese Jungen lebten auf der Straße – sie waren bekannt als die Gassenjungen –, schliefen in Hauseingängen und hamsterten Essen.
Jeder mit einem Eis in der Hand, redeten Jack und sie dann darüber, wie kalt es an Deck des Schiffs gewesen war, mit dem sie aus England gekommen waren.
»Im Winter werden wir darüber sprechen, wie heiß es in diesem Sommer war, damit uns wieder warm wird«, sagte Jack dann.
Ihre Beziehung war einfach und unkompliziert, denn sie waren die besten Freunde, aber Beth war immer ein bisschen nervös, wenn Jack sie küsste. Sie mochte das flattrige Gefühl, das sie im Bauch bekam, und die Art, wie sie in seinen Armen dahinschmolz und dort für immer bleiben wollte, aber sie hatte Angst, wohin das führen würde.
Amy hatte sie einmal gefragt, ob sie ihn liebe, und Beth war nicht sicher gewesen, was sie darauf antworten sollte. Sie freute sich immer darauf, ihn zu sehen, und war immer froh, wenn er samstagabends ins Heaney’s kam, um sie spielen zu hören. Aber sie war nicht sicher, ob es das war, was die Leute Liebe nannten. Ihr Herz schlug nicht schneller, wenn sie an ihn dachte, und sie hatte auch nicht aufgehört zu essen, wie es in den Liebesromanen immer geschrieben stand.
Jack war im Saloon, als Beth am Samstagabend aus dem Hinterzimmer kam, um ihr letztes Set zu spielen. Es regnete draußen, und er musste gerade erst hereingekommen sein, denn selbst vom anderen Ende des Raumes aus konnte sie sehen, wie nass sein Haar war. Sie winkte ihm, bevor sie zu dem Pianisten auf die Bühne sprang.
Sie genoss immer das letzte Set am Samstagabend. Die Leute waren durch den Alkohol milde gestimmt, sie mussten am nächsten Tag nicht arbeiten und zeigten durch lautes Klatschen und Füßestampfen, wie sehr es ihnen gefiel. Sie liebte es inzwischen auch, von Amos begleitet zu werden. Er war ein schwarzer Mann aus Louisiana, und er konnte besser Klavier spielen als jeder, den Beth jemals gehört hatte. Wenn sie in Fahrt kamen, dann konkurrierten sie regelrecht miteinander und trugen die Melodien in neue Sphären.
An jenem Abend war es noch besser als sonst. Die Zuhörer jubelten, klatschten und brüllten bei jeder Nummer, und Beth hatte das Gefühl, dass sie ihr aus der Hand fraßen. Sie hatte Schwierigkeiten aufzuhören, denn sie verlangten nach einer Zugabe. Sie spielte eine, dann noch eine, bevor die Leute sie endlich gehen ließen.
Als sie sich den Weg durch die Menge zur Hintertür bahnte, wo sie ihren Mantel liegen gelassen hatte, hielt sie jemand am Ellbogen fest.
Zu ihrer Überraschung war es der gut aussehende Mann vom Schiff, der mit der verheirateten Frau zusammen gewesen war.
»Miss Diskretion hat mir nicht verraten, dass sie Geige spielt«, sagte er.
In der ersten Woche nach ihrer Ankunft in New York hatte Beth sich gefragt, was aus ihm und Clarissa geworden sein mochte, doch sie hatte ganz sicher nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Aber da stand er, seine englische Stimme erinnerte sie an zu Hause, und er sah noch attraktiver aus als bei ihrer ersten Begegnung. Er trug ein gut sitzendes dunkelgrünes Jackett und darunter eine elegant bestickte Weste.
»Was hat Sie denn hierher verschlagen?«, fragte sie.
»Ich bin geschäftlich hier«, sagte er, aber die Art, wie er in Richtung des Hinterzimmers sah, wo Heaney Glücksspiele abhielt, ließ sie erahnen, was für Geschäfte das waren. »Wie sind Sie denn dazu gekommen, für Heaney zu arbeiten?«
»Mein Bruder und ich sind einfach zu ihm gegangen und haben gefragt, ob er Arbeit für uns hat«, erwiderte sie und deutete auf Sam hinter der Theke. »Wir sind jetzt seit sechs Monaten hier.«
Auf einmal schob Jack sich durch die Menge auf sie zu. »Sam hat mich gebeten, dich heute nach Hause zu bringen«, sagte er mit einem breiten Lächeln. »Er muss länger arbeiten.«
»Gut.« Beth nickte ihm zu, blickte jedoch den Mann vom Schiff an. »Was ist mit Clarissa passiert?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist irgendwie im Sande verlaufen, nachdem wir angekommen waren.«
Beth konnte sehen, dass Jack nervös wurde, und sie wusste ohnehin nicht, warum sie überhaupt noch länger mit diesem Mann reden wollte. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Mr Heaney mag es nicht, wenn ich mit Gästen rede.«
»Es war schön, Sie wiederzusehen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Und vor allem herauszufinden, dass Sie so talentiert sind.«
Sie legte ihre Hand in seine, und die Berührung seiner Haut sandte ihr einen Schauer über den Rücken. »Ich habe mich auch gefreut, Sie zu sehen. Viel Glück beim Spiel heute Abend.«
»Wer war der Mann?«, fragte Jack, als sie zur Houston Street liefen. Der heftige Regen hatte die Leute von den Straßen vertrieben, und ihre Schritte hallten ungewöhnlich laut.
»Nur ein Mann, der auch auf dem Schiff war.«
»Er ist mir nie begegnet.«
»Er war in der ersten Klasse. Wir haben uns mal unterhalten, als ich an Deck war«, erwiderte sie.
»Und was wollte so ein feiner Pinkel im Heaney’s?«
Beth blieb stehen und zog an Jacks Arm, bis er sie ansah. »Spielen?«, meinte sie sarkastisch. »Aber er war genauso überrascht über unsere erneute Begegnung wie ich. Ich weiß nichts über ihn, nicht mal seinen Namen, also brauchst du nicht eifersüchtig zu sein.«
»Das bin ich nicht«, widersprach er entrüstet. »Es wirkte nur, als liefe da was zwischen euch.«
»Wir waren nur überrascht, mehr nicht«, erklärte sie knapp.
»Kann ich noch einen Moment mit reinkommen?«, fragte Jack, als sie ihr Haus erreichten.
»Nein, es ist zu spät«, erwiderte Beth und nahm den Geigenkasten von ihm entgegen.
»Ich wäre wirklich leise«, sagte er.
Er sah sie mit diesem jungenhaften, erwartungsvollen Blick an, der sie normalerweise lächeln ließ, aber aus irgendeinem Grund machte er sie heute wütend.
»Ich habe keine Angst, dass du zu laut bist«, entgegnete sie ungeduldig. »Es geht darum, wie das nach ein Uhr nachts aussieht. Und wo Sam nicht zu Hause ist.«
Sam passte ihre Freundschaft mit Jack immer noch nicht wirklich, aber er wusste, wenn Jack Beth abends nach Hause brachte, musste er sich keine Sorgen um sie machen.
»Ich wollte nur ein bisschen schmusen und küssen«, sagte Jack niedergeschlagen. »Es ist zu kalt und zu nass, um das hier draußen zu machen. Du musst doch wissen, dass ich nie etwas tun würde, womit du nicht glücklich bist.«
Beth trat näher an ihn heran und küsste ihn auf die Lippen. Die Gaslaterne ließ sein Gesicht noch kantiger erscheinen, seine Narbe noch bleicher, und sie verlieh seiner Haut eine unheimliche gelbe Farbe. Sie empfand keinerlei Verlangen nach ihn, und sie schämte sich deswegen. »Ich weiß das, ich bin nur müde und ein bisschen grantig, und du bist sehr nass, also geh nach Hause.«
»Ich liebe dich, Beth«, sagte er und legte seine Hände um ihr Gesicht. »Ich glaube, ich habe mich schon in dich verliebt, als ich dich das erste Mal sah. Geht es dir auch so?«
Er hätte sich keinen unpassenderen Moment aussuchen können, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, und anstatt gerührt zu sein, war sie verärgert. Wenn sie Nein sagte, würde er tief verletzt sein, aber wenn sie Ja sagte, dann begann sie damit vielleicht etwas, das sie wahrscheinlich bereuen würde.
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Jack«, sagte sie müde.
Er machte einen Schritt zurück. Der Regen glänzte auf seinem Gesicht und seinen Haaren, und sein Mund war nur noch eine verletzte, gerade Linie. »Für uns gibt es keinen richtigen Zeitpunkt, oder?«
Er wandte sich um und ging und blickte nicht einmal zurück, um zu überprüfen, ob sie ihm nachsah.