17

Als Jack um sechs Uhr am Schlachthaus ankam und Sam dort auf ihn warten sah, wich ihm die Farbe aus dem Gesicht, noch bevor Sam ihm erzählt hatte, was passiert war.

»Na los, sag es schon«, rief Sam unglücklich. »Ich hätte auf deine Warnung hören sollen.«

Jacks Augen funkelten gefährlich, aber er gab sich Mühe, sich im Zaum zu halten. »Ich schätze, du hättest nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen können.« Er seufzte. »Niemand hätte das gekonnt, und wer hätte gedacht, dass er sie beim Verlassen von Iras Laden entführen lässt?«

»Was kann ich tun, Jack?«, fragte Sam verzweifelt. »Ich glaube nicht, dass Heaney seine Leute losschickt, um nach ihr zu suchen. Er wird ihnen nur befehlen, Fingers’ Laden kaputt zu schlagen, und dann fängt der Krieg richtig an.«

Jack nickte zustimmend. »Ich wünschte, ich müsste nicht arbeiten und könnte bei dir bleiben, aber das traue ich mich nicht. Ich bin heute aber um ein Uhr fertig, also halte ich die Ohren offen und treffe dich um zwei im Heaney’s.«

Sam ging zurück nach Hause, aber mit jedem Schritt wuchs seine Angst um Beth. Er war so selbstzufrieden gewesen, hatte sich für gebildeter als die meisten gehalten, von den Frauen bewundert und von allen für einen Gentleman gehalten. Er hatte hinter der Bar im Heaney’s Hof gehalten, war nie in den amerikanischen Slang verfallen, weil er als Engländer herausstechen wollte.

Aber in Wahrheit war er ein Milchgesicht. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in eine Prügelei verwickelt gewesen, fürchtete sich vor Gewalt, und wenn man ihn für ehrlich hielt, dann lag das daran, dass er Angst hatte, etwas anderes zu sein.

Sein berühmter Charme würde Beth nicht retten, und er hatte auch kein Geld, um das Lösegeld zu bezahlen. Was sollte er tun?

Beth saß zitternd auf ihrer Kiste, als ein schwaches Licht durch die Bretter der Kellerdecke drang. Aber obwohl ihr das sagte, dass es jetzt nach sieben am Samstagmorgen sein musste, gab es nirgendwo anders ein Licht. Irgendwo da oben war die Falltür, durch die sie hier runtergekommen war. Es musste auch eine Art Leiter geben, denn der Mann hatte sie daraufgeschubst, aber sie war gestolpert und auf den Boden heruntergerutscht. Er hatte die Leiter nach oben gezogen und die Tür dann zugeschlagen und verriegelt.

Sie wünschte, sie hätte sich erinnern können, wie das Zimmer oben aussah, aber sie hatte sich gewehrt und geweint, als er sie von der Gasse durch einen langen, schmalen Flur gedrängt hatte, deshalb hatte sie auch, als er ein Streichholz entzündete, nicht mehr gesehen als die Falltür, die er aufgerissen hatte.

Aber auch wenn sie nichts gesehen hatte, hätte sie doch sicher gespürt, ob das Zimmer bewohnt war? Kein Laut drang zu ihr herunter, und auch die ganze Nacht hatte sie nichts gehört, und wenn da oben jemand wohnen würde, dann hätte ihr Entführer sie doch inzwischen sicher geknebelt?

Also war es vielleicht ein Lagerraum. Möglicherweise befand sich im ganzen Gebäude überhaupt niemand?

Das war sehr unwahrscheinlich. Der Mulberry Bend und das umliegende Labyrinth aus Gassen galten als das größte Ballungszentrum der Stadt. Jeder, dem hier ein Haus gehörte, verwandelte es in eine Fünf-Cent-pro-Nacht-Absteige.

Sie wollte schreien, vor Angst, Kälte und Hunger, aber sie war fest entschlossen, es nicht zu tun. Fingers hatte sie entführt, weil er sie für wertvoll hielt. Es ergab keinen Sinn, dass er sie hier unten sterben ließ.

Das Licht, das durch die Spalten in der Decke drang, wurde etwas heller, was darauf hindeutete, dass sich in dem Raum über ihr Fenster befanden. Die meisten Fenster in dieser Gegend waren zerbrochen, und wenn sie genug Lärm machte, hörte sie vielleicht jemand. Sie musste nur etwas finden, womit sie Lärm machen konnte.

Sam war um neun Uhr wieder im Heaney’s, aber die Tür war abgeschlossen, und als er einen Blick durch das Fenster warf, sah er Pebbles, der die dreckigen Sägespäne auf dem Boden zusammenfegte.

Er machte den Mann auf sich aufmerksam, der ihm zögernd die Tür öffnete. »Mr Heaney hat mir gesagt, ich soll niemanden reinlassen.«

»Mich hat er damit nicht gemeint«, erklärte Sam, drängte sich hinein und schloss die Tür hinter sich. »Gibt es Neuigkeiten von Beth?«

»Weiß nich’«, erwiderte Pebbles, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass es ihm egal war.

Pebbles war ein bisschen einfach, deshalb wusste Sam, dass es keinen Sinn hatte, ihn weiter zu befragen. Er ging nach hinten und legte sich auf das alte Sofa, um sich zu überlegen, was er tun konnte.

Das Nächste, was er wahrnahm, war Heaneys Stimme, die durch die Bar dröhnte. Sam sprang auf und rannte in den Saloon. Er bemerkte, dass es jetzt elf Uhr war und er zwei Stunden geschlafen haben musste.

»Du siehst übernächtigt aus«, bemerkte Heaney und ging hinter die Bar, um sich einen Whiskey einzugießen. »Ich habe nichts gehört, also geh nach Hause, und wasch dich. Alles läuft wie immer, bis ich etwas anderes sage.«

Sein barscher Tonfall machte Sam wütend. »Ihnen ist es vollkommen egal, was aus Beth wird, oder? Sie stört nur, dass Ihnen jemand eins ausgewischt hat. Was sind Sie nur für ein Mensch?«

»Ein Mensch, der unverschämten Jungspunden das Maul stopft«, erwiderte Heaney und stürzte den Whiskey in einem Schluck herunter. »Und jetzt geh nach Hause, und rasier dich, und zieh dir ein frisches Hemd an.«

Jack stand zu seinem Wort; um zwei kam er in den Saloon. Er hatte seine blutbespritzten Arbeitssachen gegen einen sehr schäbigen zweireihigen Matrosenmantel und eine genauso alte Kappe getauscht. »Man hat mir erzählt, dass Fingers ein Gebäude am Mulberry Bend gehört«, flüsterte er Sam über die Bar zu. »Keine Adresse, und das ist ein verdammtes Labyrinth da draußen, aber ich gehe hin und sehe mich dort mal um.«

»Ich würde gerne mitkommen«, flüsterte Sam zurück. »Aber dann rastet Heaney aus.«

»Du würdest da auffallen wie ein bunter Hund.« Jack grinste. »Ich gehe allein. Außerdem ist es besser, wenn du hier bist, falls Fingers sich meldet. Wir müssen wissen, was er für Forderungen stellt. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Heaney uns die Wahrheit sagt.«

»Ich glaube nicht, dass er irgendetwas bezahlen wird, um Beth zurückzubekommen«, sagte Sam ängstlich.

»Deshalb müssen wir sie finden, und wenn Fingers ihr etwas antut, dann schwöre ich, bringe ich ihn um.«

Jack zündete sich vor einem Pfandleihhaus am Mulberry Bend eine Zigarette an und beobachtete ausdruckslos das Gewimmel auf der Straße. Beth hatte ihm erzählt, wie entsetzt und verängstigt sie gewesen war, als sie und Sam sich hierher verlaufen hatten, aber er hatte nicht den Mut gehabt, ihr zu gestehen, dass sich diese Gegend kaum vom Londoner East End unterschied, wo er aufgewachsen war, oder, was das anging, von den Slums in Liverpool.

Der Hauptunterschied war, dass die Engländer hier eine kleine Minderheit waren und dass rund die Hälfte der anderen wenig oder gar kein Englisch sprach.

Es waren hauptsächlich Italiener, Deutsche, Polen, Juden und Iren, mit Einsprengseln aus anderen europäischen Ländern, plus Schwarze, die aus den Südstaaten hergekommen waren. Das Einzige, was sie verband, war die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation, denn das hier war nicht nur ein Getto für arme Leute, hier befand man sich ganz unten, auf dem Boden des Fasses.

Wenn man in diese Hölle der Verzweiflung kam, weil man nirgendwo anders mehr hingehen konnte, dann waren die Wände zu steil und hoch, um wieder herauszuklettern.

Jack wusste, dass die Miete, die hier für ein dreckiges Zimmer voller Ratten und Kakerlaken verlangt wurde, höher war als die für ein anständiges Haus oder eine Wohnung in den vornehmeren Vierteln. Aber für Vermieter dort wären die armen Einwanderer nicht akzeptabel gewesen.

Überall in der Lower East Side konnten sich die Leute die hohen Mieten nur leisten, indem sie sich die Zimmer mit anderen teilten, normalerweise mit Freunden oder Verwandten. Aber hier war einzig und allein entscheidend, einige Cent pro Nacht bezahlen zu können, um irgendein Dach über dem Kopf zu haben, und dafür schlief man dann mit Dutzenden von anderen auf dem Fußboden.

Von der Hand in den Mund zu leben, ohne jeden Komfort, jede Wärme oder die Möglichkeit, sich zu waschen, ließ die Leute schnell in einer Spirale landen, die sie immer weiter nach unten zog. Ein Mann konnte keine harte körperliche Arbeit leisten, wenn er kaum schlief oder etwas Anständiges zu essen bekam; eine Frau konnte nicht nähen oder Streichhölzer machen, wenn sie kein Zimmer oder Licht dafür hatte. Wer fing nicht an zu trinken, wenn es das Einzige war, was einen diese völlige Verzweiflung für eine Weile vergessen ließ?

In Jacks direktem Umfeld befanden sich allein fünf Kneipen, drei Saloons, zwei Secondhand-Läden und zwei Pfandleihhäuser. Er fand, dass sie die Bedürfnisse der Bewohner hier gut widerspiegelten.

Der einzige Lebensmittelhändler bot Obst und Gemüse an, bei dem man schon von Weitem erkennen konnte, dass es nicht mehr besonders frisch war, und im Laden mit den konservierten Waren sah es nur unwesentlich besser aus.

Überall auf dem Bordstein boten Leute Sachen an. Zwei gebeugte alte Frauen verkauften trockenes Brot, und er beobachtete, wie ihre dreckigen Hände in noch dreckigere Tüten griffen, die aus altem Matratzenstoff gemacht waren, um einen weiteren unförmigen Laib herauszuholen. Ein anderer Mann schlachtete eine Ziege auf einem Stück Holz, das er auf einer der Aschentonnen auf der Straße balancierte. Aber noch schlimmer waren die beiden Italiener, die schales Bier verkauften, den übrig gebliebenen Bodensatz aus den Kneipen, den sie aus alten Zinktonnen ausschenkten.

Der »Bend«, wie er allgemein genannt wurde, weil die Straße sich bog wie ein Hundebein, wurde manchmal von der Gemeinde gereinigt. Aber nur wenige Schritte weiter, in dem Labyrinth aus schmalen, dunklen Gassen, die davon abgingen, Orte, wo weder die Gemeindebesen noch der Sonnenschein jemals hinkamen, verrottete der Müll auf dem Boden und vermischte sich mit dem Gestank menschlicher Abwässer. Tausende von Menschen lebten in den heruntergekommenen Häusern, Mietskasernen, Kellern und sogar in Hütten, hatten nur ein paar Lumpen als Bett und eine Bierkiste als Stuhl.

Jack hatte keine Zweifel, dass die zerlumpten, halb verhungerten Kinder, die er heute herumlungern sah, kein Zuhause hatten, denn auf der Straße zu leben war oft besser als »zu Hause«. Zumindest musste man dann das Wenige, was man sich zusammenbettelte oder -klaute, nicht abgeben und riskierte nicht, von betrunkenen Eltern verprügelt zu werden.

Jack wusste genau, wie das war, denn er war aus den gleichen Gründen als Junge auf die Straßen von Whitechapel geflüchtet. Die Schule war ein Ort, an dem er nur gewesen war, wenn er von dem Mann erwischt wurde, der sich um die Schulschwänzer kümmerte; all sein Wissen und seine Fähigkeiten, die fast alle nur mit dem Überleben zusammenhingen, hatte er auf der Straße gelernt.

Beth auf dem Schiff kennenzulernen war wie ein Wunder gewesen. Die einzigen Freunde, die er jemals gehabt hatte, stammten wie er aus dem Bodensatz ganz unten im Fass. Er sah sich Mädchen wie Beth nur aus der Ferne an und wünschte sich, er könnte ihr seidiges Haar berühren oder ihnen nah genug kommen, um ihre saubere Haut und ihre sauberen Sachen zu riechen. Er hätte sich nie träumen lassen, jemals so jemanden zur Freundin zu haben, ganz zu schweigen davon, ihre Hand zu halten oder sie zu küssen.

Aber Beth hatte mit ihm geredet, als wenn er ihr ebenbürtig wäre. Sie hatte mit ihm gelacht, sie hatte ihm von ihren Nöten und ihren Hoffnungen erzählt. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, dass er alles erreichen konnte, was er wollte. Als sie sich auf dem Schiff von ihm verabschiedet und ihm versprochen hatte, dass sie ihn in genau einem Monat am Castle Green treffen würde, hatte er nicht einen Moment geglaubt, dass sie dort sein würde. Dennoch waren ihm die Stärke und der Glaube geblieben, die sie ihm gegeben hatte.

Er hatte seine erste Nacht hier am Bend verbracht, denn das war der einzige Ort gewesen, von dem seine Bekannten zu Hause in Liverpool ihm berichtet hatten. Ohne Beths Einfluss wäre ihm nicht einmal aufgefallen, wie schrecklich es dort war, er hätte seinen Verstand mit Alkohol benebelt und wäre dem Beispiel derer gefolgt, die er an jenem Abend kennenlernte. Aber sie hatte seine Sichtweise verändert, und am nächsten Morgen wusste er, dass er sofort gehen musste, wenn er nicht in diesen Ort hineingesaugt werden wollte.

Im Schlachthaus zu arbeiten war scheußlich. Die Angst der Rinder, die er sah, wenn er sie vom Schiff in den Tod trieb, die lässige Haltung der Männer, die sie umbrachten, und der Gestank von Blut und Gedärmen verursachten ihm Übelkeit. Aber es war Arbeit, wurde besser bezahlt als die meisten Jobs, und obwohl er mit fünf anderen Männern in einem winzigen Zimmer auf dem Boden schlief und es sich nicht so anfühlte, als wäre er auf der Leiter eine Stufe höher gestiegen, wusste er doch, dass es so war.

Beinahe wäre er nicht einen Monat später zum Castle Green gegangen. Er hatte den Blick gesehen, den Sam ihm beim Abschied zugeworfen hatte – er war so kalt gewesen, dass das Meer davon gefroren wäre. Außerdem ging Jack davon aus, dass Sam mit seinem Aussehen und seinem Charme eine tolle Stelle bekommen hatte und dass Beth mit jemandem zusammen war, den ihr Bruder für sie ausgesucht hatte.

Es war reiner Trotz, der Jack trotzdem hingehen ließ. Er war so oft versucht gewesen, zu seinen alten Gewohnheiten zurückzukehren und wieder zu trinken und sich zu prügeln, und er dachte, dass er das vor sich selbst rechtfertigen konnte, wenn sie ihn im Stich ließ. Aber da stand sie und wartete freudig und wunderschön am Castle Green auf ihn.

Er war überrascht gewesen, dass Sam noch keine Arbeit gefunden hatte, und als er spürte, wie besorgt sie deswegen war, hatte er versucht, ihr zu helfen. Doch er hätte niemals gedacht, dass Sam sich so weit herablassen würde, als Barkeeper in der Bowery zu arbeiten. Jack hatte nicht zugegeben, wie er lebte oder wie furchtbar sein Job war – das wäre zu viel für Beth gewesen –, aber es hatte ihn angespornt, seine Situation weiter zu verbessern.

Auf die Fleischerei-Seite des Schlachthauses befördert zu werden kam vielen nicht wie ein Fortschritt vor, aber es war einer. Er lernte jetzt ein Handwerk, was ihm für die Zukunft nützen würde, und er musste die Angst der Rinder nicht mehr sehen und hören. Kurz danach fand er ein besseres Zimmer, das er sich mit drei Freunden teilte. Es war nicht groß, aber es war sauber und hatte ein richtiges Bett und einen Schrank, in den er seine Kleider hängen konnte.

Während des Sommers glaubte er, er hätte die Sonne, den Mond und die Sterne, weil Beth bei ihm war. Er machte Überstunden, um mehr Geld zu verdienen, damit er etwas sparen konnte; er ging sogar zur Abendschule, um richtig Lesen und Schreiben zu lernen.

Dann kam der Tag, an dem ihm klar wurde, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte.

Für eine Weile war das Leben für ihn nicht mehr lebenswert. Es traf ihn wie ein Messer ins Herz, als er hörte, dass sein Rivale ein Gentleman war, denn es brachte das alte Gefühl der Wertlosigkeit zurück. An vielen Abenden ging er runter ins Heaney’s, stand draußen, um sie spielen zu hören, und kämpfte gegen die Tränen.

An einem dieser Abende wurde ihm schließlich klar, dass er als Freund ein Teil ihres Lebens bleiben konnte, selbst wenn sie seine Gefühle nicht erwiderte. Er wusste, dass es nicht einfach sein würde, denn er würde vorgeben müssen, Theo den Falschspieler zu mögen, und er würde es ertragen müssen, dass Sam auf ihn, Jack, herabsah. Aber er glaubte, das zu schaffen, in der Hoffnung, dass Beth ihn eines Tages brauchen würde.

Nun, jetzt brauchte sie ihn, und er hoffte inständig, dass er herausfand, wo sie festgehalten wurde, und sie retten konnte.

Jack ging bei seiner Suche systematisch vor, eine Gasse rauf, die nächste wieder runter, und sah sich jeden dunklen Hinterhof dazwischen genau an. Er sah bewusstlose Betrunkene herumliegen, fast nackte Kinder mit tief eingesunkenen Augen, die auf Treppenstufen kauerten, Banden von Jugendlichen, die ihn misstrauisch beäugten, und verhärmte Huren, die sich ihm für ein paar Cent anboten.

Überall in New York sah man weihnachtliche Dekorationen, geschmückte Bäume und Schaufenster voller Geschenkideen. Aber obwohl morgen Heiligabend war, fand sich hier kein Anzeichen für festliche Stimmung.

Jack sprach mit vielen Leuten. Meistens tat er so, als sei er gerade vom Schiff runtergekommen, und behauptete, man habe ihm gesagt, er solle sich an jemanden wenden, der Fingers Malone hieß. Die meisten Leute schüttelten die Köpfe und erklärten, sie würden niemanden mit diesem Namen kennen. Eine alte Hure mit einem pockennarbigen Gesicht spuckte aus und sagte, Fingers sei ein mieser Bastard, aber er bekam nicht aus ihr heraus, wo er ihn finden konnte. Ein paar Jungen um die dreizehn gaben damit an, dass sie ein paar Mal für ihn gearbeitet hätten. Jack war sich ziemlich sicher, dass sie nur den Namen kannten und den Mann nicht mal erkennen würden, wenn er vor ihnen stand.

In einem dreckigen, verrauchten Saloon am Mulberry Bend erklärte ihm der Barkeeper, Malone besäße ein Grundstück an der Bottle Alley, aber ein Mann, der an der Theke stand, meinte, es läge nicht dort, sondern am Blind Man’s Court.

Um acht Uhr abends taten Jack die Füße weh. Er war es so leid, seine Geschichte immer wieder neu zu erzählen, da er bezweifelte, dass sie für die Leute einen Sinn ergab, und er hatte jeden Zentimeter sowohl von der Bottle Alley als auch vom Blind Man’s Court abgesucht. Der Bend war kein Ort, an dem ein Fremder nachts herumlaufen sollte, denn die Gassen waren dunkel, voller Betrunkener, die auf Streit aus waren, und junger Männer, die nach jemandem suchten, den sie ausrauben konnten. Außerdem war es bitterkalt, deshalb beschloss er, zurück ins Heaney’s zu gehen und sich zu erkundigen, ob Sam etwas erfahren hatte.

Es war eine Erleichterung, wieder in der Bowery mit ihren hellen Lichtern und ihrer Fröhlichkeit zu sein. Musik dröhnte aus den deutschen Kneipen, und eine Blaskapelle spielte Weihnachtslieder. Die Hausierer waren überall und verkauften alles von billigen Spielsachen bis hin zu Hosenträgern. Es gab kandierte Äpfel, geröstete Kastanien und Waffeln, und die Wärme von den Ständen und der süße Duft erinnerten Jack daran, dass Beth vielleicht gerade fror und hungrig war.

In der Menge vor sich entdeckte er plötzlich ein vertrautes Gesicht. Er hatte Theo nur einmal gesehen, aber sein gutes Aussehen war einprägsam, und auf der Bowery stach so ein Mann heraus, selbst ohne einen Anzug mit Zylinder und Mantel.

Jack trat ihm in den Weg. »Mr Cadogan!«, rief er.

»Kenne ich Sie?«, fragte Theo und musterte Jack von oben bis unten, als sei er erstaunt, dass ein so schäbig gekleideter Mann seinen Namen kannte.

»Nein, Sir«, antwortete Jack, »aber ich bin ein Freund von Beth, und sie ist in großer Gefahr. Ich bin gerade auf dem Weg ins Heaney’s zu ihrem Bruder, und da sah ich Sie.«

Jack erwartete fast, dass der Mann behaupten würde, etwas Dringendes erledigen zu müssen und keine Zeit zu haben, aber das tat er nicht. »In Gefahr?«, rief er. »Sagen Sie mir, was passiert ist!«

Jack erklärte es ihm und fügte hinzu, dass er glaube, sie werde irgendwo am Bend gefangen gehalten, und dass er gerade von dort komme. »Aber es ist vielleicht etwas passiert, während ich weg war.«

»Die arme Beth.« Theo seufzte und sah ehrlich besorgt aus. »Ich wollte sie später abholen, weil ich ein paar Wochen in Boston war. Aber jetzt begleite ich Sie, und vielleicht können wir mit vereinten Kräften dafür sorgen, dass dieser schreckliche Heaney sie befreit.«

Im Heaney’s war es so voll wie immer am Samstagabend, und ein farbiger Pianist ersetzte Beth.

Sam sah unruhig und besorgt aus und war nicht wie üblich jovial zu den Gästen. »Gott sei Dank!«, rief er, als Jack und Theo an die Bar traten. »Ich hatte schon geglaubt, alle hätten mich verlassen.«

Theo sprach kurz mit ihm, aber wegen des Lärms der Gäste konnte Jack nicht hören, was er sagte. Dann wandte sich Theo wieder an Jack, griff nach seinem Arm und deutete auf das Hinterzimmer. »Wir gehen da rein«, sagte er.

Jack war verwirrt darüber, dass der Mann, den er für einen Oberklasse-Schakal gehalten hatte, der sich an verrufenen Orten nach Beute umsah, tatsächlich mutig zu sein schien.

Theo klopfte nicht mal an die Tür, sondern ging einfach hinein. Heaney saß an einem Tisch und schrieb in etwas, das aussah wie ein Kontobuch. Er riss die Augen auf ob der unerwarteten Störung.

»Ich habe gehört, dass Fingers Malone Ihnen eine Forderung für die Freilassung von Miss Bolton geschickt hat«, bluffte Theo mit eiskalter Stimme. »Sie haben vielleicht Ihre Gründe, warum Sie ihren Bruder nicht darüber informiert haben, aber als ihr Verlobter bestehe ich darauf, es zu erfahren.«

Jack war ziemlich sicher, dass Beth nicht mit Theo verlobt war, weil sie ihm das an Thanksgiving erzählt hätte. Obwohl er die Idee verabscheute, dass das vielleicht passieren könnte, war er froh, dass Theo sich eine so gute Begründung für sein Hereinplatzen ausgedacht hatte.

»Da die Forderung an mich gestellt wurde«, erwiderte Heaney und stand von seinem Stuhl auf, »geht das verdammt noch mal nur mich was an.«

»Nicht, wenn eine junge Frau in Gefahr schwebt«, fuhr Theo ihn an und machte einen drohenden Schritt auf den älteren Mann zu. »Und jetzt sagen Sie mir, was Sie wissen, und zwar schnell.«

Heaney wollte aufbrausen, hielt jedoch inne.

»Wie viel verlangt er?«, fragte Theo.

»Es geht nicht um den Preis, sondern darum, was in Zukunft passieren könnte«, antwortete Heaney mit einem leichten Jammern in der Stimme. »Er denkt, er kann sich alles nehmen, was ich habe, mich schlagen und auf mir herumtrampeln. Aber das werde ich nicht zulassen.«

»Ich nehme an, das bedeutet, Sie haben nicht vor, irgendetwas zu unternehmen«, sagte Theo verächtlich. »Sie wollen sie bei Fingers verrotten lassen, stimmt’s? Was für eine Art von Schlange sind Sie, dass das Leben einer jungen Frau Ihnen nichts wert ist?«

»Fingers wird sie nicht umbringen«, erklärte Heaney hastig. »Er will, dass sie in seinem Saloon spielt.«

»Das wird sie tun, wenn Sie keinen Finger rühren, um ihr zu helfen«, mischte sich jetzt Jack ein, der den Mann gerne gewürgt hätte. »Sie müssen Ihre Männer zusammentrommeln und zurückschlagen. Warum entführen Sie nicht seine Frau?«

»Das würde Fingers nichts ausmachen, er wäre froh, wenn er sie los ist«, sagte Heaney mit einem Schulterzucken.

»Dann schnappen Sie sich einen von seinen Handlangern!«

»Ich habe seinen Laden überprüft. Er hat alles gesichert, seine Männer sind überall.«

»Sie meinen seinen Saloon, nehme ich an?«, fragte Theo. »Was für Gebäude besitzt er noch? Wissen Sie, wo sie liegen?«

»Er mischt bei allem mit, vom Verkauf von schalem Bier bis hin zu den Fünf-Cent-pro-Nacht-Absteigen«, erwiderte Heaney verächtlich.

»Unten am Bend?«, wollte Jack wissen.

»Wo sonst?«, fuhr Heaney ihn an.

Jack blickte zu Theo und bedeutete ihm, dass er draußen mit ihm reden wollte.

»Wir kommen gleich wieder«, sagte Theo zu Heaney.

Sie mussten bis auf die Straße gehen, weil es im Saloon zu laut war.

»Heaney wird uns nicht helfen.« Jack sprach leise, während er sich eine Zigarette anzündete. »Also müssen wir sie selbst finden. Bottle Alley oder Blind Man’s Court, da muss sie irgendwo sein. Wir holen uns fünf oder sechs starke Männer und stürmen die Häuser dort. Selbst wenn sie nicht da ist, werden wir jemanden finden, den wir dazu zwingen können, uns zu sagen, wo sie ist. Wenn wir frühmorgens hingehen, dann schlafen alle noch ihren Rausch aus.«

»Ich war noch nie da unten«, sagte Theo kleinlaut, so als wäre das alles zu viel für ihn.

»Ich schon, und ich kenne mich aus.« Jack grinste ihn an, denn es gefiel ihm, dass er den Ton angeben konnte. »Ich weiß auch, welche Männer wir fragen können. Es dürfen weder Heaneys Leute noch Fingers’ sein. Wir wollen schließlich nichts weiter als unser Mädchen zurückholen.«

Theo schwieg für einen Moment. »Ich muss nach Hause und mich umziehen«, sagte er schließlich. »Können wir uns später treffen?«

»Um sechs an der Ecke Canal Street.« Theo nickte. »Was sollen wir Heaney sagen?«

»Nichts, er hat uns schließlich auch nichts erzählt«, erwiderte Jack wütend. »Aber danach wartet Ärger auf uns alle. Ich schätze, wir müssen vielleicht für eine Weile die Stadt verlassen.«