20
Beth lag steif in dem schmalen Bett, zu aufgewühlt, um zu schlafen. Es war sehr ruhig im Keller, aber wenn sie sich anstrengte, dann konnte sie von oben Gelächter und das Klimpern eines Klaviers hören.
Der Gedanke, dass diese Frauen ihre Körper an Männer verkauften, war schlimm genug, aber noch wütender war sie darüber, dass Theo sie hergebracht hatte, ohne sie vorzuwarnen.
Konnte es sein, dass er sie für zu dumm oder zu naiv hielt, um zu merken, was für ein Haus das hier war? Oder gab es einen teuflischeren Grund – plante er etwa, sie für dieses Geschäft zu rekrutieren?
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sie endlich Jacks und Sams Stimmen auf dem Flur hörte, aber sie nahm an, dass es nach ein Uhr morgens sein musste. Sie sprang aus dem Bett, warf sich nur schnell einen Schal über ihr Nachthemd und rannte barfuß in das Zimmer nebenan.
»Beth!«, rief Sam. »Wir hatten noch gar nicht mit dir gerechnet.«
Es war klar, dass beide getrunken hatten, denn sie standen unsicher auf den Füßen, und ihre Augen waren glasig.
Sie erzählte ihnen aufgeregt, was sie gesehen hatte und wie wütend sie darüber war, dass Theo ihr nichts erzählt hatte. »Hat er euch gesagt, was das hier für ein Haus ist, bevor ihr herkamt?«, fragte sie.
»Ja, hat er«, antwortete Jack ein bisschen verlegen. »Aber er hat erklärt, dass wir im Keller wohnen würden und nichts mit dem zu tun hätten, was da oben passiert. Wir benutzen nicht mal den Eingang, wir gehen durch die Kellertür.«
»Reg dich nicht auf, Schwesterchen«, sagte Sam und lallte dabei ein bisschen. »Es ist nur ein Ort, an dem wir bleiben, bis wir etwas anderes finden, und wir haben auch schon Arbeit. Außerdem ist es ja nicht so, dass du noch nie Huren begegnet wärst. Kate und Amy waren deine Freundinnen.«
Beth war in ihrer Naivität davon ausgegangen, dass Sam nicht ahnte, womit ihre Freundinnen in New York ihr Geld verdienten, und sie war verlegen deswegen. »Aber Theo hat es mir nicht gesagt«, jammerte sie.
»Geh wieder ins Bett«, verlangte Sam ungeduldig. »Ja, Theo ist ein kleiner Schuft. Warum, glaubst du, habe ich dich so ungern bei ihm gelassen? Aber wir haben ein Dach über dem Kopf und einen Job, und alles ist gut. Wir reden morgen weiter.«
Beth sah Jack flehend an, aber er zuckte nur mit den Schultern. »Es gibt schlimmere Orte als Bordelle«, meinte er.
Es war am nächsten Morgen gerade hell geworden, als Beth Theos Stimme hörte. Es klang, als wenn er sich oben in der Küche mit jemandem unterhielt. Voller Wut, dass er sie nicht nur betrogen, sondern auch noch ihren Bruder und ihren Freund korrumpiert hatte, zog sie sich an und rannte nach oben.
Er saß ruhig am Tisch, trank eine Tasse Kaffee und redete mit Pearl. Sein zerzaustes Haar und der dunkle Schatten auf seinem Kinn bewiesen, dass er die ganze Nacht aus gewesen war.
»Wie konntest du mir das antun?«, fuhr sie ihn an, bevor er ihr einen guten Morgen wünschen konnte. »Du hast mich glauben lassen, dass du mich an einen anständigen Ort bringst. Das hier ist ein Bordell!«
Es war ihr egal, ob sie Pearl damit beleidigte, und als er über ihre Entrüstung lachte, wollte sie ihm in sein hübsches Gesicht schlagen.
»Jetzt komm schon, Beth«, sagte er und klopfte auf den Stuhl neben sich, damit sie sich zu ihm setzte. »Glaubst du wirklich, dass anständige Leute jemanden aufnehmen würden, die auf der Flucht vor New Yorker Schlägertypen sind?«
Das war etwas, das Beth nicht bedacht hatte, und es nahm ihr den Wind aus den Segeln.
»Ich glaube, du solltest sehr dankbar sein, dass eine so nette Person wie Pearl das Risiko eingegangen ist, sich Ärger einzuhandeln«, fügte er tadelnd hinzu.
Beth blickte Pearl an, die immer noch ihr Nachthemd und eine kleine Spitzenhaube über dem Haar trug. Ihr freundliches Gesicht sah besorgt aus, und Beth schämte sich ein bisschen für ihren Ausbruch, denn die Frau hatte sie gestern Abend so herzlich empfangen. Außerdem schien Pearl auch nicht die Haushälterin, sondern die Besitzerin dieses Hauses zu sein. »Du hättest mich warnen können«, sagte sie. »Es war so ein Schock.«
»Du hättest so schlau sein können, es selbst zu merken.« Theo seufzte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Du wurdest monatelang von Heaney bezahlt, du hast in einem Laden gearbeitet, in dem die meisten der New Yorker Huren ihre Kleider kaufen, ich dachte wirklich, das hätte dir die Augen für die Realität geöffnet. Außerdem hast du deine eigene Anständigkeit eingebüßt, als du das erste Mal öffentlich aufgetreten bist.«
Beth starrte ihn einen Moment lang an, weil sie kaum glauben konnte, was er da sagte, aber dann, als ihr klar wurde, dass er vermutlich recht hatte, brach sie in Tränen aus.
Es war Pearl, die zu ihr kam, um sie zu trösten.
»Na, na, nun regen Sie sich nicht auf«, sagte sie und drückte Beth gegen ihren ausladenden Busen. »Hier wird Ihnen nichts passieren, Sie müssen den Mädchen nicht mal begegnen, wenn Sie das nicht möchten. Aber wenn Sie mit Ihrem Geigenspiel Geld verdienen wollen, dann müssen Sie damit leben, dass Sie als leichtes Mädchen angesehen werden.«
»Aber warum?«, schluchzte Beth. »Niemand denkt schlecht über einen Mann, der ein Instrument spielt. Ich bin kein leichtes Mädchen, ich liebe nur Musik.«
»Es ist eine Männerwelt, Schätzchen. Tänzerinnen, Sängerinnen, Schauspielerinnen und Musikerinnen – sie sind alle gebrandmarkt«, tröstete Pearl sie. »Sie können Miss Prüde-ich-gehe-jeden-Sonntag-in-die-Kirche sein, aber dann dürfen sie auch nur langweilige Kleider tragen, müssen sich einen anständigen Job suchen und werden ein langweiliges Leben führen. Aber wenn Sie gerne Miss Frech, die Geigenspielerin, sein wollen, die bis mittags schläft und jede Menge Spaß hat, dann müssen Sie lernen, nicht auf das zu hören, was andere über Sie sagen.«
»Wofür wirst du dich entscheiden, Beth?«, fragte Theo. »Ich habe dir nämlich für heute Abend ein Debüt organisiert.«
Beth löste sich aus Pearls Armen, wischte sich über die Augen und blickte in die seinen dunklen in der Hoffnung, Liebe darin zu entdecken. Sie konnte Belustigung darin sehen, aber das war alles.
»Dann schätze ich, dass ich spielen muss«, sagte sie leichthin. »Es wäre nicht richtig, dich im Stich zu lassen, nachdem du dir so viel Mühe gegeben hast.«
Vielleicht würde er sie eines Tages lieben, wenn sie ihn weiter amüsierte.
»So, hier, Schätzchen«, sagte Pearl, als sie Beth ihr rotes Kleid reichte, das sie für sie gebügelt hatte. »Und ich habe einen sehr hübschen roten Haarschmuck, den du dir leihen kannst, wenn du magst.«
Es war sechs Uhr abends, und Beth war es gelungen, ihren Schock über die Art des Hauses zu überwinden, weil es niemand Netteren geben könnte als Pearl.
Nach ihren Worten heute Morgen war Theo in seinem Zimmer verschwunden, das im Keller etwas weiter den Gang hinunter lag. Pearl hatte ihr gesagt, dass Jack und Sam erst gegen Mittag wieder auftauchen würden, und wie es schien, waren auch die Mädchen oben Langschläfer.
Nachdem Beth sich richtig gewaschen und angezogen hatte, war sie nach oben gegangen, um Pearl ihre Hilfe bei der Hausarbeit anzubieten, weil sie wegen ihrer unhöflichen Bemerkung immer noch ein schlechtes Gewissen hatte. Pearls breites Lächeln zeigte ihr zwar, dass sie ihr Angebot zu schätzen wusste, aber sie kochte prompt eine weitere Kanne Kaffee und machte Beth klar, dass sie sich lieber nur unterhalten anstatt sich um den Haushalt kümmern wollte.
Beth hatte in Liverpool viele Schwarze gesehen, und noch mehr, seit sie nach Amerika gekommen war, aber Pearl war die Erste, mit der sie wirklich sprach. Sie war intelligent, lustig und freundlich. Selbst ihrer Stimme hörte man gerne zu, denn sie war tief und melodiös, mit einem ganz leichten Südstaaten-Akzent.
Aber das Erstaunlichste an ihr war ihr Alter. Ihr Gesicht war faltenlos, sie bewegte sich trotz ihres Bauchs elegant und schnell, und Beth glaubte, dass sie nicht älter als vierzig sein konnte. Aber wenn die Geschichten stimmten, die sie ihr erzählte, und Beth glaubte sie, dann war sie über sechzig, und sie gestand Beth lachend, dass sie nur deswegen einen Turban oder eine Kappe trug, weil ihr Haar schneeweiß war.
Sie erzählte Beth, dass sie als Sklavin in Mississippi geboren worden sei, aber dass sie und ihre Mutter geflohen seien, als sie dreizehn war, und dass ein paar Abolitionisten in Kansas ihnen geholfen hätten.
»Die Leute fuhren in Güterzügen nach Westen«, erklärte sie. »Es waren fast alles gute Leute, und wir gingen mit ihnen und halfen ihnen mit ihren Kindern, der Wäsche und dem Kochen im Austausch gegen Essen. Wir wollten bis nach Oregon, aber plötzlich hieß es, man hätte in San Francisco Gold gefunden, und ganz viele Leute sprangen aus dem Zug und wollten stattdessen dorthin gehen. Ma fand, dass wir das auch tun sollten, weil wir dort als Köchinnen Arbeit finden würden.«
Beth hörte fasziniert zu, während Pearl beschrieb, wie sie auf dem Weg nach Kalifornien durch die Sierra Nevada gewandert und vom Winter überrascht worden waren. »Es war so kalt, und der Schnee lag so hoch, dass wir dachten, wir würden dort sterben, wie einige andere Leute«, sagte sie. »Aber wir gelangten irgendwie nach San Francisco. Es gab nicht allzu viele Frauen dort, und es war ein wilder, rauer Ort, aber Ma hatte recht, Köchinnen wurden dringend gebraucht. Wir stellten direkt nach unserer Ankunft unser Zelt auf, kochten einen großen Topf Stew und verkauften es für zehn Cent die Schüssel. Die Leute rissen es uns aus der Hand.«
Beth erwartete, dass Pearl ihr sicher gleich gestehen würde, dass sie und ihre Mutter es irgendwann einfacher gefunden hatten, statt Stew ihre Körper zu verkaufen, aber sie irrte sich. Sie hatten weiter gekocht und mit der Zeit sowohl die Preise erhöht als auch ihr Angebot an Speisen vergrößert. Sie ließen sich von den Goldgräbern für das Waschen und Ausbessern ihrer Kleidung bezahlen und eröffneten sogar ein »Hotel«.
»Das war ganz sicher ein Hotel, wie du’s noch nie gesehen hast.« Pearl kicherte. »Nur ein großes Zelt, und unsere Gäste bekamen Strohsäcke auf den Boden gelegt und brachten ihre Decken selbst mit. Wir bauten auch ein Badehaus dahinter. Ich konnte die Eimer mit dem heißen Wasser kaum vom Feuer heben, weil sie so schwer waren. Aber wir verdienten Geld, mehr, als wir es uns je erträumt hätten. 1852 ließen wir ein richtiges Hotel bauen, ein tolles Haus mit Möbeln und Spiegeln aus Frankreich, aber inzwischen waren vornehme Frauen angekommen, und die wollten nicht in einem Hotel wohnen, das von Negern geführt wurde. Sie waren wirklich gemein zu uns; wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie uns aus der Stadt gejagt. Also machte Ma aus dem Hotel ein Bordell, um ihnen eins auszuwischen.«
Sie lachte lauthals darüber, und Beth stimmte mit ein, denn inzwischen sah sie das Ganze mit Pearls Augen. »Aber dadurch wurdest du doch bestimmt noch schneller aus der Stadt gejagt, oder?«, fragte sie lachend.
Pearl stemmte die Hände in ihre breiten Hüften und rollte mit den Augen. »Ma wusste eine Menge über Männer, vor allem über die feinen Pinkel, die der Gemeinde vorstanden. Sie stellte die Art von Mädchen an, hinter denen diese Männer her waren und die sie winselnd wiederkommen ließen. Die vornehmen Damen kreischten, dass unser Haus geschlossen werden müsse, und ihre Männer nickten und stimmten ihnen zu, aber dieselben Männer kamen durch den Hintereingang, wann immer sie die Gelegenheit dazu hatten.«
Beth konnte verstehen, warum Männer lieber mit Pearl und ihrer Mutter zusammen waren. Sie konnte sich diese kaltherzigen Frauen mit den scharfen Gesichtszügen genau vorstellen, wie sie sich beim Nachmittagstee das Maul zerrissen, während sich ihre aufgeblasenen, aber sexhungrigen Ehemänner woanders amüsierten. »Und was war mit dir?«, fragte sie. »Was war deine Rolle bei dieser ganzen Sache?«
»Tagsüber putzte ich die Zimmer, kochte und wusch, aber abends sang ich in der Bar«, sagte Pearl. »Ich war nie eine Hure. Ich will nicht behaupten, dass ich keine Männer im Bett gehabt hätte. Aber ich habe nie Geld dafür genommen.«
Beth glaubte ihr. »Kannst du gut singen?«, fragte sie.
»Das haben die anderen behauptet«, erwiderte Pearl bescheiden. »Ich habe das Singen schon als kleines Kind geliebt; für mich war es so selbstverständlich wie Atmen. Ich musste einfach singen – es war, als würde mein Geist fliegen können. Aber ich schätze, so geht es dir auch mit deiner Geige. Ich war damals jung und hübsch, ich liebte die Aufmerksamkeit und die Kleider aus Seide und Satin, ich liebte es, dass die Männer mich ansahen, als würden sie mich lieben. Ich hatte es weit gebracht für eine barfüßige und hungrige Sklavin, die hilflos ihrem Herrn ausgeliefert war.«
Beth nahm an, dass Pearls Mutter vermutlich mit ihrer Tochter geflohen war, um sie vor diesem Herrn zu beschützen. Obwohl Beth nicht so harte Zeiten erlebt hatte wie Pearl, verstand sie die Sehnsucht, im Rampenlicht zu stehen. »Genauso fühle ich mich auch, wenn ich spiele«, stimmte sie zu. »Ich weiß, ich war keine Sklavin, aber man kann trotzdem durch seine Herkunft und die Art und Weise, wie man erzogen wurde, eingesperrt sein.«
»Ehrbarkeit.« Pearl nickte heftig. »Ich bin noch nie ehrbar gewesen, und ich werde es nie sein. Aber ich werde von meinen Mädchen respektiert und von den Männern, die herkommen. Mehr brauche ich nicht.«
Sie erzählte Beth, dass ihre Mutter von einer Kutsche überfahren und verkrüppelt worden war und dass sie glaube, dass es kein Unfall gewesen war. Ihre Mutter konnte nie wieder laufen, und Pearl musste sich um sie und um das Geschäft kümmern. »Aber ich blieb, bis sie zehn Jahre später starb. Ich wollte die nicht gewinnen lassen«, erklärte sie stolz. »Dann habe ich den Laden verkauft und kam her und kaufte diesen.«
»Warum hier?«, fragte Beth.
Pearl lächelte. »Wegen einem Mann, Schätzchen, warum sonst wäre ich durch das ganze Land gereist?«
»Ist es Frank, der Freund, den Theo erwähnte?«
Pearl nickte. »Er ist gut zu mir und ein echter Gentleman, aber ein Spieler und ein Charmeur wie Theo. Und jetzt hör gut zu, was ich dir sage! Träume niemals von ›Glücklich bis an ihr Lebensende‹. Das gibt es mit Männern wie Frank oder Theo nicht. Du kannst Spaß mit ihnen haben, aber du musst das, was du verdienst, und alles, was er dir gibt, gut im Auge behalten. Schenke ihm deinen Körper, aber nicht dein Herz, denn er wird es dir brechen.«
Beth wollte Pearl gerade bitten, das noch weiter auszuführen, als die Frauen runter in die Küche kamen. Die Blonde mit dem schmollenden Gesichtsausdruck war Missy, die beiden Brünetten waren Lucy und Anna, und die wunderschöne Rothaarige war Lola. Missy, Lucy und Anna waren nicht älter als achtzehn, Lola vielleicht dreiundzwanzig. Alle vier trugen Morgenmäntel und Hausschuhe, und ihre Gesichter waren blass, weil sie so wenig an die frische Luft kamen.
Beth spürte, dass sie nicht sehr glücklich darüber waren, eine fremde Frau in ihrer Mitte zu haben. Sie entschuldigte sich und ging zurück in den Keller, um zu sehen, ob Sam und Jack wach waren.
Das waren sie, aber beide hatten Kopfschmerzen vom Trinken am Abend zuvor. Jack ging in die Küche, um ihnen Kaffee zu holen und Beth die Gelegenheit zu geben, mit ihrem Bruder allein zu sprechen.
»Ich bin irgendwie über den Schock hinweg, dass wir in einem Bordell wohnen«, sagte sie vorsichtig. »Ich habe mich mit Pearl unterhalten, und ich mag sie. Ich schätze, letzte Nacht hatte ich einfach Panik, aber das war Theos Schuld. Er hätte mich vorwarnen können.«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, wie du wohl darauf reagieren würdest«, gestand Sam.
»Pearl hat mich die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen lassen«, erwiderte Beth. »Aber genug davon. Erzähl mir von euerm neuen Job.«
»Ich bin Manager im Bear, einem großen Saloon nur ein paar Straßen von hier«, sagte Sam. »Jack lernt alles von der Pike auf, die Bar und den Keller. Aber Frank Jasper, der Besitzer, hat auch mehrere Spielsalons, und er will mich dort einführen. Er ist toll, Schwesterchen, nicht so wie Heaney, ein echter Südstaaten-Gentleman.«
Beth lächelte. Sie fragte sich, ob er wusste, dass Frank Pearls Liebhaber war oder gewesen war. Irgendwie bezweifelte sie das, Sam war nicht so an Leuten interessiert wie sie. »Bezahlt er gut?«, erkundigte sie sich.
»Wir sind noch nicht lange genug da, um beurteilen zu können, wie es sich entwickeln wird«, antwortete er. »Aber er hat uns beiden gestern Abend zehn Dollar gegeben und gemeint, dass er im neuen Jahr darüber mit uns sprechen würde. Wir müssen auch für unsere Unterkunft hier nichts bezahlen, und Pearl ist eine gute Köchin.«
»Theo sagt, er hätte heute Abend einen Auftritt für mich organisiert. Meint er damit den Saloon, in dem ihr arbeitet?«
»Ich schätze ja, weil Frank, als wir ankamen, sofort wissen wollte, wann du kommst. Offenbar hat Theo ihm schon vor einiger Zeit von dir erzählt. Du wirst gut ankommen, Schwesterchen, es ist ein guter Laden, da geht es nicht so wild zu wie bei Heaney.«
»Wie verstehst du dich denn mit den Mädchen von oben?« Beth hob fragend die Augenbrauen.
Sam grinste schelmisch. »Pearl lässt es sie nicht für umsonst machen, das hat sie schon an unserem ersten Abend klargestellt. Und außerdem sehen wir sie kaum. Wir gehen nur rauf, wenn Pearl uns zum Essen ruft.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Beth erzählte ihm, wie es über Weihnachten gewesen war.
»Ich hoffe, Theo hat sich benommen.« Sam schnaubte. »Ich mag ihn, aber ich traue ihm nicht.«
»Pearl scheint viel von ihm zu halten.«
»Sie mag einfach Männer«, sagte Sam überlegen. »Und ich schätze, in ihrem Alter muss sie sich keine Sorgen mehr darüber machen, ob man einem von ihnen trauen kann oder nicht. Aber jetzt, wo du da bist, werden Jack und ich auf dich aufpassen.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen, danke schön«, erklärte Beth, schwächte aber ihre Bemerkung mit einem Lächeln ab. »Ich lasse dich jetzt allein, damit du dich anziehen kannst, und vielleicht könntest du mir und Jack ein bisschen die Gegend zeigen, solange es noch hell ist. Ich möchte nicht so blass werden wie die Mädchen oben.«
Der Haarschmuck, den Beth von Pearl bekommen hatte, war ein mit roten Federn und Perlen besetzter Kamm. »Frank hat ihn mir geschenkt, als wir uns in Frisco kennenlernten«, sagte sie, als sie ihn Beth oben in der Küche ins Haar steckte. »Er war mein Glücksbringer, ich trug ihn immer bei meinen Auftritten. Du siehst damit noch hübscher aus als ich, und ich glaube, Frank wird sich freuen, ihn wiederzusehen. Er weiß, dass ich dich mag.«
Beth ging in den Flur und betrachtete sich in dem großen Spiegel. Der stramme Spaziergang durch die Stadt mit Sam und Jack hatte Farbe in ihre Wangen gebracht, und die Art, wie Pearl ihr einige Locken seitlich mit dem Kamm hochgesteckt hatte, verlieh ihr ein elegantes Aussehen. Sie fühlte sich immer ein bisschen unwohl dabei, das rote Kleid anzuziehen, weil es so tief ausgeschnitten war, aber die Federn im Haar bildeten ein schönes Gegengewicht.
Pearl beobachtete Beth von der Küche aus und lächelte in sich hinein. Das Mädchen sah umwerfend aus mit seinen schwarzen Locken, die auf die zarte Haut seiner Schultern fielen. So ein hübsches, ausdrucksvolles Gesicht mit großen Augen, vollen Lippen, genau die Art von Frau, die sich jeder Mann wünschte.
Sie wünschte, sie könnte Beth heute Abend begleiten, um sie spielen zu hören, aber ihr Platz war hier. Und Frank würde ihr ja davon berichten.
Da Sam und Jack schon früher zur Arbeit gegangen waren, begleitete Theo Beth in den Bear. Er trug seine normalen Sachen: ein weißes Hemd, eine Fliege, einen tadellos sitzenden Frack, einen Zylinder und einen schweren, satingefütterten Mantel, der ihm offen über die Schultern hing.
»Der Saloon heißt Bear, weil sich der Besitzer einer alten Kneipe in der Nähe einen Bären im Hinterhof hielt«, erzählte Theo, während sie die Straße entlanggingen. »Wenn jemand Ärger machte, dann drohte er ihm, ihn dem Bären vorzuwerfen.«
Beth wusste, dass er nervös war, denn er erzählte ihr oft alte Geschichten, um seine Gefühle zu verbergen. Sie wusste nicht, ob er befürchtete, dass sie heute Abend die Erwartungen vielleicht nicht erfüllen konnte oder dass sie sich erneut über das Bordell beklagen würde. Oder vielleicht war er auch nur angespannt, weil er später Karten spielen würde.
Sie fragte nicht nach, denn sie war selbst so aufgeregt, dass ihr ganz übel war. Ihr Verstand sagte ihr, wenn sie im Heaney’s spielen konnte, dann konnte sie das überall. Aber damals hatte sie niemand angepriesen; wenn sie versagt hätte, dann hätte sie sich nur selbst blamiert. Sie wusste jedoch, dass Theo, Sam und Jack hier schon sehr von ihr geschwärmt hatten, also würden sie alle dumm dastehen, wenn ihr Auftritt eine Katastrophe war.
Ihr Magen zog sich heftig zusammen, als sie in den Bear gingen. Der Saloon war viel größer als das Heaney’s, und die hohe Decke und die schmalen Fenster, die zweieinhalb Meter über dem Boden lagen, deuteten darauf hin, dass das Gebäude eine ehemalige Lagerhalle war, in der ein neuer Holzfußboden verlegt worden war. Eine lange Bar verlief an einer Seite; an der anderen standen auf einem breiten Podest hinter einem niedrigen Geländer Tische und Stühle. Die Bühne lag am anderen Ende gegenüber der Tür. Neues elektrisches Licht war installiert worden und funkelte in den großen Spiegeln hinter der Bar.
Es war schon sehr voll, die Männer standen dicht an dicht an der Bar und warteten darauf, von den Barkeepern bedient zu werden, und zwei zusätzliche Kellner brachten Bestellungen zu denen, die auf dem Podest saßen. Es herrschte auch eine ganz andere Atmosphäre als im Heaney’s, vielleicht, weil es mehr Frauen gab. Nicht die Art von leichten Mädchen, die Beth sonst in den Saloons gesehen hatte, sondern normale, gut und dezent gekleidete Frauen, die in Büros oder Geschäften arbeiteten. Sie hatte Angst, vor ihnen zu spielen, denn sie würden das sicher missbilligen.
Sie konnte Sam und Jack hinter der Bar bedienen sehen, aber sie schienen sie nicht zu bemerken.
»Ich bringe dich jetzt zu Frank«, sagte Theo, nahm ihren Arm und führte sie hastig an den Tischen vorbei.
Beth umklammerte mit beiden Händen ihren Geigenkasten, als sie durch eine Tür neben der Bühne und einen kurzen Flur hinuntergingen und vor einer weiteren Tür stehen blieben, an die Theo klopfte.
»Er ist ein netter Mann. Hab keine Angst«, flüsterte er.
Frank Jasper war ein riesiger, bulliger Mann mit einer Glatze, einem dicken Nacken, einer breiten Nase und pockennarbiger Haut. Er sah aus wie ein Mann, der sich auf die harte Tour nach oben gearbeitet hatte, aber sein eleganter Abendanzug zeugte von seinem Erfolg.
»Das ist also unsere kleine Geigenspielerin«, sagte er zu Theo, nachdem er Beth gemustert hatte. »Ich hoffe sehr, dass sie so gut ist, wie du behauptest, sonst werfen die Leute sie dem Bären vor.«
Beth hatte damals noch keine Ahnung, dass Frank die Angewohnheit hatte, den Bären, nach dem sein Saloon benannt war, als Witz zu benutzen. Sie glaubte, er wollte damit sagen, dass die Gäste hier sehr schwer zufriedenzustellen waren, und zitterte wie Espenlaub. Die Größe des Saloons bereitete ihr ebenfalls Sorgen – sie war nicht sicher, ob man sie über den Lärm von ein paar Hundert Gästen überhaupt hören würde.
Die Männer ließen sie für die letzten nervenaufreibenden zwanzig Minuten in Franks Büro allein. Frank hatte ihr nicht gesagt, wie lange sie spielen sollte oder was für Nummern, und während sie wartete, beschloss sie, dass sie lieber wieder Wäschemagd sein wollte, als diese Art von Panik zu durchleiden. Sie überlegte gerade, ob es irgendwo eine Hintertür gab, durch die sie verschwinden konnte, als Jack hereinkam, um sie zu holen.
»Ich habe zu viel Angst«, gestand sie. »Ich werde nicht eine Note spielen können.«
Sogar er sah fremd aus mit seiner gestreiften Barkeeper-Schürze und der Fliege, und der Lärm, der aus dem Saloon drang, wurde mit jeder Minute lauter.
Jack legte ihr den Arm um die Schultern. »Du schaffst das schon, Beth, du bist da oben nicht allein, Frank hat einen Kontrabassspieler und einen Pianisten für dich engagiert.«
»Hat er?« Beth fühlte sich sofort sicherer. »Aber warum hat er mir das nicht gesagt?«
»Vielleicht wollte er sehen, ob du die Nerven verlierst«, erwiderte Jack mit einem Grinsen. »Du gehst jetzt da rein und zeigst ihnen, was du draufhast.«
Beth schlüpfte aus ihrem Mantel und nahm die Geige und den Bogen vom Tisch, wo sie beides hingelegt hatte. »Ich bin bereit.«
Als Jack die Tür zur Bar öffnete, hörte sie jemanden eine Glocke läuten, um für Ruhe zu sorgen.
Dann sprach Frank, begrüßte die Gäste im Bear, und Jack hielt Beth zurück, bedeutete ihr, dass sie warten solle, bis sie vorgestellt wurde. »Die meisten von euch kennen bereits Herb am Klavier und natürlich Fred am Kontrabass«, sagte Frank. »Aber einige von euch haben gesagt, dass sie auch jemanden auf der Bühne sehen wollen, der gut aussieht. Also spielt heute Abend, zum ersten Mal in Philadelphia, ein lebendes englisches Püppchen für uns. Ich habe gehört, dass sie in New York ›Gypsy‹ genannt wurde, weil sie mit ihrer Geige alle Füße wippen lässt. Ein Applaus für Miss Beth Bolton!«
»Geh«, sagte Jack und gab ihr einen Schubs in Richtung Bühnenstufen.
Wieder Applaus zu hören war wie ein großer Schluck Rum, und Beth rannte die Stufen hinauf und verbeugte sich vor dem Publikum, dann wandte sie sich schnell an den Pianisten, einen älteren Mann mit einem traurigen Gesicht. »›Kitty O’Neill’s Champion‹?«, fragte sie.
»Sicher«, antwortete der Mann mit einem Lächeln und nickte dann dem Kontrabassspieler zu.
Die beiden Musiker spielten eine Einleitung, und Beth lächelte das Publikum an, während sie sich die Geige fest unter das Kinn klemmte und den Bogen hob. Die Angst war jetzt weg, sie stand wieder auf der Bühne, wo sie hingehörte, und spielte einen ihrer irisch-amerikanischen Lieblings-Folksongs. Sie würde von jetzt an Miss Frech sein und das Herz jedes Mannes im Saloon erobern.
Frank nahm die Zigarre aus dem Mund und beugte sich zu Theo über den Tisch. »Diesmal hast du mir keinen Bären aufgebunden – sie ist heiß.«
Theo nickte und lächelte. Seine Brust war vor Stolz geschwellt, denn Beth war nicht nur heiß, sie setzte die ganze Hütte in Flammen. Er hatte Angst gehabt, dass sie nach der Tortur im Keller ihr Feuer verloren haben könnte, aber sie spielte sogar noch besser als im Heaney’s.
Frank und er saßen an einem Tisch auf dem Podest an der Seite des Saloons und hatten eine exzellente Sicht auf die Bühne. Beth wirkte dort sehr klein, wie eine scharlachrote Flamme in ihrem roten Kleid. Sie hatte die Menge schon mit »Kitty O’Neill« erobert, aber dann hatte sie »Tom Dooley«, »Days of ’49« und »The Irish ’69« gespielt, alles Lieder, die Amerikanern sehr viel bedeuteten. Aber richtig gut kamen ihre schnellen irischen Jigs an, und unten im Zuschauerraum konnte man Hunderte von Köpfen nicken und Füße im Takt klopfen sehen.
Theo grinste Frank an. »Dann habe ich die hundert Mäuse gewonnen?«
»Sicher, du alter Gauner. Sie ist gut. Ich schätze, Pearl mag sie auch, sie trägt ihre Federn.«
Theo nahm seinen Whiskey und trank ihn in einem Zug aus. Er war ein zufriedener Mann: Er hatte seine Wette gewonnen, Sam und Jack hatten sich als Gewinn herausgestellt, und er konnte sich an alle Spieltische in Philadelphia setzen. Und seine kleine Zigeunerin verführen.