31

»Ich weiß, es ist schrecklich traurig, wenn man vom Tod eines Kindes erfährt, Beth, aber du musst dich jetzt zusammenreißen«, sagte Theo mit einem scharfen Unterton in der Stimme.

»Sie war nicht irgendein Kind, sie war meine Schwester«, gab Beth zurück und brach erneut in Tränen aus. »Zuerst Sam und jetzt Molly. Ich habe niemanden mehr.«

Eine Woche war vergangen, seit sie die niederschmetternde Nachricht erhalten hatte. Theo war zuerst nett gewesen und hatte sie getröstet, aber am Tag danach, dem Unabhängigkeitstag, hatte er sie weinend im Zelt zurückgelassen und mit allen anderen in Dawson gefeiert.

Jack war am frühen Abend zum Zelt zurückgekehrt, weil er Theo im Saloon gesehen hatte und ihm klar geworden war, dass er sie allein gelassen haben musste.

»Ich schätze, er wusste einfach nicht, was er noch sagen sollte, um dich zu trösten«, verteidigte er Theo. »Ich weiß es auch nicht, Beth, ich weiß nur, dass du nicht allein sein solltest.«

»Warum weißt du das und er nicht?«, fragte sie Jack verbittert. »Es war nicht dein Baby, das ich verloren habe, es war seins. Er hat mir oben auf dem Chilkoot Pass versprochen, dass er mich liebt und dass wir heiraten würden; er weiß, wie schwer mich Sams Tod getroffen hat, und wenn er mich wirklich lieben würde, dann müsste er sich doch in meine Lage versetzen und mich verstehen können, oder nicht?«

»Oh Beth, du musstest so viel ertragen.« Jack seufzte, setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. »Schon als du mir damals auf dem Schiff das erste Mal von Molly erzählt hast, wusste ich, wie schwer es dir gefallen ist, sie zurückzulassen. Aber du hast das Richtige getan. Denk doch nur daran, wie schwer es in New York für uns alle war. Du hättest doch nicht gewollt, dass sie das alles durchmachen muss, oder?«

»Aber ich denke immer, dass sie vielleicht noch leben würde, wenn ich bei ihr gewesen wäre.«

Jack strich ihr das Haar aus dem Gesicht und wischte ihre Tränen weg. »Es wäre sogar noch wahrscheinlicher gewesen, dass sie schlimm krank wird. Zumindest hatte sie vier glückliche Jahre in einem liebevollen, fürsorglichen Heim. Ihr Tod ist tragisch, ganz furchtbar, und ich kann dir nicht mehr bieten als eine Schulter zum Ausweinen.«

Er hörte geduldig zu, während sie all ihre Trauer um Molly, um Sam, um das Baby, das sie verloren hatte, und die Tatsache, dass sie offenbar keine mehr bekommen würde, herausschluchzte. »Es ist, als wäre ich verhext«, sagte sie. »Was habe ich denn Schlimmes getan, um das alles zu verdienen?«

Jack hatte keine Antwort darauf, aber er blieb den ganzen Abend bei ihr und hielt sie im Arm, ließ sie ihren Kummer loswerden. Als es dunkler wurde, wurden Tausende von Feuerwerkskörpern abgefeuert, und sie standen vor dem Zelt und sahen zu. Aber der furchtbare Krach des Feuerwerks reichte den Feiernden in der Stadt noch nicht; sie feuerten auch Gewehre ab und zündeten große Ladungen Dynamit. Die Hunde in der Stadt hatten solche Angst, dass sie in einer langen Fluchtreihe über den Yukon nach Louse Town schwammen.

Beth hasste alle dafür, dass sie feierten, während sie so furchtbar traurig war, und nicht einmal Jack konnte sie dazu überreden, ein hübsches Kleid anzuziehen und im Monte Carlo zu spielen. »Ich werde nie wieder spielen«, schwor sie.

Seit dem Unabhängigkeitstag hatte Beth kaum einen Fuß vor das Zelt gesetzt, war lieber verbittert und verletzt liegen geblieben. Jack und Theo arbeiteten lange und hart am Bau des Saloons, und obwohl Jack oft versuchte, sie dazu zu überreden, mitzukommen und sich anzusehen, wie sie vorankamen, oder wieder im Monte Carlo zu spielen, hatte Theo bis heute wenig zu dem Thema gesagt.

»Du hast noch jemanden, du hast Jack und mich«, sagte er müde. »Der Saloon ist fertig, also können wir morgen einziehen. Aber du hast ihn noch nicht mal gesehen.«

»Es ist mir egal. Mir ist alles egal«, schluchzte Beth. »Ich habe Molly bei den Langworthys gelassen, weil ich dachte, dass sie bei ihnen ein gutes Leben haben würde, aber sie ist trotzdem krank geworden und gestorben. Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich bei ihr geblieben wäre.«

»Es ist dumm, so etwas zu sagen«, erwiderte Theo, und seine Stimme wurde weicher. Er setzte sich neben sie auf den Boden des Zelts und wischte ihr mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. »Es war Schicksal, genauso wie Sams Tod Schicksal war. Ich glaube nicht, dass wir unser Schicksal ändern können, egal, was wir tun. Aber du kannst nicht ewig hier sitzen und trauern, das macht es nicht besser. Wenn du deine Energien in die Verschönerung unserer Wohnung stecken würdest, dann würde dich das von Molly ablenken. Und jetzt komm mit, und sieh dir alles an. Jack will heute das Schild anbringen. Wir haben beschlossen, es ›Golden Nugget‹ zu nennen.«

Beth wollte zuerst ablehnen, aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er recht hatte und es nichts änderte, wenn sie im Zelt blieb und trauerte. Also stand sie zögernd auf, holte einen Kamm und kämmte sich die Haare.

Theo klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. »Du kannst heute Abend baden, wenn du möchtest. Jack hat es geschafft, den Boiler anzuschließen. Stell dir das vor, Schatz, ein richtiges Bad, wir werden von allen in der Stadt beneidet werden. Natürlich nur, wenn du uns nicht verlässt und Ende August den Dampfer zurück nach Vancouver nimmst.«

»Warum sollte ich das tun?«, fragte sie. »Da wartet doch nichts auf mich.«

Als ihr klar wurde, dass das nach Selbstmitleid klang, wurde sie rot. »Wir haben den Spielsalon, den wir wollten, und ich bin froh darüber«, fuhr sie fort. »Habt einfach noch ein bisschen Geduld mit mir. Zwei Todesfälle in so kurzer Zeit sind einfach sehr schwer zu ertragen.«

»Ich weiß, Schatz«, sagte er und nahm sie in die Arme. »Aber du musst am Eröffnungsabend spielen. Das erwarten die Leute.«

Beth wusch sich das Gesicht und ging mit Theo zu ihrem neuen Spielsalon. Offenbar hatten viele Leute von ihrem Verlust gehört, denn sie blieben stehen und sprachen ihr ihr Beileid aus. Beth hatte das nicht erwartet, und es half ihr zu wissen, dass die Leute mit ihr mitfühlten.

Jack hatte gerade das Schild angebracht, als sie sich dem neuen Saloon näherten. Er kletterte die Leiter herunter und umarmte sie.

»Wie findest du es?«, fragte er.

Beth trat zurück auf die Straße, um es sich genauer anzusehen. Als sie die Fassade zuletzt gesehen hatte, war sie erst halb fertig gewesen und hatte nur aus grob zusammengezimmerten Brettern bestanden. Das Holz war jetzt rot gestrichen und glänzte, und auf einem schwarzen Schild stand in goldenen Buchstaben »The Golden Nugget«.

»Es ist großartig«, sagte sie und lächelte zum ersten Mal, seit sie die Nachricht von Mollys Tod erhalten hatte. »Du bist ein Zauberer, Jack.«

Er strahlte über ihr Lob. »Ich hatte viel Hilfe«, erwiderte er schnell. »Und jetzt sieh es dir von innen an.«

Beth hatte sich schon in Skagway an die Tricks gewöhnt, mit denen in Saloons ein Gefühl von Beständigkeit und Luxus vorgetäuscht wurde. Hübsch gestaltete Fassaden führten in wahre Bruchbuden, oft nur Zelte, und selbst bei den Saloons aus Holz bestanden die Wände nur aus an die Holzpfähle genagelten Stoffbahnen.

Jack jedoch hatte die Holzwände extra noch einmal mit Brettern überzogen, sodass die Räume warm und winddicht waren, und er hatte sie genauso rot gestrichen wie die Fassade.

Aber noch erstaunlicher war das Bild an der Wand neben der Bar. Es zeigte die endlose Schlange von Kletterern, die sich im Schnee den Chilkoot Pass hinaufwand.

»Wer hat das gemalt?«, fragte sie.

»Enrico, der kleine Mann aus San Francisco, dem ich am Lake Bennett mit seinem Boot geholfen habe.«

Beth nickte. Sie erinnerte sich an den kleinen, dunkelhaarigen Mann, den sie für einen Mexikaner gehalten hatte. »Es ist fantastisch«, sagte sie. »Es macht diesen Saloon wirklich zu etwas Besonderem. Aber die Theke ist auch großartig, Jack, du bist so geschickt.«

Es war erstklassiges Holz, glatt geschliffen und glänzend lackiert. Sie fuhr mit dem Finger bewundernd darüber.

»Ich muss den Boden heute Abend noch mal versiegeln, dann können wir morgen früh die Möbel reinstellen«, sagte Jack. »Sie sind hinterm Haus aufgestapelt.«

Beth sah auf den großen Spiegel hinter der Bar, und ihr fiel auf, dass er ganz verschmiert war. »Den putze ich besser mal«, erklärte sie.

Jack und Theo grinsten sich an. »Was ist so lustig?«, wollte sie wissen.

»Wir haben den absichtlich so gelassen. Wir dachten, dass er dich vielleicht dazu bringt, aktiv zu werden«, erwiderte Jack.

Beth lächelte. »Du zeigst mir jetzt besser den ersten Stock, denn ich denke, da werde ich auch noch aktiv werden müssen.«

Jack hatte für das obere Stockwerk nicht viel Zeit gehabt. Es waren drei leere Zimmer mit groben Holzwänden und Holzböden, aber nachdem sie so lange in einem Zelt gelebt hatten, würde es für sie alle ein großer Luxus sein. Und was das Badezimmer anging, konnte sie kaum glauben, dass es Jack tatsächlich gelungen war, Rohre vom Boiler im Erdgeschoss bis nach oben zu verlegen, sodass man die Wanne mit heißem Wasser füllen konnte.

»Ein Ingenieur hat mir viel dabei geholfen«, erklärte er bescheiden. »Aber eine Toilette konnten wir nicht einbauen, denn es gibt noch keine Kanalisation in der Stadt. Deshalb müssen wir uns mit einem Plumpsklo draußen begnügen, bis es so weit ist.«

Die Front Street war die Hauptschlagader von Dawson City, die Tag und Nacht pulsierte. Am Tage war sie ein gigantischer Markt, wo man alles von Medizin über Pferde oder Hunde bis hin zu jeder Art von Lebensmitteln und Luxusartikeln kaufen konnte. Nachts war sie ein lautes, hedonistisches Paradies, wo man trinken, spielen, sich eine Show ansehen oder einfach nur vorbeigehen und Leute beobachten konnte, wenn man pleite war.

Selbst an Sonntagen, an denen laut Gesetz eigentlich alle Läden geschlossen sein mussten – was von der North-West Mounted Police rigoros durchgesetzt wurde –, strömten die Menschen durch die Straße. Die beliebtesten Saloons, Tanzlokale und Theater lagen an der Front Street und konkurrierten miteinander darum, der beste Laden zu sein. Sie wollten die hübschesten Tänzerinnen, die höchsten Einsätze beim Poker oder die besten Sänger und Entertainer.

Obwohl Beth, Theo und Jack noch nicht lange in Dawson waren, hatten sie gegenüber anderen Neuankömmlingen, die einen Laden eröffneten, den Vorteil, dass sie bereits genug Aufsehen in der Stadt erregt hatten, um einen Spitznamen zu erhalten. Die Leute mochten hier Spitznamen: Lime-juice Lil, Two-step Louis, Billy the Horse und Deep-hole Johnson waren nur einige, die sie gehört hatten. Theos Auftreten als englischer Gentleman und sein Ruf als guter Pokerspieler hatten ihm den Namen »The Gent« eingetragen. Jack wurde liebevoll »Cockney Jack« genannt und war der Mann, an den sich alle wandten, wenn sie etwas bauen wollten. Beth hieß immer noch »Gypsy«, so wie schon auf der Reise hierher, und im Monte Carlo wurde sie als die »Klondike Gypsy Queen« angekündigt.

Doch als sie um sechs Uhr abends den Saloon zum ersten Mal öffneten, waren sie trotzdem nervös. Die meisten anderen Lokale an der Front Street wurden von Eldorado-Königen betrieben, Männern mit Claims, die ihnen ein Vermögen eingebracht hatten und die es sich leisten konnten, ihre Läden mit Kronleuchtern, Samtteppichen, fünfköpfigen Bands und einem ganzen Haufen Mädchen auszustatten, um Leute anzulocken, bei denen das Geld locker saß. Aber Theos Geld war aufgebraucht, und er stand mit einigen Tausend Dollar für Getränke, Holz, Tische und Stühle in der Kreide.

Er hatte draußen ein Schild aufgestellt, auf dem alle Drinks zum halben Preis angeboten wurden, und sie hofften, dass das zusammen mit Beths Spiel die Leute anziehen würde. Theo trug einen weißen Anzug, den er als Begleichung für Spielschulden am Lake Bennett akzeptiert hatte. Mit Rüschenhemd, Fliege und glänzendem Öl in seinem schwarzen Haar sah er aus wie ein erfolgreicher Saloonbesitzer. Jack trug eine rote Weste, eine rot-weiß getupfte Fliege und einen Strohhut.

Beth hatte sich das neue pinkfarbene Kleid angezogen, das eigentlich für den Unabhängigkeitstag gedacht gewesen war. Sie hatte abgenommen, weil sie kaum etwas gegessen hatte, seit die Nachricht über Molly gekommen war, und sie sah so blass aus, dass sie sogar Rouge auf die Wangen aufgetragen hatte.

Sie fing an, einen Jig zu spielen, als sechs Männer an die Bar traten.

Sie hatten Will und Herbert eingestellt, zwei Männer aus Portland, die sie vom Lake Bennett kannten. Die beiden wollten unbedingt genug Geld zusammenbekommen, um mit dem nächsten Schiff nach Hause zu fahren, und Theo hatte ihnen versprochen, wenn sie zwei Wochen für ihn arbeiteten, würde er ihnen die Fahrscheine kaufen und jedem noch fünfzig Dollar geben.

Bei Beths dritter Nummer waren bereits ziemlich viele Leute hereingekommen, und plötzlich war sie überglücklich, weil sie die Leute hereinzog, um Geld in ihrem Saloon auszugeben. Sie hoffte, dass Sam jetzt auf sie heruntersah und sich freute, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.

Im Laufe des Abends kamen immer mehr Gäste, bis es so eng war wie in einer Sardinenbüchse. Theo veranstaltete ein Faro-Spiel, das in Dawson besonders beliebt war, weil die Spieler eine faire Chance hatten zu gewinnen.

Er hatte den Faro-Tisch von einem Dampfschiffkapitän gekauft, der knapp bei Kasse war. Jede Karte vom Ass bis zum König war darauf abgebildet, und die Spieler legten ihre Chips auf die Karte, auf die sie setzen wollten. Der Geber hob die obersten beiden Karten vom Stapel ab; wenn die erste davon diejenige war, auf die gesetzt wurde, dann verlor der Spieler, aber wenn sie als Zweites kam, gewann er. Wenn seine Karte nicht dabei war, setzte er erneut.

An der Wand hinter Theo war ein Regal angebracht, auf dem die Beutel der Spieler lagen. Auf einem Zettel war genau aufgelistet, wie viele Chips der Beutelbesitzer gekauft hatte. Am Ende des Spiels wurden die Chips gegen die Summe auf der Liste aufgerechnet, und der Beutelinhalt des Spielers wuchs oder wurde kleiner, je nachdem, ob er gewann oder verlor.

Gold, als Staub oder Nuggets, war die Hauptwährung in Dawson, und alle Läden, Saloons oder anderen Geschäfte besaßen Waagen, um es auszuwiegen. Als Beth, Jack und Theo in Dawson angekommen waren, hatte es sie erstaunt, wie lässig die Männer mit ihren Beuteln umgingen, in denen teilweise Gold im Wert von Hunderten von Dollar aufbewahrt wurde, aber inzwischen waren sie daran gewöhnt.

Während Theo am Faro-Tisch saß, begrüßte Jack die Gäste und behielt die Bar und Will und Herbert im Auge. Später übernahm Jack beim Faro, damit Theo ein Pokerspiel eröffnen konnte, und zwischen ihren Auftritten mit der Geige überwachte Beth alles.

Es wurde bald klar, dass sie noch mehr Personal brauchen würden, genauso wie mehr Getränke und andere Entertainer, um den Abend über die Bühne zu bringen. Aber in jener ersten Nacht behalfen sie sich, und es klappte irgendwie. Der Whiskey ging ihnen um vier Uhr morgens aus, aber die meisten Gäste blieben und tranken das, was es noch gab. Auf Theos Gesicht lag ein breites Lächeln, weil Sam Bonnifield, bekannt als »Silent Sam«, der Besitzer des Bank Saloon and Gambling House an der Ecke Front Street und King Street, für eine Partie Faro hereingekommen war. Er hatte seinen Spitznamen bekommen, weil er niemals ein Wort sagte oder lächelte, wenn er spielte. An diesem Abend war ihm das Glück nicht hold gewesen, und seine Schulden beliefen sich inzwischen auf fünfhundert Dollar, aber er spielte weiter.

Um sechs Uhr morgens schloss Theo schließlich die Tür. Er war zu müde, um zu zählen, was sie an diesem Abend eingenommen hatten, aber er nahm an, dass es an die fünfzehntausend Dollar sein mussten. Genug, um die Schulden zu bezahlen und neue Getränke sowie Möbel für die Zimmer oben zu besorgen.

»Ich werde dir heute ein großes Messingbett mit einer Federmatratze kaufen«, sagte er und umarmte Beth. »Ich verspreche dir, dass du nie wieder auf dem Boden schlafen musst.«

Das Golden Nugget gehörte bald zu den beliebtesten Spielsalons in Dawson. Theo benutzte seinen Charme, um vier Mädchen dazu zu überreden, für sie zu arbeiten. Er zahlte ihnen eine kleine Provision für jedes Glas Champagner, das sie Männer überreden konnten, ihnen zu spendieren. Es war kein richtiger Champagner, aber es wussten ohnehin nur wenige Leute in Dawson, wie der echte schmeckte. Die Mädchen brachten Farbe in den Saloon, denn sie flirteten mit den Männern, und wenn sie ihre Körper später an den Höchstbietenden verkauften, dann störte das niemanden.

Paradise Alley, die hinter der Front Street lag, war der Ort, an dem die echten Huren ihre Geschäfte abwickelten, in einer Reihe von Zelten, die Cribs genannt wurden und wo der Name der jeweiligen Frau am Eingang stand. Es waren fast nur unattraktive, derbe Frauen, denn die schwierige Reise hierher über die Berge war nichts für zierliche Damen. Sie bedienten rund fünfzig Männer am Tag, und ihre Zuhälter behielten fast ihre gesamten Einnahmen. Für Beth führten sie das schlimmste Leben, das sie sich vorstellen konnte.

Aber den Frauen in Dawson ging es generell nicht gut. Sie backten Brot, wuschen Wäsche und kochten in Restaurants, und obwohl einige davon sehr gut leben konnten, mussten sie unglaublich hart arbeiten und hatten oft Männer, die das Geld so schnell ausgaben, wie sie es verdienten. Die, die mit Goldgräbern verheiratet waren, verbrachten ihre Tage damit, an abgelegenen Flussläufen nach Gold zu schürfen, und lebten unter furchtbaren Bedingungen ohne Kontakt zu anderen Frauen.

Nur einem geringen Prozentsatz der Frauen ging es wirklich gut, und das waren die Schauspielerinnen, Sängerinnen und Tänzerinnen. Die meisten Tänzerinnen nahmen sehr viel mehr von den Männern, als sie gaben. Für einen Dollar durften die Männer sie weniger als eine Minute im Arm halten, bevor sie zu ihrem nächsten Partner weitergingen. Eine Frau besaß einen Gürtel, der mit siebzehn Zwanzig-Dollar-Goldstücken besetzt war, ein Geschenk von einem Goldgräber. Fast keine dieser Frauen machte ein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie dazu da waren, die Männer um ihre Beutel zu erleichtern.

Beth arbeitete zu hart und zu lange, als dass sie das Leben hätte genießen können, aber das machte ihr nichts aus, denn dadurch musste sie nicht so oft an Sam und Molly denken. Wie versprochen hatte Theo Möbel für die Räume im ersten Stock gekauft, inklusive des angekündigten Messingbetts, und auch Teppiche. Im Saloon ging es jeden Abend lustig zu, und zu sehen, wie das Ganze ein großer Erfolg wurde, bereitete ihr große Freude.

Wenn sie etwas traurig machte, dann erinnerte sie sich daran, dass sie ihren Traum lebte. Es war nicht schwer, in Dawson glücklich zu sein; die Leute waren warmherzig und freundlich, und es verging kein Tag, ohne dass jemand etwas Ungeheuerliches tat, das sie alle zum Lachen brachte. Sie war vielleicht ein bisschen enttäuscht darüber, dass Theo und sie so wenig Zeit miteinander verbringen konnten, aber als der August kam und das kalte Wetter und die dunklen Tage bevorstanden, fuhren viele Leute mit den Schiffen weg, und sie wusste, dass sie demnächst wieder viel Zeit füreinander haben würden.

Sie wusste auch, dass sie sich einen Platz in den Geschichten erobert hatte, die man sich in Dawson erzählte. Es gab viele Geigenspieler in der Stadt, aber keiner war so gut wie sie, und es waren alles Männer. Außerdem hielt man sie für die hübscheste Frau in Dawson, etwas, auf das Theo und Jack sehr stolz waren.

Die Leute in Dawson mochten Geschichten, und die vielen, die sich um die Eldorado-Könige, um die Vermögen, die sie an den Spieltischen gewonnen und verloren hatten, und auch um nicht ganz so wichtige Leute rankten, hätten ganze Bücher füllen können. Es überraschte Beth kein bisschen, als sie feststellte, dass die Leute sich auch Geschichten über sie, Theo und Jack erzählten. Eines Abends hörte sie, wie ein Mann im Saloon einem anderen erzählte, dass Theo sie auf seinen Schultern über den Chilkoot Pass getragen hatte. Dann beschrieb er seinem Gegenüber, wie Sam im Miles Canyon gestorben war, als hätte er dabeigestanden, als es passierte.

Doch was die Leute am meisten faszinierte, schien ihr Verhältnis zu Theo und Jack zu sein, denn es hatte sich herumgesprochen, dass sie nicht mit Theo verheiratet war.

Sie war sich bewusst, dass viele der Tänzerinnen Theo schöne Augen machten. Sie konnte es ihnen nicht verübeln – er war attraktiv, charismatisch und jetzt auch noch reich, denn sie machten jede Menge Geld. Beth musste lächeln, wenn sie in ihren besten Kleidern ins Golden Nugget kamen, um zu versuchen, ihn in die Tanzlokale zu locken, in denen sie arbeiteten. Sie kannte Theo gut genug, um ziemlich sicher zu sein, dass er keine bloße Tänzerin erwählen würde, wenn er mit einer anderen Frau durchbrennen wollte.

An einem regnerischen Abend Anfang August kam ein Mann ins Golden Nugget, der nicht nur eine Geschichte zu erzählen hatte, sondern der eine Kette von Ereignissen auslöste, die für Beth alles veränderte.

Sie spielte Geige, als er hereinkam, ein großer Mann in einem schweren Mantel und mit einem breitkrempigen Hut, der ihr irgendwie bekannt vorkam, aber im Saloon war es zu dunkel und verraucht, um ihn richtig zu sehen.

Wie immer spielte sie für eine halbe Stunde und machte danach eine kurze Pause, und als sie an die Bar ging, um etwas zu trinken, hielt der Mann sie am Arm fest.

»Wie geht’s denn so, Miss Gypsy?«, fragte er. »Ich hatte gehofft, dass ich Sie hier treffe.«

Als sie in sein Gesicht sah, erkannte sie ihn als Moss Atkins, einen von Soapys Gefolgsleuten aus Skagway. Er war oft ins Clancy’s gekommen, wenn sie dort war, und obwohl sie noch nie mit ihm gesprochen hatte, kannte sie seinen Ruf, besonders grausam zu sein. Er hatte auch ein Gesicht, das man nicht übersehen konnte, denn seine Augen waren leuchtend blau und seine Wangen pockennarbig.

»Hallo Moss«, sagte sie. »Schön, Sie zu sehen. Sind Sie gerade erst angekommen?«

»Schon vor ein paar Tagen. Frage mich gerade, ob es schlauer wäre, wieder zu fahren, bevor der Fluss zufriert, oder ob ich den Winter bleiben und ein paar Geschäfte machen soll.«

»Ich glaube, in Skagway wären Sie erfolgreicher«, erwiderte sie lächelnd. »Die Mounties passen hier sehr gut auf. Keine Waffen, keine Betrügereien. Wenn die Sie bei irgendeiner krummen Sache erwischen, dann müssen Sie bis zu neunzig Tage Holz hacken.«

Es hieß, dass den meisten Leuten, die bei einem Verbrechen erwischt wurden, die Strafen egal waren, die man gegen sie verhängte – normalerweise konnten sie sich diese leisten. Aber die Strafe, Holz für die Gemeinde zu hacken, wirkte abschreckend. Es war langweilige, harte Arbeit, und die meisten flohen lieber aus der Stadt, als sie zu verrichten.

»Na, dann sollte ich vielleicht lieber wieder abhauen.« Er lachte freudlos. »Aber wohin, weiß ich nicht. In Skagway weht jetzt ein anderer Wind, seit Soapy erschossen wurde.«

»Soapy ist tot?«, rief Beth.

Wenn sie nicht so überrascht gewesen wäre, hätte sie vielleicht gemerkt, dass die Leute ihrem Gespräch lauschten. Aber sie war so begierig darauf zu erfahren, wie das alles passiert war, dass sie keinen Gedanken daran verschwendete, dass es weiser gewesen wäre, diskreter zu sein.

»Sie haben’s noch nicht gehört? Schon am 8. Juli. Von Frank Reid an den Docks erschossen.«

»Aber warum?«, fragte sie, als ihr wieder einfiel, dass Frank Reid ein eher harmloser Mann gewesen war, der mehr Interesse am Aufbau der Stadt als an Kämpfen gehabt hatte.

Moss erzählte dann sehr ausführlich, wie ein Goldgräber namens J. D. Steward mit Goldstaub im Wert von 2800 Dollar vom Yukon nach Skagway gekommen war. Es wurde gestohlen, und die Leute nahmen an, dass einer von Soapys Männern dahintersteckte. Die Händler in Skagway fürchteten, dass Goldgräber den Seeweg nehmen und die Stadt meiden könnten, wenn sich erst herumsprach, dass sie dort nicht mehr sicher waren, und dass ihnen dann lukrative Geschäfte entgehen würden. Man verlangte von Soapy, dass er Steward sein Gold sofort zurückgeben sollte, und die Leute in der Stadt begehrten gegen ihn auf.

»Das Ende vom Lied war, dass Soapy sich betrank, wütend wurde und mit einer Derringer im Ärmel, einem 45er Colt in der Tasche und einem Winchester-Gewehr über der Schulter runter zu den Docks ging«, erzählte ihr Moss. »Frank Reid war dort und sagte zu Soapy, er solle keinen Schritt weitergehen. Soapy hielt sein Gewehr an Reids Kopf. Reid schlug den Lauf mit der Hand weg und zog seinen eigenen Revolver aus dem Gürtel. Er feuerte, aber die Patrone war fehlerhaft, und Soapy drückte ebenfalls ab und traf Reid in den Bauch. Aber Reid schoss noch einmal, und dieses Mal traf er Soapy direkt ins Herz. Er war sofort tot.«

Beth keuchte, genauso wie die anderen, die in Hörweite standen, denn jeder in Dawson hatte von »Soapy« Jefferson Smith gehört, selbst wenn er auf dem Weg hierher gar nicht durch Skagway gekommen war.

Die Leute um sie herum fingen an, Moss Fragen zu stellen, und er freute sich sichtlich, derjenige zu sein, der die Nachricht nach Dawson brachte, und im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. »Ja, Reid starb auch, aber ganz langsam und qualvoll. Zumindest war es bei Soapy kurz und schmerzlos.«

Theo und Jack kamen beide näher, genauso interessiert an so einer wichtigen Geschichte wie alle anderen. Moss hielt weiter Hof und berichtete, dass viele von Soapys Männern in die Berge geflohen seien, um nicht von der Bürgerwehr gefasst zu werden, die sie alle lynchen wollte.

»Vielleicht ist es ganz gut, dass Sie Soapy rechtzeitig verlassen haben«, sagte er plötzlich zu Beth. »Er hat mir erzählt, Sie wären sein Mädchen, aber ich schätze, Sie hatten die Nase voll von ihm. Vor allem, nachdem er angeordnet hatte, Ihren anderen Kerl zu erschießen.«

Beths Magen zog sich zusammen, und sie sah, wie Theos Gesicht sich anspannte. »Zwischen mir und Soapy war nichts«, sagte sie. »Und ich bin sicher, dass er nicht angeordnet hat, Theo zu erschießen. Das müssen Sie falsch verstanden haben.«

Moss lachte verächtlich. »Ich hab’ das nicht falsch verstanden, Baby. Ich war da, als Soapy die Erschießung befohlen hat. ›Knallt den englischen Typen ab‹, hat er gesagt. ›Ich habe ein Auge auf seine Freundin geworfen.‹ Ich hab’ Sie auch Dutzende Male mit ihm gesehen, und wenn das nicht bedeutet, dass da was zwischen Ihnen war, dann bin ich ein Holländer.«

An diesem Punkt mischte sich Jack ein und sagte, dass Beth weiterspielen solle. Kurz darauf verließ Moss den Saloon.

Der folgende Tag war ein Samstag, und da sie lange schliefen, mussten sie sich beeilen, um den Saloon am Mittag öffnen zu können. Beth merkte, dass Theo sich ihr gegenüber ein bisschen kühl verhielt, aber sie hatten so viel zu tun, dass sie keine Gelegenheit fand, das anzusprechen.

Am Sonntag wachten sie erst gegen Mittag auf, aber als Beth sich an Theo schmiegte und davon ausging, dass er wie sonst mit ihr schlafen würde, stand er auf und zog sich an.

»Wo gehst du hin?«, fragte sie.

»Ich muss noch was erledigen«, erwiderte er knapp.

Nachdem er gegangen war, stand Beth am Fenster und blickte über die Front Street zum Fluss hinunter. Sie konnte spüren, dass der Winter nah war. Die Bäume auf den Bergen waren alle immergrün, also gab es keine Herbstfarben wie in England, Amerika und Montreal. Man hatte ihr erzählt, dass die Temperatur hier in den Wintermonaten auf fünfzig Grad unter den Gefrierpunkt fallen konnte, und bei dem Gedanken daran zitterte sie.

Vier Stunden später war Theo noch nicht zurück. Beth hatte die Zeit damit verbracht, einige kleinere Dinge zu erledigen, den Saum ihres Kleides zu nähen, etwas Wäsche zu waschen und einen Brief an die Langworthys zu schreiben. Draußen regnete es noch immer heftig, und sie konnte sich nicht vorstellen, wo Theo hingegangen sein konnte, denn die Läden hatten alle geschlossen.

Jack und sie kochten sich später etwas in der Küche und blieben danach unten, weil es am Herd warm war.

»Er ist wütend über das, was Moss gesagt hat«, platzte Beth später heraus. »Aber ich verstehe nicht, warum er mir das ankreidet. Schließlich war er derjenige, der etwas mit dieser Hure aus dem Red Onion angefangen hat, und ich habe mich um ihn gekümmert, als er angeschossen wurde.«

»Ich würde niemandem glauben, der für Soapy Smith gearbeitet hat«, entgegnete Jack. »Und ich wäre überrascht, wenn Theo es täte. Aber gestern Abend haben alle in der Stadt darüber gesprochen, und mehrere Leute haben sich über ihn lustig gemacht. Ich schätze, dass er deswegen ein bisschen sauer ist.«

Theo kam an diesem Abend nicht nach Hause. Am Montag erschien er am Mittag, um den Saloon zu öffnen, erklärte jedoch nicht, wo er gewesen war. Da er nicht mehr wütend zu sein schien und nur ein bisschen still war, ließ Beth ihn in Ruhe und ging einkaufen.

Sie war zwei Stunden weg, und als sie zum Golden Nugget zurückging, hörte sie das jetzt schon vertraute Geräusch des Dampfhorns des abfahrenden Schiffs. Als sie in die Front Street einbog, waren dort viele Menschen versammelt, die zum Abschied winkten, und sie winkte ebenfalls, so wie es die Leute machten, wenn sie in der Nähe waren.

Als Beth zurückkam, sagte Jack, dass Theo mit den Einnahmen zur Bank gegangen sei. Eine Stunde verging, dann noch eine, und er war noch immer nicht zurück.

»Er wird irgendwo bei einem Pokerspiel sein. Lass uns nur hoffen, dass er die Einnahmen zuerst zur Bank gebracht hat«, sagte Jack lachend.

Es war kurz nach sieben, als Wilf Donahue, besser bekannt als »One Eye« – er hatte ein Glasauge –, in den Saloon kam. Er war Stammgast im Golden Nugget, obwohl ihm ein ähnlicher Laden an der King Street gehörte. Beth fand den rundlichen, rotgesichtigen Mann aus Kansas grobschlächtig und plump vertraulich, aber Jack und Theo fanden ihn amüsant und behaupteten, er sei eben ein Mann.

»Ich will, dass du da raufgehst und spielst, mein Mädchen«, sagte Wilf zu Beth und deutete auf das kleine Podest, auf dem sie bei ihren Auftritten normalerweise stand. »Ohne Musik kommen keine Gäste rein.«

»Seit wann bestimmen Sie denn, was hier passiert?«, fragte sie leichthin, weil sie annahm, dass das ein Scherz sein sollte.

»Seit ich diesen Laden um zwei Uhr heute Nachmittag gekauft habe«, erwiderte er.