6

»Ich wünschte, wir könnten nach Amerika auswandern«, sagte Sam niedergeschlagen beim Abendbrot. »Dieses Haus ist voller schlimmer Erinnerungen. Ich hasse es inzwischen.«

Es war der Tag, nachdem Beth Jane Wiley hinausgeworfen hatte. Sam war deswegen nicht wütend gewesen, nur bedrückt. Er hatte betont, dass es Hunderte von Leuten gebe, die eine Unterkunft suchten, aber dass man unmöglich feststellen könne, wer einen bestehlen oder einem das Leben zur Hölle machen würde.

Beth nahm die ganze Sache sehr mit. Als sie in das Zimmer der Wileys gegangen war, hatte sie festgestellt, dass der Nachttopf seit Tagen nicht mehr geleert worden war und dass vertrocknete Brotkrusten und schmutzige Unterwäsche überall auf dem Boden herumlagen. Selbst auf den Laken auf dem Bett waren Blutflecken, und über die Kommode verlief ein tiefer Kratzer, der aussah, als wäre er mit einem Messer gemacht worden.

Sam war nach unten gegangen, als Thomas kam, um die Sachen zu holen, und Mr Craven hatte, für den Fall, dass es Ärger gab, ebenfalls auf der Gasse gestanden. Aber Thomas schien eher resigniert als wütend. Er holte die Taschen und ging wieder.

»Aber wir würden Geld brauchen, um auszuwandern«, sagte Beth sehnsüchtig.

»Mit Molly könnten wir sowieso nicht gehen«, erwiderte Sam.

Beth spürte einen Stich im Herzen, denn sie wusste, dass er eigentlich damit meinte, dass er Molly nicht mitnehmen wollte. Er hatte sich ihr noch immer nicht geöffnet, wie sie gehofft hatte; er hob sie nie hoch oder spielte mit ihr. Selbst wenn Molly lachte, ließ ihn das nicht lächeln.

»Wenn sie nicht wäre, könnten wir alles verkaufen und hätten genug für die Überfahrt«, sagte er verbittert. »Aber so muss ich morgen die beiden silbernen Bilderrahmen verkaufen, damit wir über die Runden kommen.«

Beth ging kurz danach ins Schlafzimmer und öffnete die Rahmen hinten, um die Fotos herauszunehmen. Das eine zeigte Sam und sie, als sie ungefähr neun und zehn waren. Das Bild war in einem Studio am Ende der Church Street gemacht worden. Sie trug ein weißes Kleid und einen kleinen Strohhut, und ihr Haar kringelte sich darunter. Sam stand neben ihrem Stuhl in einem dunklen Jackett und knielangen Knickerbockers und sah sehr ernst aus. Ihre Mutter hatte das Bild geliebt, und Papa hatte den Rahmen extra dafür gekauft.

Das andere Bild war das, welches sie für Molly aufheben sollte. Ihre Eltern lächelten beide, und Beth erinnerte sich, dass sie Sekunden nachdem das Bild gemacht worden war, alle in schallendes Gelächter ausgebrochen waren, weil der Fotograf einen hatte fahren lassen, als er sich unter das dunkle Tuch bückte.

Wenn sie nur so glücklich hätten bleiben können wie an jenem Tag! Mama hatte so hübsch ausgesehen in ihrem besten Kleid, und Papa wirkte mit seinem gestreiften Blazer und dem Strohhut sehr distinguiert. Es war sehr heiß gewesen, und sie hatten alle ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen und zusammen im Meer geplanscht.

Beth konnte Sams Verbitterung verstehen. Es gab Zeiten, in denen sie ihre Mutter auch hasste, weil sie ihnen das alles angetan hatte. Warum hatte sie nicht mit einem guten, freundlichen Mann, der sie liebte, zufrieden sein können?

Am folgenden Morgen war Beth wieder zuversichtlicher und beschloss, ein Inserat zu schreiben, dass sie nach zwei männlichen Untermietern suchte. Später brachte sie dieses mit Molly auf dem Arm in den Süßwarenladen an der Church Street. Nachdem sie darum gebeten hatte, den Zettel aufzuhängen, blieb sie stehen und las die anderen Inserate am Brett. Ihr fiel eines auf, in dem eine Frau für ein paar Stunden in der Woche zum Waschen und Nähen gesucht wurde.

Es war am Falkner Square, in einem von Liverpools feineren Vierteln. Beth war oft über die breiten Straßen und die belaubten Plätze spaziert, um Schuhe und Stiefel für ihren Vater abzuliefern.

Weil sie fand, dass eine solche Stelle ideal für sie wäre, lief sie zu Mrs Craven, um sie zu bitten, auf Molly aufzupassen, während sie dort vorsprach.

»Aber natürlich, Liebes.« Mrs Craven lächelte und streckte die Arme nach dem Baby aus. »Und wenn es nur für ein paar Stunden die Woche ist, passe ich auch gerne auf die Kleine auf.«

Beth polierte ihre Stiefel, dann zog sie sich ihr bestes dunkelblaues Kleid mit Spitzenkragen und Bündchen an und setzte den schlichten dunkelblauen Hut auf, der ihrer Mutter gehört hatte. Es war das erste Mal, dass sie seit dem Tod ihres Vaters etwas anderes als Schwarz trug, und sie fühlte sich ein bisschen schlecht, die Trauerkleidung abzulegen. Doch ihre beiden schwarzen Kleider waren schon ein bisschen schäbig, und das dunkelblaue war nicht wirklich auffällig.

Beths Laune besserte sich, als sie sich auf den Weg machte, denn es war ein wunderschöner, warmer Tag, und es fühlte sich gut an, einmal ohne Molly unterwegs zu sein, fast wie ein Abenteuer.

Die Gärten in der Mitte des Falkner Square sahen hübsch aus mit ihren vielen Blumenstauden, die in voller Blüte standen. Sie blieb vor der Nummer zweiundvierzig stehen und blickte neugierig die Treppe hinunter in die untere Etage hinter dem schwarzen Eisengeländer und die Marmorstufen hinauf, die zu der Eingangstür hinter dem von Säulen getragenen Vorbau führten.

Beth hatte ihr ganzes Leben lang von ihrer Mutter von dem Leben unter der Treppe der großen Häuser gehört, und deshalb wusste sie, dass sie eigentlich an die untere Tür klopfen musste. Aber es war ihr in ihrer Kindheit mehr als deutlich gemacht worden, dass sie niemals die Dienstbotin von irgendjemandem sein würde, deshalb sah sie sich selbst nicht als eine.

Sie holte tief Luft, ging nach oben zur Haustür und läutete. Das laute Klingeln hallte durch das Haus, und plötzlich war ihr Mund ganz trocken, und sie war nervös.

Die Tür wurde von einer älteren Frau in einem grauen Kleid mit weißer Schürze und Rüschenhäubchen geöffnet.

»Ich komme wegen der Anzeige, in der eine Hilfe zum Nähen und Waschen gesucht wird«, sagte Beth ein bisschen zu laut. »Mein Name ist Miss Bolton.«

Die Frau musterte sie von oben bis unten. »Woher kommen Sie?«, fragte sie.

»Aus der Church Street«, sagte Beth.

»Kommen Sie doch rein«, erwiderte die Frau und runzelte die Stirn, als sei sie verwirrt. »Die Herrin ist gerade nicht da, aber ich notiere mir Ihre Angaben und erzähle es ihr, wenn sie zurückkommt.«

Die Frau führte sie in den hinteren Teil des Hauses in einen kleinen, einfach eingerichteten Raum. Beth stellte sich vor, dass es das Zimmer der Frau war, denn sie erhaschte einen Blick in den Salon, während sie den Flur hinuntergingen, und er war sehr groß mit kostbaren Teppichen und wunderschönen Sofas und Sesseln.

»Setzen Sie sich, bitte«, sagte die Frau. »Ich bin Mrs Bruce, Mrs Langworthys Haushälterin. Wie alt sind Sie?«

»Sechzehn, Mam«, antwortete Beth.

»Und haben Sie eine Referenz?«

Beth hatte keine Ahnung, was sie damit meinte.

»Einen Brief von Ihrem letzten Arbeitgeber?«, sagte Mrs Bruce ein wenig kurz angebunden.

»Ich musste den Strumpfwarenladen, in dem ich gearbeitet habe, überstürzt verlassen«, sagte Beth und erklärte atemlos, dass ihre kürzlich verwitwete Mutter im Kindbett gestorben war. »Ich konnte meine Stelle im Laden nicht wieder annehmen, weil ich zu Hause bleiben und mich um meine kleine Schwester kümmern musste.«

Beth schälte Kartoffeln für das Abendessen, während Molly an ein Kissen gelehnt in einer Holzkiste neben der Spüle saß und auf einer Brotkruste kaute, als Mr Filbert, der Mann, der den Schuhladen unten führte, zu ihr hinaufrief.

»Miss Bolton, ein junger Mann hat gerade einen Brief für Sie abgegeben!«

»Ich komme sofort«, rief sie zurück, wusch sich die Hände und trocknete sie an ihrer Schürze ab. Sie war sicher, dass der Brief eine Absage enthalten würde, aber zumindest waren Mrs Langworthy oder ihre Haushälterin höflich genug, ihr dies schriftlich mitzuteilen.

»Keine schlechten Nachrichten, hoffe ich?«, sagte Mr Filbert, während Beth im Türrahmen zu seinem Laden stand und zu begreifen versuchte, was in dem Brief stand, den sie gerade geöffnet hatte. »Nein«, sagte Beth und blickte mit einem breiten Lächeln zu ihm auf. »Ganz im Gegenteil.« Sie konnte es kaum erwarten, dass Sam nach Hause kam, um ihm die guten Neuigkeiten zu berichten. Mrs Langworthy wollte, dass sie gleich morgen anfing. Sie schlug vor, dass Beth zwei Fünf-Stunden-Tage arbeiten sollte, weil es dann einfacher für sie sein würde, jemanden zu finden, der sich um das Baby kümmerte. Und sie sollte dafür zehn ganze Schillinge als Lohn erhalten! Beth hatte nur sieben Schillinge und ein Sixpence für eine ganze Woche Arbeit im Strumpfwarenladen bekommen.

»Unser Glück hat sich endlich gewendet, Sam«, rief sie überschwänglich, als ihr Bruder durch die Tür kam. Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er umarmte sie.

»Mrs Bruce muss deinem Charme erlegen sein«, sagte er, als sie ihm erzählte, dass sie ihrer Meinung nach viel zu viel geredet hatte. »Ich hoffe nur, dass Mrs Craven es nicht leid wird, auf Molly aufzupassen.«

»Sie sagte, sie würde es gerne machen«, erwiderte Beth. »Molly macht ja auch nicht viel Arbeit, und ich gebe ihr einen Schilling pro Tag.«

Alles, was Beth über die Oberschicht wusste, war das, was ihre Mutter ihr von ihren Erfahrungen als Küchenmädchen erzählt hatte, aber ihr wurde schon am ersten Tag bei den Langworthys klar, dass deren Haushalt höchst ungewöhnlich war.

Sie kam wie bestellt um acht Uhr, und Mrs Bruce bot ihr in der Küche in der unteren Etage eine Tasse Tee und eine Scheibe Toast an. »Mit leerem Magen kannst du nicht arbeiten«, sagte sie, »und ich bin ziemlich sicher, dass du ohne Frühstück hergelaufen bist. Jetzt warten wir, bis Mr Edward – das ist der junge Mr Langworthy – ins Büro gegangen ist, und dann bringe ich dich rauf zur Herrin.«

Zwanzig Minuten später stand Beth im Esszimmer im Erdgeschoss, wo Mrs Langworthy gerade frühstückte. Es lag im hinteren Teil des Hauses mit Blick auf den Garten, neben dem Zimmer der Haushälterin, wo Mrs Bruce am Tag zuvor mit ihr gesprochen hatte.

Beth war überrascht von Mrs Langworthy. Sie hatte eine Frau mittleren Alters mit grauen Haaren erwartet, keine relativ junge Frau mit flammend rotem Haar, strahlend grünen Augen und einem so freundlichen Lächeln.

»Willkommen, Beth«, sagte sie, erhob sich vom Tisch und streckte ihr die Hand entgegen. »Es tut mir leid, dass ich gestern nicht hier war, als du kamst, aber Mrs Bruce hat mir alles über dich und deine Lebensumstände erzählt. Dein kürzlicher Verlust tut mir so leid, und ich hoffe, dass es deiner kleinen Schwester nichts ausmacht, dich mit mir zu teilen.«

Beth war so verblüfft über diese unerwartet herzliche Begrüßung, dass sie ausnahmsweise sprachlos war. Sie schüttelte ihrer neuen Arbeitgeberin die Hand und blickte Mrs Bruce an, weil sie nicht wusste, was sie jetzt tun sollte.

»Molly ist bei einer Nachbarin, die sie gut kennt«, erklärte Mrs Bruce.

»Dann bin ich sicher, dass es ihr dort gut geht«, sagte Mrs Langworthy. »Mrs Bruce zeigt dir alles und sagt dir, was heute erledigt werden muss. Ich muss mich jetzt um meinen Schwiegervater kümmern, aber wir sehen uns später am Vormittag noch.«

Eine kleine schlanke dunkelhaarige Irin um die zwanzig machte das Bett in Mrs Langworthys Schlafzimmer, das nach vorne zum Falkner Square hinaus lag. Mrs Bruce stellte sie als Kathleen vor und erklärte Beth, als sie den Raum verlassen hatten, dass Kathleen im Haus wohne und ein Zimmer im obersten Stock habe. »Sie ist das Hausmädchen – sie putzt und zündet die Kamine an. Wir haben eine Köchin, die täglich ins Haus kommt – die lernst du später noch kennen –, und dann bin da noch ich selbst. Es gibt nur wenig Personal, aber die Langworthys führen auch kein großes Haus, und außerdem kümmert sich Mrs Langworthy um den alten Mr Langworthy.« Mrs Bruce deutete auf den anderen Raum im vorderen Teil des Hauses und erklärte, dass das sein Zimmer sei.

»Dieses Zimmer hier gehört Mr Edward«, sagte sie und öffnete eine Tür im hinteren Teil. Es war sehr männlich eingerichtet, mit einem großen glänzenden Mahagonischrank, einem eigenen Waschbecken mit Messinghähnen und einem großen Bett, das bereits gemacht war und auf dem eine dunkelblaue Tagesdecke lag. »Das Badezimmer«, sagte sie und öffnete die nächste Tür. »Das Besondere an diesem Haus ist, dass es über moderne Sanitäreinrichtungen verfügt.«

Beth hatte noch nie ein Wasserklosett in einem Haus gesehen, nur Bilder davon in Zeitschriften, und konnte nicht widerstehen, das auch zu sagen.

»Ich auch nicht, bis ich anfing für die Langworthys zu arbeiten.« Mrs Bruce lächelte. »Es gibt noch ein Wasserklosett im Erdgeschoss und auch noch eins im Hinterhof.«

Der letzte Raum war ein Gästezimmer. Mrs Bruce sagte, dass ihr eigenes Schlafzimmer neben dem von Kathleen liege.

Mrs Langworthys Kleider, deren Pflege zu Beths Aufgaben gehören würde, hingen in einem Ankleidezimmer neben dem Schlafzimmer, aber die Haushälterin erklärte ihr, dass sie heute nur Wäsche waschen solle.

Erst als sie wieder in der unteren Etage waren, nachdem sie den großen Salon gesehen hatte, der fast eine ganze Hälfte des Hauses einnahm, und Mr Edwards Arbeitszimmer, einen kleinen Raum, der ebenfalls nach vorne zum Falkner Square hinaus lag, wurde Beth klar, dass sie nicht fürs Nichtstun so gut bezahlt wurde.

Die Waschküche hatte eine eigene Tür, die hinaus in den Hof führte. Es gab zwei große Waschbecken, noch ein niedriges, das Spülbecken genannt wurde, eine Mangel und einen großen Gasheizkessel, den man von unten anheizen musste.

Davor stand ein großer Korb voller Bettlaken, die stark nach Urin rochen und gekocht werden mussten, und dann hob Mrs Bruce den Deckel von einem Emaille-Eimer voll mit schmutzigen Windeln.

»Versuch einfach, die hier nicht schlimmer zu finden als die von Molly«, erklärte sie, obwohl es so entsetzlich stank, dass sie selbst die Nase abwenden musste. »Wasch sie im Spülbecken gründlich aus. Dann müssen sie zusammen mit den Laken gekocht werden. Es wird noch mehr Wäsche geben, aber nicht heute. Vergiss bitte nicht, dass die Wäsche des alten Mr Langworthy immer allein in den Heizkessel kommt, nachdem alles andere gewaschen ist.«

»Wie lange muss ich die kochen?«, fragte Beth und versuchte, nicht zu würgen bei dem Gedanken daran, was sich in dem Eimer befand.

»Zwanzig Minuten bis eine halbe Stunde«, antwortete die Haushälterin. »Während das Wasser kocht, kannst du empfindliche Stücke mit der Hand im Waschbecken waschen.«

»Mrs Langworthy muss ihn wickeln?« Beth musste das einfach fragen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der so hübsch und gebildet war, so etwas tat.

»Ja, das tut sie, Beth. Er war schon immer ein schwieriger Mann, auch vor seinem Schlaganfall. Aber seitdem ist es viel schlimmer geworden, weil er halbseitig gelähmt ist und seine Sprache und sein Sehvermögen dadurch beeinträchtigt sind. Wir hatten im Laufe der Jahre schon Dutzende von Krankenschwestern hier, aber er vergrault sie alle wieder. Mrs Langworthy ist die einzige Person, die ihn anfassen darf, und sie hat die Geduld einer Heiligen. Sie sollte Kinder haben, Freunde, die zu Besuch kommen, und ihr eigenes Leben führen können.« Mrs Bruce brach abrupt ab und wurde rot. »Das hätte ich nicht sagen sollen.« Sie seufzte. »Es ist nur ...«

»Dass Sie ihretwegen wütend sind?«, fragte Beth.

»Ja, Beth.« Mrs Bruce nickte. »Aber es steht mir nicht zu, so etwas zu sagen.«

»Ich werde es nicht weitererzählen«, erwiderte Beth, während sie den Wasserhahn über dem Kessel aufdrehte, um ihn zu füllen. »Sie war so nett, mir Arbeit zu geben, als ich eine brauchte. Dafür werde ich Ihnen beiden immer dankbar sein.«

»Und, wie ist es dort?«, wollte Mrs Craven von Beth wissen, als diese am frühen Nachmittag zurückkehrte.

Beth hob Molly hoch, die auf dem Teppich saß, und kitzelte sie, bis sie lachte. »Die meiste Zeit wundervoll«, sagte sie. »Es ist ein wunderschönes Haus, sie haben sogar ein eingebautes Wasserklosett. Aber ich wünschte, der alte Mr Langworthy könnte es benutzen.«

Es gab keine Worte, mit denen sich beschreiben ließ, wie ekelhaft sie es fand, diese Windeln auszuwaschen. Sie hatte würgen müssen und kaum zu atmen gewagt, weil sie so schrecklich stanken. Sie fragte sich, wie Krankenschwestern Tag für Tag mit so etwas fertig wurden und ob sie sich wohl jemals daran gewöhnen und es ihr nichts mehr ausmachen würde.

Aber sie hatte sich selbst auf dem Nachhauseweg gesagt, dass der schreckliche Teil nur höchstens zwanzig Minuten dauerte. Die restlichen vier Stunden und vierzig Minuten waren mit angenehmen Pflichten angefüllt. Es machte ihr nichts aus, die sauberen Laken auszuwringen und durch die Mangel zu drehen. Sie im Hof zum Trocknen aufzuhängen war toll. Und sie hatte die letzte Stunde damit verbracht, Mr Edwards Socken zu stopfen, und dabei in der Küche gesessen und sich mit Mrs Cray, der Köchin, und Kathleen, dem leise sprechenden irischen Hausmädchen, unterhalten. Außerdem hatte sie eine dicke Scheibe Fleischpastete für das Abendessen dabei, und Mrs Cray hatte ihr auch noch ein bisschen Gebäck für zu Hause eingepackt.

»Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles«, sagte Mrs Craven philosophisch. »Und ich liebe es, Molly bei mir zu haben, also ist es gut für uns beide.«

Mrs Craven hatte recht. Beth stellte fest, dass sie sich daran gewöhnte, die Windeln zu waschen. Oder vielleicht war es auch nur so, dass die guten Dinge der Arbeitsstelle die schlechten bei Weitem überwogen. Es war schön, zwei Mal in der Woche rauszukommen, mit anderen Leuten zu reden und zu wissen, dass sie Sam dabei half, über die Runden zu kommen.

Mr Edward sah sie fast nie. Er war meistens schon ins Büro gegangen, wenn sie kam, aber bei den wenigen Malen, wo sie sich begegneten, fand sie ihn sehr sympathisch. Er war groß und schlank, mit schütterem sandfarbenen Haar und einem militärisch aussehenden Schnurrbart, und er war mindestens zehn Jahre älter als seine Frau. Er wirkte auf Beth wie ein gebildeter, ruhiger Mann, der das Leben sehr ernst nahm.

Mrs Langworthy war das genaue Gegenteil. Sie war so freundlich und fröhlich, und sie fand immer Zeit, zu Beth zu kommen und ein bisschen mit ihr zu plaudern. Sie liebte es, von Molly zu hören, und es war klar, dass sie sich selbst ein Kind wünschte. Sie beherrschte die wundervolle Kunst, die Position der Hausherrin einzunehmen und doch mit denen mitzufühlen, die für sie arbeiteten. Beth verstand, warum Mrs Bruce ihr so ergeben war, und sie beschloss, dass sie sich, falls sie eines Tages auch mal Diener haben sollte, diese großartige Frau zum Vorbild nehmen würde.

Es schien, als hätte Beths und Sams Glück sich endlich gewendet, denn nur eine Woche später fanden sie zwei neue Untermieter, Ernest und Peter, beides respektable junge Männer, die für eine Versicherung arbeiteten und Freunde waren.

Sam fand es besser für Beth, dass die beiden Untermieter die Zimmer im oberen Stock bekamen, deshalb zog er runter in die Stube. Vom ersten Abend an erwiesen sich die jungen Männer als ideale Mieter, höflich, ordentlich und rücksichtsvoll gegenüber Beth und Molly.

Sie waren beide leidenschaftliche Radfahrer und unternahmen jeden Sonntag mit einem Fahrradclub Ausflüge aufs Land. Sie aßen, was immer Beth ihnen vorsetzte, sie waren dankbar dafür, dass sie ihre Wäsche wusch, und keiner von beiden trank. Sam genoss ihre Gesellschaft, und abends spielten die vier oft zusammen Karten. Manchmal baten sie Beth, für sie Geige zu spielen, und dann klatschten und stampften sie mit den Füßen auf, um sie zu begleiten. Das waren die besten Abende von allen, weil die Musik Beth für ein paar Stunden alle Sorgen vergessen ließ und sie sich so frei und sorglos wie ein Vogel fühlte.

Es kam ihr auch so vor, als würde Sam endlich etwas für Molly empfinden. Manchmal, wenn er von der Arbeit kam und sie auf dem Boden saß, beugte er sich zu ihr runter und streichelte ihr über den Kopf, wie Ernest und Peter es oft taten. Beth sagte nichts dazu – sie war sicher, dass er es nie wieder tun würde, wenn sie eine Bemerkung darüber machte –, aber sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und sah, dass er Kuckuck mit Molly spielte oder sie kitzelte, um sie zum Lachen zu bringen.

Eines Abends im August, nachdem Beth Molly ins Bett gebracht hatte, war sie für ein paar Minuten zu Mrs Craven gegangen, und als sie zurückkam, hielt Sam das kleine Mädchen auf dem Arm.

»Sie ist aufgewacht und hat geweint«, rechtfertigte er sich. »Ich dachte, sie hat vielleicht Bauchschmerzen.«

Am folgenden Tag, als sie zum Falkner Square musste, wäre Beth den ganzen Weg am liebsten gehüpft, so glücklich war sie. Später an jenem Morgen saß sie gerade in dem kleinen Zimmer neben der Küche, wo die Nähmaschine stand, und sang, während sie einige abgenutzte Laken in der Mitte auftrennte und andersherum wieder zusammensetzte, als Mrs Langworthy hereinkam.

»Und was hat dich in einen kleinen Singvogel verwandelt?«, fragte sie mit einem breiten Lächeln.

»Ich bin nur so glücklich, weil mein Bruder Molly endlich gern zu haben scheint«, gestand Beth. »Wir hatten so viele Probleme, als meine Mutter starb, verstehen Sie. Es war schwer für ihn, Molly zu akzeptieren.«

»Ich glaube nicht, dass Männer Babys sofort so lieben können, wie Frauen das tun«, sagte Mrs Langworthy nachdenklich. »Viele meiner Freundinnen haben mir erzählt, dass ihre Männer zuerst gar kein Interesse gezeigt hätten. Und für deinen Bruder muss es noch schwerer gewesen sein, weil ihr beide noch so jung seid.«

Beth erzählte von ihren beiden Untermietern und dass Sam in letzter Zeit viel glücklicher war. »Er hat auch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr davon gesprochen, nach Amerika auszuwandern«, sagte sie.

»Hättet ihr das gerne getan?«, wollte Mrs Langworthy wissen.

»Na ja, schon«, erwiderte Beth. »Was für ein Abenteuer das wäre! Aber mit Molly ginge es ja ohnehin nicht. Ich würde dort ebenfalls arbeiten müssen, wenn wir uns etwas aufbauen wollten. Ohne Freunde und Familie hätten wir niemanden, der auf sie aufpasst.«

»Es ist eine Schande, dass du und dein Bruder eure Träume und Pläne aufgeben müsst«, bemerkte Mrs Langworthy und tätschelte mitfühlend Beths Schulter.

An einem heißen, sonnigen Samstag Ende August kam Sam von der Arbeit und schlug vor, dass sie am folgenden Tag die Fähre nach New Brighton nehmen sollten. Ernest und Peter wollten früh mit dem Fahrrad aufbrechen, und da sie gesagt hatten, dass sie kein Abendessen brauchten, weil sie unterwegs irgendwo einkehren wollten, bedeutete das, dass Sam und Beth nicht früh zurück sein mussten.

Beth war hocherfreut über Sams Vorschlag, nicht nur, weil sie so viele schöne Erinnerungen an Ausflüge mit ihren Eltern nach New Brighton hatte, sondern weil er Molly mitnehmen wollte.

»Zieh dir etwas Schönes an«, schlug er vor. »Du hast lange genug Trauer getragen. Es wird Zeit, wieder ein bisschen Spaß zu haben.«

Erst ein oder zwei Wochen zuvor war Beth die Kleider ihrer Mutter durchgegangen, um zu sehen, welche davon sie vielleicht verkaufen oder für sich selbst umnähen konnte, und ganz unten im Schrank hatte sie das blassblau-weiß gestreifte Kleid gefunden, das ihre Mama auf dem Foto trug. Beth hatte sich danach gesehnt, es zu tragen, weil es sehr hübsch war, mit einem tieferen Ausschnitt, als sie ihn normalerweise trug, Keulenärmeln und Biesen am Mieder. Sie musste es an der Taille ein bisschen auslassen und den Saum ein paar Zentimeter länger machen, aber ansonsten passte es perfekt.

»Du siehst hübsch aus«, sagte Sam bewundernd, als sie am Sonntagmorgen umgezogen in die Küche kam.

Beth war ganz schwindelig vor Aufregung, denn mit offenem Haar und einem kecken kleinen Strohhut, den sie sich etwas schief aufgesetzt hatte, fühlte sie sich fast wie eine modisch gekleidete junge Dame. Molly schien ihre Aufregung zu spüren, denn sie lachte und klatschte in ihre dicken kleinen Hände, während Beth sie nach unten trug und in ihren Kinderwagen setzte.

Als sie in die Lord Street einbogen, um zu den Docks und der Fähre zu gelangen, war Sam offensichtlich genauso aufgeregt, denn er fing an, Spiele mit Molly zu spielen und sie zum Lachen zu bringen, während er neben dem Kinderwagen herging.

Hunderte von Leuten liefen in die gleiche Richtung. New Brighton mit seinen Sandstränden, Karussells, dem Eselreiten und der Promenade war ein beliebtes Tagesausflugsziel für Arbeiter.

Es war ein unglaublich schöner Tag. Sie aßen Eis, Zuckerwatte, Shrimps und Hackbraten, und sie lachten laut über Molly, die alles probieren wollte, was sie aßen. Sie war so gierig nach dem Eis, dass sie fast aufstand, um es zu erreichen, und anschließend war ihr ganzes Gesicht verschmiert.

Sie zogen ihre Stiefel aus und gingen mit bloßen Füßen ins Wasser, fuhren Karussell, wobei Sam Molly vor sich setzte, und Beth gewann ein Glas mit Bonbons beim Ringewerfen. Sam testete seine Stärke und schaffte es nur, den Zeiger bis auf »Schwächling« steigen zu lassen, während andere Männer, die viel kleiner waren als er, die Glocke zum Klingen brachten. Aber er gewann eine Kokosnuss an der Wurfbude. Außerdem ließen sie in einer Kabine am Strand ein Foto von sich machen. Sie standen ewig lange an, während die Mütter vor ihnen sich ihren dreckigen Kindern widmeten, ihnen mit spuckebefeuchteten Tüchern übers Gesicht wischten und ihr widerspenstiges Haar kämmten.

Beth konnte ein Lachen kaum unterdrücken, als sie schließlich in der Kabine waren und man ihr sagte, sie solle sich mit Molly auf dem Schoß auf den Stuhl setzen. Sam stand hinter ihnen, eine Hand auf ihrer Schulter. Die Hintergrundszene zeigte ein Schloss und einen See. Sie fragte sich, ob Molly in den kommenden Jahren wohl das Foto betrachten und sich wundern würde, wo dieses Schloss in Liverpool stand.

Es war fast acht Uhr, als sie wieder zu Hause ankamen, und Sams sonnenverbranntes Gesicht hatte die Farbe eines Hummers. »Ich mache Tee, während du Molly ins Bett bringst«, sagte er und beugte sich herunter, um das kleine Mädchen zu küssen, das verschlafen in Beths Armen lag.

Das war der Höhepunkt des Tages für Beth. Sie hatte vielleicht acht Monate auf diesen Moment warten müssen, doch er war umso süßer, weil sie wusste, dass Sam es nicht aus Pflichtgefühl tat, sondern aus echter Zuneigung.

»Du kleine Zauberin!«, flüsterte Beth Molly zu, als sie ihr die Kleider und die Windel auszog, um sie zu waschen. »Du hast endlich sein Herz erobert.«

Beth blieb noch lange in der Küche sitzen, nachdem Sam, Ernest und Peter zu Bett gegangen waren. Sie dachte daran, wie schön es gewesen war, dass Sam wieder gelacht hatte, dass sie in ihrem Herzen wieder Hoffnung gespürt hatte und auch ein bisschen Stolz, weil es ihr so erfolgreich gelungen war, Molly die Mutter zu ersetzen. Mollys dunkles Haar war jetzt lockig, ihre Wangen leuchteten wie kleine Äpfel, und viele Leute waren heute stehen geblieben, um sie zu bewundern. Bald würde sie auch laufen und sprechen. Beth lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie viel Angst sie in der Nacht gehabt hatte, als Molly geboren wurde und Mrs Craven ihr sagte, sie müsse sich um sie kümmern. Aber sie hatte es gut gemeistert, genau wie Sam.

Beth wachte plötzlich auf, weil ihr sehr heiß war. Sie setzte sich auf, um die Decken ans Fußende des Bettes zu schieben. Sie glaubte nicht, dass sie schon lange geschlafen hatte, denn sie konnte immer noch die Betrunkenen auf der Church Street hören. Aber als sie ihr Kissen umdrehte und sich wieder hinlegte, hörte sie ein Geräusch aus der Gasse hinter dem Haus.

Sie erstarrte. Sie war es gewohnt, dass Leute die Gasse hinauf- und hinunterliefen – fast alle, die über den Geschäften wohnten, benutzten die Hintertüren, um rein- und rauszugehen. Und Leute wie die Cravens, die in den Häusern in der Straße hinter der Church Street wohnten, hatten ebenfalls Zugang dazu. Aber das Geräusch, das sie hörte, stammte nicht von jemandem, der entschlossen nach Hause ging oder betrunken dorthin stolperte, sondern von jemandem, der sich anschlich und versuchte, nicht gehört zu werden.

Beth hatte noch einmal überprüft, ob sie nach ihrem letzten Gang zum Plumpsklo die Hintertür abgeschlossen hatte, deshalb wusste sie, dass niemand hereinkommen konnte. Aber als ihr einfiel, dass die Fahrräder von Ernest und Peter im Hof standen, überlegte sie, ob sie vielleicht jemand stehlen wollte.

Sie stand aus dem Bett auf und ging zum Fenster, aber obwohl sie das Hinterhoftor im Mondlicht gerade so ausmachen konnte, waren die Räder nicht zu sehen, weil die Männer sie vermutlich an die Seitenwand des Plumpsklos gelehnt hatten und das Dach des Anbaus ihr die Sicht versperrte.

Und sie konnte auch nichts mehr hören, deshalb beschloss sie, dass es vermutlich nur eine Katze gewesen war, und ging wieder ins Bett. Als sie jedoch ein paar Augenblicke später erneut ein leises Geräusch hörte, sprang sie auf und ging aus dem Schlafzimmer in die Küche, wo sie vom Fenster aus fast den gesamten Hof überblicken konnte.

Sie zog die Spitzengardine zurück, und obwohl es zu dunkel war, um mehr als einen dunklen Schemen an der Wand des Plumpsklos zu erkennen, konnte sie Chrom aufblitzen sehen, und sie war beruhigt, dass die Fahrräder offensichtlich noch da waren. Aber als sie die Gardine fallen ließ, hörte sie noch ein Geräusch. Sie riss den Stoff wieder nach oben und sah gerade noch die Silhouette von jemandem, der über den Hinterhof rannte, das Tor aufriss, hindurchlief und verschwand.

Die Gestalt war nur eine Sekunde lang in ihrem Blickfeld gewesen, aber sie war sicher, dass es sich um eine Frau gehandelt hatte. Und obwohl sie wusste, dass es Diebe beiderlei Geschlechts gab, konnte sie sich nicht vorstellen, warum eine Frau mitten in der Nacht hier herumschlich. Sie stand einen Moment verwirrt da und überlegte, ob sie Sam wecken sollte. Dann beschloss sie, dass es keinen Sinn machte, da der Eindringling geflohen war und Sam früh am Morgen zur Arbeit musste. Deshalb drehte sie sich um und wollte zurück ins Schlafzimmer gehen.

Doch als sie die Tür erreichte, roch sie Petroleum und hörte ein zischendes Geräusch.

Das konnte nur Feuer sein.

Voller Entsetzen rannte sie zum Treppenabsatz und blickte auf lodernde Flammen. Es war kein Dieb gewesen, sondern jemand, der sie bei lebendigem Leib verbrennen wollte.

»Feuer!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Sam! Ernest! Peter! Feuer! Steht sofort auf!«