18

»Wer is’n dieser andere Typ, Jack?«, wollte Edgar wissen, als die Männer sich um sechs Uhr morgens am Ende der Canal Street versammelten. Die Temperatur lag weiter unter dem Gefrierpunkt, und ihr Atem war wie Rauch, während sie unter der Laterne zusammenrückten.

»Ein feiner Pinkel namens Theo«, erwiderte Jack knapp. Er wünschte sich jetzt, er hätte nicht vorgeschlagen, dass Theo sie begleiten sollte, denn er würde wahrscheinlich ein Klotz am Bein für sie sein. »Beth ist mit ihm ausgegangen.«

Alle fünf Männer arbeiteten im Schlachthaus, und keiner von ihnen hatte Kontakte zu Heaney oder Fingers. Es waren alles große, muskulöse Männer zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, aber Edgar war der Einzige, der in Amerika geboren war. Die anderen vier waren Einwanderer wie Jack: Karl, ein Schwede, Pasquale, ein Italiener, Thaddeus, ein Pole, den alle als Tadpole kannten, und Dieter, ein Deutscher.

Die Freundschaft zwischen diesen Männern war gewachsen, während sie Seite an Seite arbeiteten. Ihr Job war hart und brutal, und es konnten jederzeit schlimme Unfälle passieren, deshalb mussten sie sich aufeinander verlassen können. Jack hatte Karl einmal aus dem Weg gestoßen, als ein wütender Stier auf ihn losgegangen war, und die anderen verdankten sich ebenfalls gegenseitig das Leben, weil sie sich rechtzeitig gewarnt oder sich geholfen hatten, als sie verletzt waren. Es gab eine Art Kodex unter den Männern, die im Schlachthaus arbeiteten, dass sie einander beistanden, wenn einer von ihnen Hilfe brauchte.

Jack hatte zu der Gruppe gehört, die Rache genommen hatte, als Tadpoles jüngere Schwester auf dem Weg von der Tanzschule nach Hause vergewaltigt worden war. Einer der Vergewaltiger würde nie mehr laufen können, ganz zu schweigen davon, dass er noch einer Frau Gewalt antun konnte, und die anderen beiden waren auf primitive Weise kastriert worden.

Jack hatte gewusst, dass er sich auf diese Männer verlassen konnte, denn sie wussten nicht nur, was Beth ihm bedeutete, sondern hatten sie alle schon im Heaney’s spielen gehört. Als er bei jedem Einzelnen vorbeigegangen war, hatten sie nur gefragt: »Um wie viel Uhr?« Jeder Mann war unter seinem Mantel mit einem Knüppel bewaffnet.

Als Sam um die Ecke bog und zu ihnen stieß, sah er im Licht der Gaslaterne so gelb aus wie ein Chinese. Jack stellte ihn den anderen Männern kurz vor und klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter, weil er wusste, dass Sam kein Kämpfer war und offensichtlich Angst hatte.

Endlich kam auch Theo. Er trug Arbeiterkleidung, und Jack wunderte sich kurz, wie er daran gekommen war, weil er bezweifelte, dass der Mann jemals in seinem Leben wirklich gearbeitet hatte. Er fragte sich auch, ob Theo wohl überlegt hatte, gar nicht aufzutauchen. Aber erst in ein oder zwei Stunden würde er den Mann wirklich einschätzen können.

Er stellte Theo vor, dann scharte er alle um sich, damit er nicht schreien musste.

»Ziel dieses Überfalls ist es, die Leute so einzuschüchtern, dass sie uns sagen, wo Beth festgehalten wird«, begann er. »Schreit und schubst sie herum, aber haltet euch mit den Knüppeln zurück, die sind nur für diejenigen, die sich uns in den Weg stellen, nicht für die armen Teufel, die in den Bruchbuden wohnen.

Sie werden uns nichts sagen wollen. Sie sind vielleicht am Ende, aber sie verpfeifen nur ungern jemanden. Allerdings sind sie ständig draußen in den Gassen, deshalb müssen einige von ihnen gesehen haben, wie Beth hergebracht wurde. Und dann achtet auf die Kinder. Es gibt Hunderte; es wird sein, als ob man in einen Ameisenhaufen tritt. Wir wollen nicht dafür verantwortlich sein, dass eines von ihnen verletzt wird.«

»Sollen wir alle gleichzeitig reingehen?«, fragte Karl, der große blonde Schwede.

»Nein. Ich gehe mit Pasquale und Dieter, um sicherzugehen, dass die Italiener und Deutschen verstehen, was wir von ihnen wollen. Ihr anderen bleibt an der Tür, damit keiner abhauen kann. Ich habe etwas Geld, um sie zu bestechen, also haltet die Augen und die Ohren offen nach jemandem, der sich so verhält, als wenn er etwas wissen könnte.«

Jack gab Sam einen Knüppel, den er mitgebracht hatte, weil er wusste, dass Sam nicht daran gedacht hatte, sich zu bewaffnen. Er bemerkte, dass Theo einen dicken Spazierstock dabeihatte, was ihn überraschte; er hatte erwartet, dass der Mann ein Messer bei sich trug.

Jack ging voraus, Sam neben ihm, und die anderen folgten dicht dahinter.

Es war merkwürdig, die Gassen so leer und friedlich zu sehen nach dem Lärm der vielen Menschen am Tag zuvor. Sie kamen an vielen Betrunkenen vorbei, die bewusstlos auf dem gefrorenen Boden lagen. Jack fragte sich kurz, wie viele von ihnen nicht mehr aufwachen würden, denn er hatte gehört, dass im Winter hier viele erfroren.

Aber es war nicht völlig still. Sie konnten Schnarchen und Babygeschrei hören, und es gab das unvermeidliche Rascheln der Ratten, die nach Nahrung suchten.

Sie begannen mit dem Blind Man’s Court, und Pasquale zündete die Laterne an, die sie mitgebracht hatten. Genau wie Jack erwartet hatte, war die Haustür nicht abgeschlossen, genauso wenig wie die Tür des ersten Zimmers, in das sie stürmten. Als Pasquale die Laterne hochhielt, sahen sie, dass darin mindestens fünfzehn Leute wie Sardinen in der Büchse auf dem Boden nebeneinanderlagen.

»Wo ist das Mädchen?«, schrie Jack und stieß mit seinem Knüppel gegen die Körper. »Na los, sagt mir, wo sie ist!«

Einer nach dem anderen hob den Kopf und blinzelte in das Laternenlicht. Eine Frau schrie, ein Mann fluchte, aber Jack blieb hart. »Jemand hat gestern eine junge Frau gegen ihren Willen hergebracht«, sagte er. »Das war gegen sechs Uhr abends. Habt ihr sie gesehen?«

Pasquale wiederholte das auf Italienisch, und einige seiner Landsleute antworteten ihm. Es entstand ein heftiger Wortwechsel, und Jack sah Pasquale fragend an, denn obwohl er etwas Italienisch verstand, konnte er nicht folgen.

»Sie sagen, wir sollen weggehen, sie haben nichts gesehen. Sie sind wütend, weil wir sie aufgeweckt haben.«

»Glaubst du ihnen?«

Pasquale nickte. »Wir versuchen es besser in einem anderen Zimmer.«

Sie durchkämmten systematisch das ganze Haus, und obwohl sie auf ungefähr zweihundert Leute trafen, vom Baby bis zum Greis, erfuhren sie nichts. Einige der jüngeren Männer entkamen ihnen und rannten nach draußen, wo die anderen sie aufhielten und befragten. Aber sie waren nicht weggerannt, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, sondern aus schierer Gewohnheit. Offensichtlich bedeutete eine Razzia des Hauses normalerweise, dass einige von ihnen ins Tombs, das Gefängnis in Manhatten, gesteckt wurden.

Als sie schließlich zum nächsten Haus gingen, waren die meisten Bewohner des kleinen Platzes durch den Lärm, den sie veranstaltet hatten, bereits alarmiert, und Jacks Männer hatten alle Hände voll zu tun, niemanden entkommen zu lassen. Zum Glück war es immer noch dunkel und bitterkalt, und die meisten hatten so viel Angst vor den Knüppeln, dass sie bald wieder im Haus verschwanden.

»Hier hat man sie nicht hingebracht, Jack«, sagte Theo, als sie in jedem Haus gewesen waren und es vom Keller bis zum Dachboden durchsucht hatten. »Ich bin noch nie einem so erbärmlichen Haufen begegnet. Hast du gesehen, wie hoffnungsvoll sie aussahen, als sie hörten, dass es eine Belohnung für Informationen gibt? Sie sind halb verhungert – wenn sie etwas wüssten, dann hätten sie es uns sofort erzählt.«

»Dann lasst uns hoffen, dass wir in der Bottle Alley mehr Erfolg haben«, entgegnete Jack müde.

Die Situation in der Bottle Alley war die gleiche wie am Blind Man’s Court, abgesehen davon, dass es schwerer war, die Leute festzuhalten, die aus den Häusern stolperten, um zu sehen, was da passierte, weil es eine Gasse war mit einem Ausgang zu beiden Seiten. Als sie die Hälfte der Gasse abgesucht hatten, wurde es hell, und ihre Probleme wurden durch die Leute vergrößert, die woanders wohnten und durch die Gasse gingen. Viele blieben stehen und fragten, was los sei, oder standen nur herum und beobachteten alles.

Sam sah aus, als würde er gleich zusammenklappen. Nach zwei schlaflosen Nächten mit so vielen Leuten fertigzuwerden, die alle um ihn herumstanden und in verschiedenen Sprachen durcheinanderredeten, war tatsächlich schwer für ihn.

Jack war auch müde. Er hatte das Gefühl, dass er dieselbe Frage schon ungefähr tausend Mal gestellt hatte, und es gab Momente, in denen er versucht war, seinen Knüppel zu benutzen, um eine echte Reaktion zu provozieren anstatt diese leeren Blicke. Ein paar alte Frauen mit einem Schal über den gebeugten Schultern streckten ihre Hände aus und bettelten um Geld, viele Männer stießen Flüche aus, und die Kinder liefen ständig um sie herum und standen ihnen im Weg.

Zu Jacks Überraschung konnte Theo sehr gut mit Kindern umgehen. Die meisten von ihnen sprachen Englisch oder zumindest so viel, um mit ihm zu kommunizieren, und er redete viel mit ihnen, stellte ihnen Fragen, schmeichelte sich bei ihnen ein und versprach ihnen eine Belohnung für Informationen.

»Komm hierher, Jack!«, rief er plötzlich, und als Jack sich einen Weg durch die Menge bahnte, sah er Theo bei einem kleinen Mädchen von sechs oder sieben Jahren stehen. Die Kleine war so wie alle Kinder hier schrecklich dünn und blass, hatte verfilztes Haar, und ihre dunklen Augen wirkten zu groß in dem schmalen Gesicht. Sie trug ein dünnes, zerschlissenes Kleid, war barfuß und hatte ein Tuch um ihre Brust gebunden, das auf dem Rücken verknotet war.

»Sie hat etwas gehört«, sagte Theo zu Jack, als dieser ihn erreichte. »Aber ihr Englisch ist nicht gut. Sie spricht ständig Italienisch.«

Jack holte Pasquale, der vor dem Kind in die Hocke ging und mit ihm sprach. Pasquale war attraktiv mit seinen schwarzen Locken, der olivfarbenen Haut und den sanften, dunklen Augen, und obwohl das kleine Mädchen schüchtern war und sein Gesicht in den Händen vergrub, taute es langsam auf, während er mit ihm sprach und es freundlich anlächelte. Theo hielt dem Mädchen einen Silberdollar hin, und es starrte gierig darauf. »Sag ihr, dass sie ihn bekommt, wenn sie uns sagen kann, was sie gehört hat und wo Beth ist.«

Der Silberdollar schien zu funktionieren. Plötzlich plapperte das Mädchen drauflos.

»Was sagt sie?«, drängte Jack.

»Sie hat gestern jemanden klopfen und rufen hören. Sie hat es ihrer Mutter erzählt, und die meinte, es würde immer irgendwer klopfen und schreien. Aber das Mädchen sagt, sie hat noch nie jemanden so wie diese Lady rufen hören.«

Jacks Herz schlug aufgeregt. »Wo war das?«

Pasquale fragte das Mädchen, und es nahm seine Hand, um ihn hinzuführen.

Jack folgte ihnen mit Theo bis ans Ende der Gasse, durch den Teil, den sie bis jetzt noch nicht durchsucht hatten. Das Kind blieb vor einem Stück Brachland stehen, offenbar ein Platz, an dem ein Gebäude abgebrannt oder eingestürzt war. Überall lagen Trümmer und Steine, und es gab einen baufälligen Schuppen, der früher vielleicht mal ein Stall gewesen war. Das Mädchen sah zu Pasquale auf und fing wieder an zu reden.

Pasquale lächelte. »Sie versteckt sich in dem Schuppen, wenn ihr Pa betrunken ist. Sie hat dort geschlafen und ist morgens von dem Klopfen und Rufen aufgewacht. Sie sagt, es kam von dort.« Er deutete auf das Haus zu ihrer Linken.

Jack geriet in Aufregung. Die Häuser zu beiden Seiten des Brachlandes waren alt und mit dicken Balken verstärkt, aber gleich dahinter, dort, wo eigentlich der Hinterhof hätte sein müssen, standen neuere Gebäude. Diese Häuser, die als Hinterhäuser bekannt waren, gab es überall in der Lower East Side.

»Gehen wir rein«, sagte er.

Er lief zur Vorderseite des Hauses und sah, dass daran ein Vorhängeschloss hing und die Fenster mit Brettern vernagelt waren. Er fragte das Kind, ob dort jemand wohne. Es zuckte mit den Schultern und sagte etwas auf Italienisch.

»Sie glaubt nicht«, übersetzte Pasquale. »Aber manchmal kommen Männer her.«

Bevor Jack aussprechen konnte, dass er glaubte, das richtige Haus gefunden zu haben, drückte Theo dem kleinen Mädchen den Silberdollar in die Hand, rannte um das Haus herum und kletterte die Wand hinauf, die beide Häuserteile miteinander verband. Sie war knapp drei Meter hoch, aber er schaffte es leicht, denn die Steine waren uneben und boten Händen und Füßen Halt. Oben blieb er kurz sitzen, dann sprang er an der anderen Seite herunter.

Jack folgte ihm schnell und rief Pasquale zu, dass er die anderen holen und eine Laterne mitbringen solle. Dann ließ er sich ebenfalls in den winzigen Hof zwischen den beiden Häusern hinunter.

Er umfasste nur wenige Quadratmeter, und der Müll lag knöchelhoch, war aber zum Glück gefroren. An den Türen zu beiden Häusern hingen Vorhängeschlösser, und alle Fenster waren vernagelt außer eines neben der Tür zum Vorderhaus. Dort waren die Bretter entfernt worden, und man sah die Scheibe, die teilweise zerbrochen war.

Theo hob seinen Spazierstock und zerschlug auch den Rest des Glases.

»Warte, bis die anderen da sind«, rief Jack, aber Theo achtete nicht auf ihn und kletterte hinein.

Jack wollte ihm gerade folgen, als er Karl rufen hörte, dass er mit der Laterne zu ihm kommen würde, also wartete er, bis sein Freund auf der Mauer erschien und ihm die Laterne reichte.

Theos schwere Stiefel machten viel Lärm auf den Holzdielen im Haus, aber als Jack durch das Fenster kletterte, glaubte er, etwas zu hören.

Er bat Theo, stehen zu bleiben, und als sie lauschten, hörten beide ein entferntes Rufen.

»Beth?«, brüllte Theo. »Bist du das? Ich bin gekommen, um dich zu holen!«

Die beiden Männer standen ganz still und lauschten wieder.

Dann, gerade als Jack schon glaubte, dass sie sich das Rufen nur eingebildet hatten, hörte er Beths Stimme.

»Ich bin hier unten«, rief sie, und ihre Stimme klang leise und schwach. »Da ist eine Falltür im Boden.«

»Ich mache nur schnell die Laterne an«, rief Theo zurück und bedeutete Jack, dass er das tun sollte. »Halt durch, ich hole dich sofort da raus.«

Als die Laterne brannte, konnten sie einen alten Tisch und ein paar Stühle auf der einen Seite des Raumes sehen. Darum verteilt standen einige große Holzkisten. Es sah aus, als hätten hier Männer Karten gespielt.

Aber sie konnten keine Falltür am Boden sehen.

Karl kam herein, gefolgt von Pasquale, und zusammen schoben sie die Kisten beiseite, um zu sehen, was sich darunter befand.

Als sie die letzte wegschoben, die schwerer war als die anderen, entdeckten sie endlich die Falltür. »Wir haben sie gefunden, Beth«, rief Theo, während Jack sie aufzog.

»Hier steht eine Leiter«, sagte Pasquale. Er ergriff sie und zerrte sie über den Boden.

Jack wollte als Erster die Leiter hinuntersteigen, aber Theo drängte ihn beiseite und verschwand in der Dunkelheit.

»Ich hab dich«, hörte Jack ihn sagen, während Beths Weinen zu ihnen nach oben drang.

Theo trug sie über der Schulter nach oben, und als er sie oben abstellte, war Jack sicher, dass er noch nie einen traurigeren Anblick gesehen hatte. Ihr Gesicht starrte vor Schmutz, ihre Augen waren rot und geschwollen, und Tränen hatten weiße Spuren auf ihren schwarzen Wangen hinterlassen. Ihr Rock und ihre Stiefel waren durchnässt, und sie war so steif vor Kälte, dass sie stolperte, als sie zu laufen versuchte.

»Ich dachte, ich würde sterben«, sagte sie, und ihre Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen.

Theo nahm sie auf die Arme. »Wir müssen sie hier raus ins Warme bringen«, sagte er.

Sam und die anderen kletterten gerade über die Mauer, und ein paar Augenblicke lang redeten alle gleichzeitig, glücklich darüber, dass ihre Mission erfolgreich gewesen war. Beth schien kaum jemanden wahrzunehmen außer Theo, und als sie alle zusammenarbeiteten, um sie über die Mauer zu heben und in Sicherheit zu bringen, spürte Jack einen heftigen Stich der Eifersucht.

Er war ihr wahrer Retter gewesen. Er hatte alles geplant, hatte die Männer zusammengetrommelt und alles organisiert. Aber Theo, der nur wenig daran beteiligt gewesen war, hatte alles an sich gerissen, als sie Beth gefunden hatten, und für Beth würde es jetzt so aussehen, als wenn er sie gerettet hätte.