28
»Gott helfe uns!«, rief Beth, als sie müde das Sheep Camp erreichten, den letzten Ort, wo sie Feuerholz und Proviant bekommen konnten, bevor es in die Berge ging.
Sie waren seit drei Tagen unterwegs und nur schrecklich langsam vorangekommen, während sie und Tausende andere Goldsucher ihre Wagen und Schlitten den von Schlaglöchern überzogenen Weg von Dyea in die Berge hinaufgezogen hatten. Mehrmals hatten sie dabei den Fluss überqueren müssen. Graupel, Schneewehen und die unglaubliche Menge von Leuten, Wagen, Hunden und Packtieren zerfurchten den Weg und machten ihn schwer begehbar. Die hastig improvisierten Brücken waren so baufällig, dass sie einmal alle bis zu den Knien im eiskalten Wasser standen und mit nassen Stiefeln und Sachen weiterlaufen mussten.
Aber der Anblick der unzähligen Menschen und Tiere, die sich in diesem letzten richtigen Camp vor dem Aufstieg zum Gipfel versammelt hatten, war nicht für Beths erschrockenen Ausruf verantwortlich. Sie war nicht einmal schockiert über das Durcheinander aus primitiven Hütten, die vielen schweren Gegenstände wie Herde, Stühle oder Truhen, die zurückgelassen worden waren, oder die zerrissenen Zelte und Berge von Gepäck, die darauf warteten, weitertransportiert zu werden.
Sie war schockiert über das, was hinter all dem lag.
Der Chilkoot Pass. Und, noch wichtiger, über das, was es bedeutete, ihn zu überqueren.
Alle zukünftigen Goldgräber wussten, dass die Überquerung des Passes hart war. In den Saloons in Skagway hatte jeder ein Dutzend verschiedene Horrorgeschichten von Leuten gehört, die entweder umgekehrt oder weggelaufen waren, als sie ihn sahen, oder die von schlechtem Wetter zur Rückkehr gezwungen worden waren. Aber davon zu hören und es zu sehen waren zwei völlig verschiedene Dinge.
Das Sheep Camp lag in einer Senke am Ende der Baumgrenze, umgeben von Bergen. Beth wusste, dass der Gipfel, den sie erreichen mussten, gut tausend Meter über Dyea und nur ungefähr sechs Kilometer von ihr entfernt lag, wenn sie direkt hätte hinfliegen können wie ein Adler. Aber sie war kein Vogel, und die Route, die sie nehmen würden, jagte ihr vor Angst und Ehrfurcht einen Schauer über den Rücken.
Der Berg schien mit einem endlosen schwarzen Band geschmückt, das sich scharf vom Schnee abhob. Es bestand aus Kletterern, die unter der schweren Last ihrer Rucksäcke vorgebeugt gingen wie die Affen und sich nicht zu bewegen schienen. Aber Beth wusste, dass sie sich bewegten, denn sie konnten nicht stehen bleiben; selbst eine kurze Pause hätte die Schlange hinter ihnen aufgestaut. Wenn jemand aus der Reihe trat, um sich auszuruhen, würde er niemals wieder hineinkommen.
Theo war blass geworden, und Sam rieb sich die Augen, als könnte er nicht glauben, was er sah. Nur Jack wirkte ruhig und schien entschlossen, sich am Morgen dieser fürchterlichen Schlange anzuschließen.
»Es gibt zwei Rastplätze«, erklärte er. Er deutete auf einen riesigen Felsbrocken und sagte, man habe ihm erzählt, dass die Leute sich an seinem Fuß ein wenig ausruhen könnten. Dann zeigte er auf einen flachen Felsvorsprung weiter oben und erklärte, dass dort die Scales lägen. »Dort wiegen die Träger unser Gepäck noch einmal und berechnen uns vielleicht noch mehr dafür.«
Jack erklärte ihnen nicht noch einmal, dass der Teil des Passes, der am schwierigsten und gefährlichsten war, noch hinter den Scales lag und vom Sheep Camp aus nicht zu sehen war. Kein Packtier konnte das erklimmen, was die Golden Stairs, die Goldene Treppe, genannt wurde, 1500 Stufen, von Geschäftsleuten ins Eis gehauen, die nun Zoll von jedem verlangten, der sie benutzen wollte. Wenn man erst einmal darauf war, gab es keine Rast mehr, bis man den Gipfel erreichte.
Sam, Theo und Beth sahen sich entsetzt an. Wenn Jack nicht so entschlossen gewesen wäre, dann hätten sie ihre Angst vor dem Aufstieg vielleicht laut ausgesprochen. Aber Jack hatte seit Dyea das Sagen; er allein behielt die Nerven, wenn der Wagen fast von einer Brücke fiel oder im Schlamm stecken blieb; seine Stärke, Entschlossenheit und Ruhe hatten sie bis hierher gebracht, und sie glaubten, dass er sie unversehrt bis nach Dawson City bringen würde.
»Wenn wir heute Abend hier unser Zelt aufstellen, dann wird es die Hölle werden, morgen früh alles wieder zusammenzupacken«, fuhr Jack fort, dem nicht aufzufallen schien, dass die anderen seine Vorfreude nicht teilten. »Also denke ich, dass Theo und Beth uns einen Platz in einem der Hotels besorgen sollten. Sam und ich suchen unsere Träger und fragen sie, wo wir unsere Sachen hinstellen sollen.«
Beth blickte auf den Wagen mit den Bergen von Ausrüstungsgegenständen und dem notwendigen Proviant. Schon in Skagway hatte es wie ein beeindruckender Haufen gewirkt, und sie waren wütend über den Preis gewesen, den die indianischen Träger für jeden Sack verlangten. Jetzt jedoch, nachdem sie den Berg gesehen hatte, über den das alles geschleppt werden musste, wurde ihr ganz übel bei dem Gedanken, was es bedeuten würde, es selbst zu tragen. Sie schickte im Stillen ein Dankgebet zum Himmel, dass es ihnen gelungen war, das Geld für die Träger zusammenzubekommen. Sie war nicht sicher, ob sie in der Lage sein würde, auch nur einen Sack auf dem Rücken bis zum Gipfel zu tragen, ganz zu schweigen davon, es immer und immer zu wiederholen.
Die sogenannten Hotels ähnelten keinem der Hotels, die Beth jemals gesehen hatte, doch sie entdeckte bald, dass eine Übernachtung das Gleiche kostete wie in New York. Es waren einfache Hütten ohne Betten, in denen man nur einen Platz auf dem Fußboden bekam, mit Dutzenden von anderen um einen herum. Wenn man sich ein Essen kaufte, dann kostete es den Verdienst von zwei Tagen.
Sie stellte fest, dass man im Sheep Camp alles bekam, vorausgesetzt, man hatte genug Geld. Whiskey, dunkle Brillen gegen die Schneeblindheit, Schlitten, Pelzmützen, selbst Süßigkeiten. Es gab sogar Huren, die für fünf Dollar dafür sorgten, dass ein Mann seine letzte halbwegs komfortable Nacht genießen konnte, bevor er zum Gipfel aufbrach.
Trotz ihrer Erschöpfung nach der anstrengenden Wanderung des Tages musste Beth über diese Huren lächeln, denn es waren die hässlichsten, schmutzigsten Frauen, die sie seit der Hemdenfabrik in Montreal gesehen hatte. Einige trugen zerrissene Satinkleider, eine Decke, die sie sich wie einen Umhang um die Schultern gelegt hatten, schwere Männerstiefel an den Füßen und die Haare in Rattenschwänzen. Doch es gab viele, die ihre Dienste in Anspruch nahmen.
Wenn man einmal im »Hotel« war, von allen Seiten umgeben von anderen Menschen, gab es keine Möglichkeit, nachts noch einmal nach draußen zu kommen. Beth war zwischen Theo und Sam eingepfercht, und der Gestank nach Füßen und anderen Körperausdünstungen war so extrem, dass sie sich die pelzbesetzte Kapuze über den Mund und die Nase legte und hoffte, dass die Erschöpfung sie schlafen lassen würde.
Sie lag jedoch fast die ganze Nacht wach und lauschte dem Orchester der verschiedenen Schnarchgeräusche. Es gab lautes Schnarchen, das wie eine Dampflok klang, hohes Quietschen, normales Schnarchen und manchmal unregelmäßiges, und immer mal wieder furzte, hustete oder stöhnte jemand. Ein Mann klang, als würde er beten, ein anderer fluchte im Schlaf. Es war, als ob Dutzende merkwürdige Instrumente gleichzeitig gestimmt wurden.
Theos Atem ging schwer, Sams leicht. Jack lag hinter Sam, aber sie konnte in diesem Lärm nicht unterscheiden, welche Geräusche von ihm stammten. Beth war sich bewusst, dass dies wahrscheinlich die bequemste und wärmste Nacht war, die sie in den nächsten Wochen erwarten konnte, und das machte ihr noch mehr Angst. Warum tat sie sich das überhaupt an? Sie machte sich nichts aus Gold, und sie konnte in Skagway genug Geld verdienen, um nächstes Jahr mit einem gewissen finanziellen Polster ein Schiff zurück nach England zu nehmen. Was, wenn es eine Lawine gab, während sie in den Bergen waren, und sie lebendig begraben wurden? Was, wenn sie hinfiel und sich ein Bein oder einen Arm brach? Was dann?
Sie musste irgendwann doch eingeschlafen sein, denn plötzlich schüttelte Jack sie und sagte, es sei Zeit, aufzubrechen.
Gegen Mittag war Beth bereits überzeugt davon, keinen einzigen Schritt mehr weitergehen zu können. Der Rucksack auf ihrem Rücken war zwar klein – er wog nur rund zwölf Kilo und enthielt nur trockene Kleidung, während die Männer welche trugen, die doppelt so schwer waren, und Sam und Jack zusätzlich jeder noch einen Schlitten zogen –, dennoch fühlte er sich an wie eine Tonne. Der Schnee unter ihren Füßen war hart gefroren, aber uneben wegen der Steine, die darunterlagen, und sie musste bei jedem Schritt aufpassen, wo sie hintrat, und einen dicken Stock benutzen, um sich keuchend und schnaufend weiter nach oben zu kämpfen.
Sie schwitzte in ihren vielen Sachen von der Anstrengung, aber als sie einmal ihren pelzbesetzten Mantel auszog, fror sie sofort im eisigen Wind. Sie wollte etwas Heißes trinken und sich setzen, ihre Augen tränten vom eisigen Wind, ihre Lippen waren aufgeplatzt, und jeder Knochen in ihrem Körper schrie, dass sie stehen bleiben solle. Sie verfluchte ihren langen Rock und die Unterröcke, in denen bei jedem Schritt der Schnee hängen blieb, und sie war entschlossen, dass sie die Anstandsregeln brechen und Sam bitten würde, ihr eine seiner Hosen zu geben, wenn sie endlich die Scales erreichten.
Erst am Rastplatz, dem sogenannten Stone House, bekam sie schließlich etwas zu trinken, denn Jack erhitzte Wasser in ihrem Sturmkessel. Das Feuer, das er darin entzündet hatte, hielt er mit trockenen Ästen und Holzspänen in Gang, die er von seinen Zimmermannsarbeiten in Skagway aufbewahrt hatte. Als er sich darüberbeugte und in das Feuer unter der doppelwandigen Kanne blies, beobachtete Beth ihn fasziniert und fragte sich, warum nur er damals in Vancouver erkannt hatte, dass diese merkwürdige Erfindung, in der man ein kleines Feuer entzünden konnte, das nützlichste Ausrüstungsteil sein würde, das sie besitzen konnten. Es funktionierte auch bei Sturm oder Regen und brachte das Wasser schnell zum Kochen.
Sie erinnerte sich an den dünnen, blassen Straßenjungen, der Jack gewesen war, als sie sich kennenlernten. Selbst damals war er einfallsreich und zäh, aber seitdem hatte er sich in jeder Hinsicht weiterentwickelt. Sein Gesicht über seinem dichten dunklen Bart war jetzt so braun und wettergegerbt wie das der Indianer, sodass man die dünne Narbe auf seiner Wange kaum noch sah. Seine breiten Schultern, Arme und Waden bestanden nur aus Muskeln. Er hatte aus jeder Erfahrung, die er gemacht hatte, seit sie vom Einwandererschiff gegangen waren, etwas gelernt, ob es das Schlachten, das Ausschenken oder das Bauen von Hütten war. Er war der Stahl in ihrer kleinen Gruppe, derjenige, auf dessen Stärke sich alle verließen, wenn sie selbst keine mehr hatten.
»Wie geht es deinen Füßen?«, fragte er, weil ihm sofort aufgefallen war, dass Sam beim Gehen humpelte, als er Kaffee und Zucker aus seinem Rucksack holen wollte. »Hast du eine Blase?«
»Ich schätze ja; meine Stiefel scheuern an meinen Fersen«, stöhnte Sam.
»Zieh sie aus, dann mache ich dir eine Bandage darum«, sagte Jack. »Und du, Theo? Was macht deine Wunde?«
»Es geht ganz gut, manchmal zwickt’s ein bisschen, das ist alles«, antwortete Theo und schob seine Hand in seinen Mantel, als wollte er überprüfen, ob die Narbe sich auch nicht wieder geöffnet hatte.
»Ich sehe mir das später noch an«, sagte Jack. »Aber zuerst der Kaffee. Beth sieht aus, als wäre sie einem Zusammenbruch nahe, wenn sie nicht bald welchen kriegt.«
Beth hatte einen Kloß im Hals, denn sie verstand einfach nicht, wie aus Jack ein so liebevoller Mann hatte werden können. Von dem wenigen, was er ihr über seine Kindheit erzählt hatte, wusste sie, dass sie sehr hart gewesen war, die Art von Kindheit, die eigentlich gefühllose Schläger hervorbrachte.
Als sie die Scales erreichten, stand Beth kurz vor dem Zusammenbruch. Jeder Teil von ihr schmerzte, als hätte sie auf einer mittelalterlichen Streckbank gelegen.
Der Himmel war stahlgrau und verhangen, und sie hatte jemand sagen hören, dass es wohl bald wieder schneien würde. Als sie auf den Weg hinunterblickte, den sie hinter sich hatten, war die Schlange der Kletterer noch genauso lang wie am Morgen, und sie dachte erneut, was für ein Wahnsinn das alles war.
Wie durch einen Nebel hörte sie Jack sagen, dass er das Zelt für die Nacht aufschlagen und dann nachsehen würde, ob die Träger alle Sachen heraufgeschafft hatten.
Beth kroch in das Zelt, noch bevor die Männer alle Heringe in den gefrorenen Boden gehämmert hatten. Jeder Zentimeter um die Scales herum war mit Zelten bedeckt, und sie wollte die Hände über die Ohren legen, um die Hunderte von Stimmen nicht mehr hören zu müssen, die sich beschwerten, stritten oder einander etwas zuriefen.
Irgendwie gelang es ihr, die Decken aus ihren Rucksäcken zu holen, und sie fiel darauf, bevor sie diese glattziehen oder die Laterne anzünden konnte.
Es war dunkel, als die Männer endlich das Gepäck überprüft hatten, und obwohl Beth ihre Stimmen hörte, als sie ins Zelt kamen, war sie nicht in der Lage, sich zu bewegen oder auch nur die Augen zu öffnen.
Sie blieben drei Tage lang bei den Scales, weil es so heftig schneite. Andere gingen trotzdem weiter über die Golden Stairs, aber Jack hielt das für Wahnsinn, denn jemand war hingefallen, hatte sich ein Bein gebrochen und musste dann von den indianischen Trägern zurück ins Sheep Camp gebracht werden.
Es war langweilig, im Zelt zu sitzen, aber zumindest konnten sie sich ausruhen und sich für den nächsten zermürbenden Teil ihrer Reise wappnen. Die Männer, vor denen Jefferson sie gewarnt hatte, gab es hier an den Scales zuhauf. Sie sahen aus wie echte Goldsucher, hatten Rucksäcke und Schaufeln dabei, aber die Feuer, die sie anzündeten, die heißen Getränke, die sie den Ahnungslosen anboten, dienten nur als Lockmittel, um einige davon zu einem Hütchenspiel zu überreden. Sie erkannte ein paar der Männer als Soapys Fußsoldaten und nahm an, dass er seinen Anteil an der Beute bekommen würde. Theo schmollte für eine Weile, als sie ihm erklärte, woher sie wusste, dass es manipulierte Spiele waren, aber zumindest hielt es ihn davon ab, daran teilzunehmen.
Am Morgen des vierten Tages verkündete Jack, dass es Zeit wurde, das Zelt abzubauen und weiterzuziehen, obwohl die Schneewolken noch immer tief hingen und die Temperatur noch weiter gesunken war.
»Wenn wir noch länger bleiben, dann schneit unser Gepäck völlig ein«, sagte er mit einem besorgten Blick zum Himmel. »Außerdem gibt es keinen guten Tag, um diese Treppe hinaufzusteigen.«
Sam, der sich seinen Schlitten an den Rucksack geschnallt hatte, übernahm die Führung. Beth kam als Nächstes, dahinter Jack, und Theo bildete das Schlusslicht. Es war unerlässlich, mit den Leuten vor ihnen Schritt zu halten, aber durch den stürmischen, eisigen Wind, der sie beinahe vom Berg wehte, und mit nur einem dünnen Seil neben der Eistreppe, um sich daran festzuhalten, war jeder Schritt eine Tortur.
Schweiß lief ihnen über den Körper, ihre Muskeln bettelten um Gnade, und der eisige Wind fühlte sich auf den frei liegende Teilen ihrer Gesichter wie tausend Nadelstiche an. Beth wagte nicht, irgendwo anders hinzusehen als auf ihre Füße, denn jeder Fehltritt konnte tödlich sein. Ihr Rücken schmerzte, weil sie ihn auf so unnatürliche Weise krümmen musste. Zuerst zählte sie die Schritte, aber nach fünfhundert gab sie es auf. Über dem Rauschen des Windes hörte man ein kontinuierliches tiefes Stöhnen, das Geräusch von zweihundert Menschen, die alle an die Grenze des Erträglichen stießen.
Ein Mann hoch über Beth und den anderen kippte zur Seite und rutschte um Hilfe rufend den Berg hinunter, aber keiner sah auch nur auf oder blieb gar stehen, um ihm zu helfen. Auch wenn sie behaupteten, dass sie ihr eigenes Leben und das aller hinter ihnen dabei aufs Spiel gesetzt hätten, schien es barbarisch, ihn einfach zu ignorieren. Aber der Anstieg war viel zu hart, als dass jemand Atem darauf verschwendet hätte, es auch nur zu kommentieren. Beth spürte, wie Jack leicht ihren Rücken berührte, als wollte er ihr damit sagen, dass er sich genauso hilflos fühlte.
Sie gingen weiter und weiter und wagten nicht, zurück oder nach vorn zu schauen. Das allgemeine Stöhnen wurde lauter und mischte sich mit dem Geräusch keuchenden Atmens.
Es fing wieder an zu schneien, und plötzlich sah Beth nichts mehr außer Sams Stiefeln direkt vor ihr. In die Qual mischte sich jetzt Angst, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie das Zelt aufstellen sollten, wenn sie den Gipfel erreichten, und wenn sie schutzlos waren, dann würden sie bestimmt erfrieren.
»Du kannst weitergehen, Beth«, sagte Jack hinter ihr, und seine Stimme klang unheimlich in dieser fremden weißen Welt. »Wir schaffen das, wir sind fast da. Denk an den Tee, den wir uns kochen werden. Geh weiter.«
Sie hörte einen erstickten Schrei von weiter unten und nahm an, dass noch jemand umgefallen war. Dann keuchte Theo laut auf.
Beth wandte unwillkürlich den Kopf, aber sie konnte nichts außer einer schneebedeckten Gestalt sehen, von der sie wusste, dass es Jack war. »Halt dich am Schlitten fest«, hörte sie ihn zu Theo sagen. »Ich helfe dir, nach oben zu kommen.«
Es war eine grauweiße Welt, in der sie nicht weiter als einen halben Meter sehen konnte und in der Geräusche verzerrt klangen. War der schottische Akzent, den sie vor zwei Stunden gehört hatte, nicht von oben gekommen? Jetzt schien sie ihn von unten zu hören. Aber Jacks Stimme beruhigte sie, erinnerte sie daran, dass sie fast da waren, dass Theo durchhielt und dass Sam direkt vor ihr war.
Eine Frau schrie, dass sie nicht mehr könne, und eine männliche Stimme drängte sie weiterzugehen, doch die Stimmen schienen sich rechter Hand zu befinden und verwirrten Beth noch mehr.
»Konzentrier dich einfach auf den nächsten Schritt«, rief Jack, als sie schwankte. »Es ist nicht mehr weit.«
Endlich erreichten sie den Gipfel und fanden sich in etwas wieder, das auf den ersten Blick wie eine weiße Stadt aussah. Die Gebäude waren große, schneebedeckte Haufen von Gepäck, die Straßen die schmalen Korridore dazwischen.
Jack stieß einen gequälten Fluch aus, als ihm klar wurde, was für eine schwere Aufgabe es sein würde, ihre Sachen zu finden. Sie hatten den Trägern einen langen Stab mit ein paar bunten Bändern daran gegeben, um ihr Gepäck damit zu markieren, aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass der Schnee alles zudecken würde. Männer saßen oben auf den Haufen und schaufelten hektisch, und sie hörten, wie ein Mann behauptete, er suche schon seit drei Tagen.
Es gab nirgendwo einen Platz, an dem sie ihr Zelt aufschlagen konnten. Nur in der »Stadt« fanden sie Schutz, und Jack führte sie durch die gewundenen Straßen, bis er einen Platz fand, wo sie eine Plane aufspannen konnten, um ein Dach über dem Kopf zu haben.
Es war wärmer ohne den eisigen Wind, gegen den sie den ganzen Morgen gekämpft hatten, und sie ließen sich dankbar auf ihre Schlitten sinken und kochten sich mit dem Sturmkessel erneut Tee. Alle vier schwiegen, und Beth bezweifelte nicht, dass die Männer das Gleiche dachten wie sie, nämlich dass sie bis zum Frühling hätten warten sollen. Es wurde bereits dunkel, und die Aussicht, die Nacht hier zusammengekauert verbringen zu müssen, war so schrecklich, dass sie nicht daran zu denken wagte.
Jack und Sam belebte der heiße Tee, und sie zogen mit den Laternen los, um nach ihren Sachen zu suchen.
»Was macht deine Wunde?«, erkundigte sich Beth bei Theo, während sie sich auf dem Schlitten unter einer Decke aneinanderkuschelten.
»Ich glaube nicht, dass sie wieder aufgebrochen ist«, antwortete er. »Aber selbst wenn es so wäre, würde ich es verdienen, weil ich dich hergebracht habe. Das hier ist kein Platz für eine Lady.«
»Ich bin wahrlich nicht die Einzige«, entgegnete sie. »Und eines Tages werden wir zurückblicken und über all das lachen.«
»Ich hoffe es.« Er seufzte. »Ich wünschte, dass ich das alles wiedergutmachen könnte, indem ich der perfekte Ehemann bin und dir das Heim biete, das du verdienst.«
»War das ein Heiratsantrag?«, neckte sie ihn.
Er zog den Handschuh aus und strich ihr zärtlich über die Wange. »Wenn du es möchtest, dann ja, obwohl ich vorhatte, dich an einem sehr viel romantischeren Ort als diesem hier zu fragen.«
Beth blickte zur Seite durch den schmalen Gang zwischen den aufgetürmten Sachen. Es schneite noch immer, und andere Leute waren gekommen und hatten sich ebenfalls in dem Durchgang niedergelassen; auch sie spannten Planen als Dach auf. Sie lachte. »Ich glaube, es wird noch einige Zeit dauern, bis wir wieder an einem romantischen Ort sind.«
Sie hatten geglaubt, dass die Golden Stairs der absolut schlimmste Teil des Aufstiegs sein würden, aber die nächsten beiden Tage, in denen sie versuchten, ihre Sachen wiederzufinden, erwiesen sich als lange, endlose Tortur. An Schlaf war nicht zu denken; sie waren dreckig, sie froren, und sie sehnten sich verzweifelt nach einer warmen Mahlzeit. Außerdem brachten sie der Lärm der unzähligen Leute um sie herum, der ohne Unterlass wehende Wind und der Schnee an den Rand des Wahnsinns.
Sie alle schaufelten Schnee von den Gepäckbergen, nur um enttäuscht zu werden, und hatten die Hoffnung, ihre Sachen zu finden, schon fast aufgegeben. Das Schaufeln wärmte sie ein bisschen, aber ihre Muskeln schmerzten unerträglich, und wenn sie mit der Arbeit aufhörten, schien die Kälte jedes Gelenk in ihrem Körper einzufrieren.
Beth fürchtete sich jedes Mal davor, sich zu erleichtern. Die Männer taten es überall, ganz egal, wer gerade in der Nähe war, aber sie konnte das nicht, und je mehr Sorgen sie sich darüber machte, desto öfter schien sie zu müssen.
Am dritten Tag dort oben, als es noch heftiger schneite, glaubte Beth wirklich, keinen Moment länger durchhalten zu können. Die Tränen gefroren ihr auf den Wangen, und ihre Lippen waren so aufgesprungen, dass sie kaum sprechen konnte. Selbst Jack zeigte Ermüdungserscheinungen. Sie sah ihn auf einen schneebedeckten Gepäckhaufen klettern und bemerkte, wie langsam er geworden war. Theo war leichenblass und schwankte beim Gehen, und obwohl Sam sein Bestes gab, um Jack bei der Suche zu helfen, war es offensichtlich, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Doch es war Sam, der ihre Sachen schließlich fand. Er war losgegangen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen, und kam zufällig an einem Mann vorbei, der seine Sachen gefunden hatte. Als der seinen letzten Sack herauszog, entdeckte Sam darunter ihren bändergeschmückten Stock. Wenn er nicht dort gewesen wäre, hätte der Schnee ihn eine Stunde später wieder komplett zugedeckt.
Das Beladen der Schlitten wärmte sie und hellte ihre Stimmung ein wenig auf, obwohl es noch immer heftig schneite. Schließlich zogen sie ihre Schlitten zu der schneebedeckten Hütte mit dem darauf flatternden, zerrissenen Union Jack, wo die North-West Mounted Police mit ihren Maxim-Maschinengewehren die Grenze nach Kanada bewachte.
Beth freute sich, die vertrauten roten Jacken und dunkelblauen Hosen zu sehen, und die Tatsache, dass das Mitnehmen von Handfeuerwaffen verboten war, beruhigte sie. Die Polizisten waren entschlossen, die Brutalität und Gesetzlosigkeit von Skagway nicht über ihre Grenze zu lassen.
Auf die Waren, die sie von der in Alaska liegenden Seite des Berges mitgebracht hatten, musste Zoll bezahlt werden. Aber Theo holte einen Trumpf aus dem Ärmel und zeigte einen Stapel von Quittungen über Waren vor, die sie schon in Vancouver gekauft hatten, und argumentierte, dass das alles zollfrei sei und dass nur für die Sachen aus Skagway Geld fällig würde.
Beth fragte sich, wie die Mounties so freundlich und gut gelaunt bleiben konnten, obwohl sie monatelang bei diesem furchtbaren Wetter oben auf dem Berg festsaßen. Sie mochten Büffelfellmäntel tragen, aber in ihrer Hütte war es kaum wärmer als in einem Zelt, und in einer Nacht konnte es bis zu zwei Meter Neuschnee geben. Doch Theos Argumentation schien sie zu amüsieren, und sie nickten zustimmend und berechneten ihnen insgesamt nur zwei Dollar Zoll, ohne sich ihre Sachen genauer anzusehen.
Wie durch ein Wunder hörte es auf zu schneien, und die Sonne schien schwach, als sie den Gipfel auf Schneeschuhen verließen und sich auf die sieben Kilometer lange Strecke zum Happy Camp machten. Obwohl sie die schwer beladenen Schlitten ziehen und sich an das merkwürdige Gefühl der Schneeschuhe gewöhnen mussten, kamen sie zum ersten Mal, seit sie Dyea verlassen hatten, zügig voran. Die vielen Leute, die hier vorher schon entlanggegangen waren, hatten den Schnee festgetreten, und die Schlitten glitten leicht darüber. Sie waren erstaunt, als ihnen jemand sagte, dass sie nur gut dreißig Kilometer von Dyea entfernt waren und zehn vom Sheep Camp, denn es kam ihnen wie mindestens hundert vor.
Trotz ihrer Erschöpfung waren sie froh darüber, endlich voranzukommen, und die Aussicht, die Nacht in einem Zelt und an einem wärmenden Feuer zu verbringen, munterte sie auf. An einigen Abhängen konnten sie sich sogar auf die Schlitten setzen und kreischten und lachten bei der Abfahrt wie die Kinder. Einige Leute hatten ein Segel auf ihre Schlitten gesetzt und überholten damit sogar die wenigen, die ihren von Hunden ziehen ließen.
Es war klar, warum der Ort, an den sie gingen, Happy Camp getauft worden war: Weil es dort flach war, konnten sie einfach ein Zelt aufschlagen, und sie waren wieder unterhalb der Baumgrenze, sodass sie Holz für ein Feuer sammeln konnten.
Um sie herum herrschte an diesem Abend ausgelassene Stimmung, trotz des hohen Schnees und der Aussicht, dass es weiter schneien würde. Die Erleichterung darüber, sich ausruhen zu können, bevor es weiterging, die Überzeugung, dass nichts so schlimm sein konnte wie die Golden Stairs oder der Gipfel, und die Tatsache, dass man an einem großen Feuer sitzen und die nassen Sachen trocknen konnte, brachten die gute Laune und das Lachen zurück.
Nachdem sie einen großen Topf Schinken und Reis gegessen hatten, holte Beth ihre Geige heraus und spielte am Feuer. Zu zweit oder zu dritt kamen die Leute aus ihren Zelten, um zuzuhören, und jubelten am Ende jeder Nummer. Jemand holte eine Flasche Whiskey, um sie mit Beth und den Männern zu teilen, und das feurige Getränk stieg ihnen sofort zu Kopf und ließ sie über alles lachen.
Später, als die Leute in ihre Zelte zurückgekehrt waren, stand Beth einen Moment lang da und sah sich um. Es war Vollmond, und der Himmel war klar und sternenübersät. Die Bäume um das Camp herum waren mickrig und dünn, aber schneebedeckt wirkten sie ganz zauberhaft. Selbst die Zelte, die um ihr eigenes standen und von denen sie wusste, dass sie fleckig und zerschlissen waren, sahen im goldenen Schein des Feuers, das vor jedem brannte, hübsch aus. Während der letzten qualvollen Woche hatte sie überhaupt nicht auf die Landschaft geachtet, aber jetzt, wo wieder Ruhe herrschte, sah sie, wie wunderschön die Wildnis war, und stellte fest, dass sie sich auf das Abenteuer freute, das vor ihnen lag.
»Eines Tages werde ich Molly davon erzählen können«, sagte sie und blickte sich um, während die Männer am Feuer saßen und schon fast eingeschlafen waren. Sie waren alle drei so dreckig und ungepflegt, mit rotgeränderten Augen, langen Bärten, zerzaustem Haar, und in so viele Sachen gehüllt, dass man sie für Bären hätte halten können. Sie hoffte, dass es unter den Leuten, die nach Dawson City unterwegs waren, auch einen Fotografen gab. Es wäre schön gewesen, für immer festzuhalten, wie sie auf dieser Reise ausgesehen hatten, und es war auch etwas, das sie Molly zeigen konnte.
Ein Wolf heulte in der Nähe, und einige Hunde im Camp antworteten ihm. Beth erschauderte und ging zurück ans Feuer. Einen Moment lang hatte sie vergessen, dass in der Wildnis auch wilde Tiere lebten.