9

»Mam, Mam«, kreischte Kathleen eines Morgens um sechs. Es war Anfang Februar, bitterkalt und noch dunkel, und die Herrschaften schliefen noch. Mrs Bruce war gerade runter in die Küche gegangen, um Wasser für den Tee aufzusetzen.

Sie rannte sofort wieder nach oben und fand Kathleen im Türrahmen zu Mr Langworthys Zimmer. Kathleens erste Aufgabe als Zimmermädchen war es, jeden Morgen die Kamine in den Zimmern anzuzünden, und als sie den entsetzten Gesichtsausdruck des Mädchens sah, ahnte Mrs Bruce, dass der alte Mann tot war.

»Sein Mund und seine Augen standen offen«, schluchzte Kathleen. »Ich fragte ihn, ob er eine Tasse Tee wolle. Aber ich glaube, er ist tot.«

»Reiß dich zusammen«, sagte Mrs Bruce scharf. Sie wollte gerade hinzufügen, dass Kathleen hätte runterkommen und es ihr leise sagen sollen, damit die Herrschaften nicht aufwachten, aber es war zu spät – beide Schlafzimmertüren öffneten sich gleichzeitig. Mr Edward trug sein langes Nachthemd, und die Herrin hatte sich einen Schal eng um die Schultern gelegt.

»Ist es mein Vater?«, fragte Mr Edward.

Mrs Bruce nickte und ging in das Zimmer des alten Mannes. Kathleen hatte die Petroleumlampe auf den Kaminsims gestellt, sodass es genug Licht gab, um genau das zu sehen, was sie gesehen hatte. Er lag merkwürdig da, sein Kopf direkt am Rand der Matratze, als habe er versucht aufzustehen.

Mrs Bruce ging zu ihm und stellte fest, dass er tatsächlich tot war. Sie hob ihn zurück auf das Kissen und schloss ihm Augen und Mund. »Dann ist er verstorben?«, fragte Mr Edward vom Türrahmen aus. Seine Frau stand neben ihm, als hätten sie beide Angst, hereinzukommen.

»Ich fürchte ja«, sagte Mrs Bruce und richtete das Bettlaken. »Es tut mir so leid. Aber Sie beide sollten wieder ins Bett gehen, sonst holen Sie sich noch den Tod. Ich schicke Kathleen mit einer Nachricht zum Doktor.«

Als Beth um neun Uhr mit Molly ins Haus kam, saßen Mrs Bruce, die Köchin und Kathleen mit gramerfüllten Gesichtern in der Küche.

Mrs Bruce erklärte ihr, was passiert war, und sagte, dass der Arzt gerade oben bei den Langworthys sei und den Totenschein für den alten Mann ausstelle. »Eigentlich ist es am besten so«, seufzte sie. »Er hatte kein richtiges Leben mehr, und die Herrin muss dann nicht mehr so schwer arbeiten. Aber es ist trotzdem traurig, dass er jetzt nicht mehr da ist.«

»Seine Augen haben mich an die von ’nem Fisch erinnert, nein, wirklich«, platzte Kathleen heraus. »Und als ich seine Hand angefasst habe, war sie kalt wie Eis.«

»Das reicht jetzt, Kathleen«, erklärte Mrs Bruce streng. »Ich weiß, dass es ein Schock für dich war, ihn zu finden, aber wir müssen ihm alle Respekt zollen und die Herrschaften unterstützen.«

Beths Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte Angst vor dem alten Mann gehabt, als sie zum ersten Mal an seinem Bett sitzen musste. Sein Gesicht war verzerrt, weil er halbseitig gelähmt war, und er war so dünn, dass er fast wie ein Skelett wirkte. Wenn er zu sprechen versuchte, machte er merkwürdige Mundbewegungen, und die Geräusche, die er machte, waren unverständlich und beängstigend. Aber sie hatte sich daran gewöhnt, und nachdem sie ihm ein paar Mal vorgelesen hatte, fing sie an zu verstehen, was er ihr zu sagen versuchte. Er konnte Freude mit den Augen ausdrücken, Verärgerung mit einem Winken seiner funktionierenden Hand, und manchmal konnte sie richtige Laute aus dem Grunzen heraushören, und wenn sie sie wiederholte, nickte er.

Sie spürte seine Freude, wenn sie zu ihm kam, wusste, dass er die Geschichten genoss, und je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto mehr empfand sie für ihn. In ihrer Vorstellung musste es das Schlimmste auf der Welt sein, bei vollem Bewusstsein in einem Körper gefangen zu sein, den man nicht kontrollieren konnte, die Erniedrigung zu ertragen, gefüttert und gewickelt zu werden wie ein Baby, und niemandem mitteilen zu können, dass man wusste, was um einen herum passierte.

»Weine nicht, Beth«, sagte Mrs Bruce und hob Molly auf, die ihre große Schwester ängstlich ansah. »Er ist jetzt an einem besseren Ort, sein Leiden ist vorbei, und dort kann er wieder mit seiner Frau zusammen sein.«

Ein Sargtuch der Trauer legte sich über das Haus, das jeden Tag schwerer zu werden schien, während die Herrschaften die Beerdigung organisierten.

Beth war die Atmosphäre nur allzu vertraut, und zusätzlich zu den verstörenden Erinnerungen an den Tod und die Beerdigung ihrer Eltern war da die nagende Sorge, was jetzt aus ihr werden würde. Ohne die Wäsche des alten Mannes gab es für sie nicht viel zu tun. Mrs Bruce, die Köchin und Kathleen konnten das Haus auch ohne sie wie ein Uhrwerk führen. Würde Mr Edward jemandem Lohn zahlen, den er nicht länger brauchte?

Beths siebzehnter Geburtstag und Sams achtzehnter Geburtstag kamen und gingen innerhalb einer Woche, ohne dass sie einen davon feierten. Beth war damit beschäftigt, der Köchin dabei zu helfen, die Torten und das Gebäck für die Beerdigung vorzubereiten, und einige wenige Änderungen an den Trauerkleidern vorzunehmen, die ihre Herrin getragen hatte, als ihre Schwiegermutter gestorben war.

Am Morgen der Beerdigung wachte Beth auf, als es noch dunkel war, aber draußen gab die Lampe am Ende der Stallungen genug Licht, um ihr zu zeigen, dass es während der Nacht geschneit hatte. Sie setzte sich für ein oder zwei Minuten im Bett auf und blickte aus dem Fenster. Draußen sah alles wunderschön aus, denn der Dreck, der Müll und die Hässlichkeit lagen versteckt unter einer Decke aus reinem, glitzerndem Weiß. Es erinnerte sie an den Schnee vor einem guten Jahr, als Molly geboren wurde. Beth erinnerte sich daran, mit dem Baby auf dem Arm am Küchenfenster gestanden und sich darüber gewundert zu haben, dass die Gasse hinter dem Haus und die Dächer plötzlich wie verzaubert aussahen.

Nur ein paar Tage später war ihre Mutter gestorben, und der Regen hatte den Schnee weggewaschen. Sie hatte aus demselben Fenster geblickt und gesehen, dass alles wieder grau, trostlos und hässlich geworden war. Es war ihr damals bedeutungsvoll vorgekommen, wie eine Warnung vielleicht, dass Glück und Schönheit sehr vergänglich sein konnten.

So viel war seitdem passiert. So viel Verzweiflung, Verletzung und Sorge, dann schließlich der Verlust ihres Zuhauses durch das Feuer. Doch durch das Feuer waren sie hierhergekommen und hatten wieder ein gewisses Maß an Sicherheit und Glück gefunden.

Sam und sie hatten gezwungenermaßen schnell erwachsen werden müssen, aber das vielleicht Wichtigste war, dass Beth gelernt hatte, sich auf nichts zu verlassen. Nicht darauf, dass die Freundlichkeit der Langworthys anhalten würde, nicht darauf, dass sie diesen Job und diese Wohnung so lange behalten durfte, wie sie beides brauchte. Sie konnte sich nicht einmal darauf verlassen, dass Sam für immer bei ihr bleiben würde.

Nur auf sich selbst konnte sie sich wirklich verlassen. Aber das war ein einsamer, kalter Gedanke.

Es wurde nicht erwartet, dass Sam zur Beerdigung kam, weil er den alten Mann nur einmal an Weihnachten gesehen hatte, als er ihn ins Esszimmer trug. Er musste zur Arbeit, deshalb legte sich Beth einen Schal um die Schultern und schlich ins Wohnzimmer, um die Petroleumlampe anzuzünden, das Feuer im Ofen zu schüren und Wasser aufzusetzen.

Sam lag zusammengerollt auf dem schmalen Bett und sah so friedlich und sorglos aus. Es war ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass der Tod des alten Mr Langworthy ihnen neue Sorgen bereiten konnte, und sie zögerte, ihre Ängste auszusprechen, weil er so glücklich wirkte, seit er im Adelphi arbeitete.

»Es wird Zeit aufzustehen, Sam«, sagte sie leise und rüttelte an seinem Arm.

Er öffnete die Augen und gähnte. »Jetzt schon! Es fühlt sich an, als hätte ich erst ein oder zwei Stunden geschlafen.«

»Es ist sechs Uhr, und es hat geschneit«, entgegnete Beth und war überrascht, wie gut er inzwischen aussah. Sein Gesicht war voller geworden, er hatte sich einen kleinen Schnurrbart stehen lassen, und seine langen Wimpern lenkten die Aufmerksamkeit auf seine wundervollen blauen Augen. Sie spürte einen kleinen Stich im Herzen, weil er über kurz oder lang eine Freundin finden würde und sie dann an die zweite Stelle rückte.

Er lächelte, sprang aus dem Bett und rannte wie ein Kind zum Fenster. Weil er nur seine Wollunterwäsche trug, sah er ein bisschen lächerlich aus. »Ich liebe Schnee.« Er drehte sich grinsend zu ihr um. »In Teilen von Amerika kommt der Schnee schon im November und bleibt bis zum Frühling liegen.«

»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen«, sagte Beth neckend und kniete sich hin, um den Aschekasten unter dem Herd hervorzuziehen. Das stimmte nicht – sie liebte Schnee genauso sehr wie er, und eine ihrer schönsten Kindheitserinnerungen war das Rodeln mit ihm –, aber sie war seine ewigen Anspielungen auf Amerika leid. »Das Wasser im Kessel müsste jetzt warm genug sein, dass du dich waschen und rasieren kannst. Dein sauberes Hemd hängt an der Schlafzimmertür.«

»Du wirst langsam eine alte Jungfer«, sagte er vorwurfsvoll.

Beth, Kathleen und die Köchin konnten in St. Brides nur noch ganz hinten stehen, denn sie waren die Letzten in der Prozession der Trauernden gewesen, die den sechs Kutschen mit den Familienmitgliedern auf dem Weg zur Kirche gefolgt waren, und jetzt waren alle Reihen besetzt. Mit dem dicken Schnee als Hintergrund für die schwarzen, federgeschmückten Pferde und den Sarg mit den hoch aufgetürmten Blumen war es ein beeindruckendes Bild gewesen. Beth hatte erwartet, dass der Schnee viele Leute abhalten würde zu kommen, aber es sah aus, als wäre halb Liverpool anwesend.

Als das erste Lied, »Abide with Me«, gesungen war und die Gebete begannen, wanderten Beths Gedanken zurück zu Sams Bemerkung am Morgen. Sie nahm an, dass sie tatsächlich zu einer alten Jungfer geworden war. Alles, was sie tat oder woran sie dachte, drehte sich um Molly oder die Langworthys. Sie gab sich keine Mühe mit ihrem Aussehen, ihre Kleider waren aufgetragen, sie ging nie aus und sah sich keine Schaufenster mehr an, aber nur, weil sie nirgendwo hinging, wo sie die Sachen hätte tragen können.

Bevor ihr Vater gestorben war, hatte sie sich oft romantischen Tagträumen hingegeben, aber das tat sie nicht mehr. Es war sinnlos: Sie würde niemals zu einem Ball gehen oder zu Partys oder in einer Kutsche herumfahren und einen Pelzmantel und Diamanten tragen. Selbst die bescheideneren Träume, die Miss Clarkson in ihr geweckt hatte – Lehrerin zu werden oder Krankenschwester oder als Verkäuferin zu arbeiten –, kamen jetzt nicht mehr für sie infrage, weil sie sich um Molly kümmern musste.

In Wahrheit konnte sie sich nur noch in eine Traumwelt fliehen, wenn sie Geige spielte. Allein im Kutschenhaus konnte sie sich vorstellen, sie würde ein wunderschönes, farbiges Seidenkleid und glitzernde Nadeln im Haar und hübsche Schuhe an den Füßen tragen. Für ungefähr eine Stunde ließ die Musik sie schweben, und alle Pflichten fielen von ihr ab.

Als Reverend Bloom über Mr Langworthy zu erzählen begann, schreckte Beth aus ihren Gedanken auf.

»Theodore Arthur Langworthy wurde nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren«, sagte er. »Sein Vater war ein armer Bauer aus Yorkshire, und sein ältester Sohn sollte in seine Fußstapfen treten. Aber der junge Theodore hatte andere Pläne.«

Beth hatte nichts über Mr Langworthys Hintergrund gewusst, nicht einmal, dass sein Name Theodore gewesen war, und es fiel ihr schwer, sich den bettlägerigen alten Mann anders als krank und schwach vorzustellen.

»Maschinen faszinierten ihn früh, und er ging nach Liverpool, wo er eine Lehre zum Maschinisten machte«, fuhr Reverend Bloom fort. »Er war erst zweiundzwanzig, als er in dem Schuppen hinter dem Haus, in dem er wohnte, eine Wasserpumpe baute. Zehn Jahre danach arbeiteten fünfzig Männer für ihn und exportierten die Pumpen in alle Welt. Später erweiterte er sein Geschäft und machte auch Dampfmotoren für Schiffe, und Langworthy Engineering wurde einer von Liverpools größten Arbeitgebern.«

Reverend Blooms Augen richteten sich auf die Gemeinde. »Viele von euch, die ihr heute anwesend seid, verdanken ihren derzeitigen Wohlstand ihm. Er stellte euch als junge Männer ein, zeigte väterliches Interesse an euch und bildete euch gut aus. Andere von euch sind durch Wohltätigkeitsorganisationen mit ihm verbunden und werden ihn als einen Verfechter ihrer Sache in Erinnerung behalten, der großzügig spendete, um sie zu erhalten.«

Vielleicht lag es daran, dass Mr Langworthy seinem Traum gefolgt war, dass Beth erneut an Sam denken musste. Sie hatte gehofft, dass er im Adelphi neue Freunde finden und das Interesse an Amerika verlieren würde. Aber das hatte er nicht. Er studierte Landkarten, las Bücher und Artikel in Zeitschriften und sparte jeden Penny, um auswandern zu können.

Bis jetzt hatte Beth diesen leidenschaftlichen Wunsch von Sam als reine Abenteuerlust abgetan, aber plötzlich wurde ihr klar, dass es im Grunde das Gleiche war wie Mr Langworthys Wunsch, Ingenieur zu werden. Wenn er nicht mutig genug gewesen wäre, sich gegen seinen Vater aufzulehnen und sich das zu holen, was er wirklich wollte, dann hätten viele Leute hier heute keine Arbeit, die Wohltätigkeitsorganisationen wären ärmer, und wer hätte dann diese Wasserpumpen und Dampfmotoren gebaut, die in die ganze Welt verschickt wurden?

Vielleicht würde niemand davon profitieren, dass Sam nach Amerika ging, aber auf der anderen Seite würde er vielleicht verbittert sein und am Ende ihr die Schuld geben, wenn er es nicht tat. Beth hatte Angst davor, mit Molly alleingelassen zu werden, vor allem jetzt, wo ihre Zukunft so unsicher war, aber sie hatte noch mehr Angst davor, die Liebe ihres Bruders zu verlieren, indem sie ihn zurückhielt.

Um fünf Uhr nachmittags wusch Beth in der Küche ab, während die Köchin die Reste in die Vorratskammer räumte, als sie hörte, wie Mrs Langworthy sich an der Haustür von den letzten Gästen verabschiedete. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie die Müdigkeit in der Stimme ihrer Herrin hören und die Anspannung spüren, unter der sie schon den ganzen Tag gestanden hatte, während sie versuchte, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Die Haustür schloss sich. Beth hörte, wie Mrs Langworthy Mrs Bruce und Kathleen bat, die letzten Gläser und das Essen aus dem Esszimmer abzuräumen, dann kam sie ein paar Minuten später runter in die untere Etage.

Sie sah blass und fahl aus in ihrem schwarzen Kleid, aber sie lächelte Beth und die Köchin an. »Ich möchte Ihnen nur dafür danken, dass Sie heute so viel getan haben«, sagte sie.

Die Köchin, die gerade den übrig gebliebenen Kuchen wegräumte, blickte auf. »Das haben wir gerne gemacht«, sagte sie. »Aber Sie sehen sehr müde aus, Mam. Kann ich Ihnen etwas bringen?«

Die Herrin seufzte und legte die Hand auf ihre Stirn, als würde sie schmerzen. »Nein, danke, Mrs Cray, Sie haben für heute wirklich genug getan, Sie können nach Hause gehen. Wenn wir später noch etwas essen wollen, dann richten wir uns selbst etwas.« Sie wandte sich zu Molly um, die auf einer Decke in der Ecke saß und mit zwei Holzlöffeln spielte.

»Du warst heute ein so liebes Mädchen«, sagte sie, beugte sich zu ihr herunter und hob sie auf. »Ich habe keinen Pieps von dir gehört.«

»Sie ist ein kleiner Engel«, sagte die Köchin liebevoll. »Ich glaube, sie wusste, dass wir heute zu viel zu tun hatten, um mit ihr zu spielen.«

Mit Molly auf dem Arm ließ Mrs Langworthy sich auf einen Stuhl fallen und umarmte sie. Sie schwieg, drückte das Gesicht an das Haar des Babys.

Beth wurde plötzlich klar, dass ihre Herrin weinte, und trat alarmiert einen Schritt näher. »Was ist mit Ihnen, Mam?«, fragte sie.

»Durch den Verlust meines Schwiegervaters ist mir klar geworden, wie leer mein Leben ist«, sagte Mrs Langworthy, hob ein wenig den Kopf und versuchte, sich die Tränen wegzuwischen.

»Es ist ganz normal, dass Sie sich ein bisschen verloren fühlen«, tröstete Beth sie. »Aber jetzt können Sie all die Dinge tun, für die Sie vorher keine Zeit hatten. Soll ich Ihnen eine schöne Tasse Tee machen?«

»Das hier ist es, was ich will«, sagte Mrs Langworthy und drückte Molly an ihre Brust. »Ein Baby, das ich lieben kann. Ohne ein Kind hat eine Frau nichts.«

Mrs Cray sah Beth warnend an und machte mit der Hand eine leichte Trinkbewegung, als wollte sie damit sagen, dass die Herrin einen Sherry zu viel getrunken hatte.

Beth legte ihre Hand tröstend auf die Schulter der älteren Frau. »Wir können sie uns alle teilen«, sagte sie.

»Ich will sie nicht teilen, ich will sie ganz für mich allein«, erwiderte Mrs Langworthy und blickte mit einem flehenden Gesichtsausdruck zu Beth auf.

In diesem Moment kam Mrs Bruce mit ein paar benutzten Gläsern auf einem Tablett die Treppe herunter. »Das hier sind die letzten«, rief sie fröhlich und war sich nicht bewusst, dass sie gerade in etwas hineingeplatzt war.

»Sie haben auf jeden Fall gut gegessen und getrunken«, sagte die Köchin laut und wollte damit offensichtlich die angespannte Atmosphäre auflockern. »Wird es nicht Zeit, Molly nach Hause zu bringen, Beth?«

Mrs Langworthy stand abrupt auf und gab Molly an Beth zurück. »Ich gehe besser wieder zu meinem Mann«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er ist sehr niedergeschlagen. Ich bin sicher, morgen ist alles wieder in Ordnung.«

Die Herrin stand am nächsten Tag nicht auf. Kathleen brachte ihr wie üblich ihren Morgentee und berichtete in der Küche, dass es ihr nicht gut gehe.

»Zu viel Sherry«, meinte die Köchin und zwinkerte Beth zu, aber sie sprach leise, damit Mrs Bruce es nicht hörte.

Mr Edward war auch etwas verstimmt. Er fuhr Kathleen an, weil sein Frühstückstoast kalt war, dann ging er in sein Arbeitszimmer und blieb dort, anstatt ins Büro zu fahren.

»Es würde sich nicht schicken, wenn er heute arbeitet«, erklärte Mrs Bruce, als wollte sie sein Verhalten rechtfertigen. »Er muss die Angelegenheiten seines Vaters regeln, und er hat ein Dutzend Briefe zu schreiben. Aber ich muss sagen, dass es ihm mehr zusetzt, als ich erwartet hätte.«

Beth verstand, warum Mrs Bruce etwas perplex war, denn Mr Edward war sogar an dem Tag ins Büro gegangen, an dem sein Vater gestorben war, und gestern bei der Beerdigung hatte er sehr gefasst gewirkt. Es war verständlich, dass Mrs Langworthy im Bett geblieben war – sie hatte schließlich eine Woche lang alles organisieren müssen. Aber wenn sie Mr Edwards ungewöhnliches Verhalten heute Morgen und den aufgelösten Zustand seiner Frau gestern Abend bedachte, dann war Beth sicher, dass sie gestern Abend gestritten hatten.

Hatte sie ihm Vorwürfe gemacht, weil sie kein eigenes Kind hatten?

Drei Tage nach der Beerdigung lag Mrs Langworthy noch immer im Bett. Mrs Bruce brachte ihr die Mahlzeiten auf einem Tablett, aber sie stocherte nur darin herum.

»Der Arzt sagt, dass ihr nichts fehlt«, hörte Beth sie zur Köchin sagen. »Er glaubt, dass es nur Melancholie ist und dass Mr Edward vielleicht mit ihr wegfahren sollte. Aber wer will das schon bei dem Wetter?«

Seit dem Tag der Beerdigung hatte es nicht mehr geschneit, aber die Temperaturen waren so niedrig, dass der Schnee liegen blieb und der Wind eisig war. Im Kutschenhaus war es so kalt, dass Beth, solange es ging, im Haus der Herrschaften blieb und nachts Molly mit zu sich ins Bett nahm, um sie zu wärmen. Sam blieb ebenfalls länger im Hotel, vielleicht aus dem gleichen Grund, deshalb hatte Beth noch gar nicht die Möglichkeit gehabt, mit ihm über Amerika zu sprechen.

»Beth, warum gehst du nicht mal nach oben zu ihr?«, schlug Mrs Bruce vor. »Nimm Molly mit. Ich bin sicher, das wird sie aufmuntern.«

Es war Nachmittag, und da es keine Arbeit mehr gab und es ohnehin zu kalt war, um irgendwo anders hinzugehen, sah Beth es als Gelegenheit, noch ein bisschen im Haus zu bleiben, und war sofort einverstanden.

Mrs Langworthy lag lustlos in den Kissen und las nicht mal, aber als sie Beth und Molly sah, erhellte sich ihre Miene. »Was für eine nette Überraschung. Ich habe gerade an Molly gedacht. Setz sie doch zu mir aufs Bett«, sagte sie und klopfte auf die Bettdecke.

Beth hob die Kleine auf das Bett und zog für sich selbst einen Stuhl heran. Molly hüpfte herum, dann brachte sie die Herrin zum Lachen, indem sie mit ihr mit der Decke Kuckuck spielte.

»Was ist denn nur los mit Ihnen, Mam?«, fragte Beth, nachdem sie eine Weile über Molly geredet hatten. »Tut Ihnen irgendetwas weh? Sind Sie krank?«

»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Mrs Langworthy und blickte liebevoll auf Molly hinunter, die sich jetzt neben sie gekuschelt hatte, als wollte sie einschlafen. »Ich bin nur traurig darüber, wie sinnlos mein Leben ist.«

»Meine Mutter sagte einmal etwas Ähnliches zu mir«, entgegnete Beth nachdenklich. »Ich war damals ein bisschen verletzt, aber ich schätze, sie meinte damit nur, dass sie jeden Tag kochen und putzen muss.«

»Frauen sind das manchmal leid.« Mrs Langworthy seufzte. »Ich weiß, ich sollte mich glücklich schätzen, ich habe ein schönes Haus und einen liebevollen Mann, aber weißt du, ich wollte immer Kinder haben, und es sieht nicht so aus, als wenn ich jemals welche bekommen werde. Ich habe mich gezwungen, nicht allzu viel darüber nachzudenken, solange mein Schwiegervater noch lebte, weil es so viel zu tun gab. Aber jetzt kann ich nicht aufhören, daran zu denken. Ich bin so traurig.«

Beth fühlte sich ein bisschen unwohl, als sie das hörte. In ihren Augen hatte Mrs Langworthy ein perfektes Leben, und sie fand, dass es ihr vielleicht guttun würde, einmal in einen der heruntergekommenen Hinterhöfe im Scotland District von Liverpool zu gehen und sich anzusehen, wie das Leben für die Frauen dort war.

Ihre Herrin schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn sie legte ihre Hand auf Beths. »Es tut mir leid, Liebes, ich hatte vergessen, wie viel Traurigkeit du in deinem jungen Leben schon erfahren musstest. Was musst du von mir denken?«

»Ich denke, dass Sie die netteste, liebenswürdigste Person auf der ganzen Welt sind«, erwiderte Beth ehrlich. »Sie haben uns aufgenommen, als wir niemanden hatten, an den wir uns hätten wenden können. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein.«

»Du hast mich dafür mehr als entschädigt«, sagte Mrs Langworthy. »Aber, sag mir, Beth, ist es dir nie lästig, dass du dich um Molly kümmern musst?«

Beth blickte ihre Schwester an und lächelte, weil sie mit dem Daumen im Mund eingeschlafen war. »Für mich war sie nie eine Belastung«, antwortete sie. »Vielleicht bin ich gebunden, aber das macht mir nichts aus.«

»Das ist eine sehr selbstlose Einstellung«, bemerkte Mrs Langworthy. »Aber sag mir, Sam und du, habt ihr immer noch vor, nach Amerika zu gehen?«

Beths Mut sank, denn sie war sicher, dass Mrs Langworthy ihr damit sagen wollte, dass sie nicht länger gebraucht wurde. »Sam ist nach wie vor fest entschlossen«, sagte sie vorsichtig. »Aber seit Mr Langworthys Tod mache ich mir mehr Sorgen über unsere Stellung hier. Wo es doch jetzt so viel weniger zu waschen gibt, werden Sie mich nicht länger brauchen.«

»Dich nicht brauchen?« Ihre Herrin sah schockiert aus. »Natürlich brauche ich dich noch. Du hast doch sicher nicht geglaubt, dass ich dich entlasse?«

»Sie meinen, ich kann mit Molly bleiben?«

»Natürlich, meine Liebe. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dich gehen zu lassen. Du bist unersetzlich – ich weiß, du hast immer mehr gemacht, als du eigentlich solltest.«

»Vielen, vielen Dank, Mam, ich hatte solche Angst, was aus uns werden soll«, gestand Beth. »Und dadurch wird es mir so viel leichter fallen, Sam alleine nach Amerika gehen zu lassen. Wissen Sie, ich bin nämlich zu dem Entschluss gekommen, dass das die richtige Entscheidung ist. Und in ein paar Jahren, wenn er dort Fuß gefasst hat, können Molly und ich ja vielleicht nachkommen.«

»Aber du könntest jetzt mit ihm gehen, wenn du Molly bei uns lässt.«

Beth blickte ihre Herrin scharf an, verwirrt über das, was sie da sagte.

»Das könnte ich nicht«, sagte sie. »Es wäre ja nicht so, dass ich nach zwei Wochen einfach wieder zurückkommen könnte.«

»Ich meinte nicht, dass wir ein paar Wochen auf sie aufpassen«, erklärte Mrs Langworthy und ließ Beth nicht aus den Augen. »Ich meinte für immer.«

Beth war so schockiert, dass ihr der Mund offen stehen blieb. »Für immer?«

»Sieh mich nicht so entsetzt an, Beth! Du verstehst doch bestimmt, dass das die beste Lösung für dich und Sam wäre? Mein Mann und ich würden Molly wie unser eigenes Kind lieben, sie würde in diesem wunderschönen Haus leben, auf die besten Schulen gehen, und es würde ihr an nichts fehlen.«

Beth war entrüstet. »Aber sie ist mein Fleisch und Blut!«

»Und gerade deshalb solltest du uns dafür sorgen lassen, dass sie ein gutes Leben hat«, erwiderte Mrs Langworthy. Zwei grellrote Flecken erschienen auf ihren Wangen, so als hätte sie Fieber. »Als ich ein Mädchen war, kannte ich mehrere große Familien, die ein oder zwei ihrer Kinder zu reichen Verwandten schickten. Das war eine übliche Vorgehensweise.«

Beth kannte ebenfalls Leute, die das getan hatten. »Aber Sie sind keine Verwandte«, erklärte sie. »Ich könnte Molly nicht mit dem Gedanken aufwachsen lassen, dass ich sie weggegeben habe!«

»Ich wollte damit nicht eine Sekunde lang vorschlagen, dass ihr jeden Kontakt zu ihr abbrechen müsst.« Mrs Langworthy sah erzürnt aus. »Du könntest ihr schreiben, und du könntest jederzeit wiederkommen und sie besuchen. Ich würde ihr sagen, dass ich ihr Vormund bin, ich würde niemals behaupten, ihre Mutter zu sein. Sie könnte mich Tante Ruth nennen.«

Beth fühlte sich, als fiele sie durch eine Falltür, die sich unter ihren Füßen geöffnet hatte, ins Bodenlose. Sie wusste, dass die Langworthys ihrer kleinen Schwester alles geben konnten, was ein Kind wollte oder brauchte, aber für fast vierzehn Monate war Molly in jeder Hinsicht Beths eigenes Kind gewesen, und ihr Instinkt war es, mit Klauen und Zähnen um sie zu kämpfen.

Sie streckte die Hand aus und fuhr mit einem Finger über Mollys Wange. Plötzlich hatte sie Angst, dass Mrs Langworthy vielleicht die Macht hatte, ihr Molly auch ohne ihre und Sams Erlaubnis wegzunehmen.

»Denk gründlich darüber nach, Beth«, sagte Mrs Langworthy sanft und berührte ihren Arm. »Ich weiß, dass ich dich schockiert habe, und vielleicht hast du sogar das Gefühl, dass ich dich mit diesem Vorschlag beleidige. Aber du musst mir glauben, wenn ich sage, dass niemand Molly bis jetzt besser hätte aufziehen können als du, vor allem, wo du noch so jung bist.«

»Ich kann sie Ihnen nicht überlassen«, erklärte Beth heftig. »Ich liebe sie zu sehr.«

»Ich weiß, dass du sie liebst, aber schlag mein Angebot nicht sofort aus«, sagte die ältere Frau. »Denk darüber nach, was es für dich bedeuten könnte. Du wärst frei wie ein Vogel und könntest mit Sam gehen. Dein Leben könnte wieder dir gehören, du könntest tun, was du willst. Aber du wärst noch immer Mollys Schwester, nichts und niemand kann dir das nehmen.«

Beth konnte sich das nicht länger anhören. Sie nahm das schlafende Kind auf den Arm, ging rückwärts zur Tür und entschuldigte sich dabei.

Sam kam um halb neun nach Hause. Normalerweise kam er erst weit nach Mitternacht, aber im Adelphi war es so ruhig gewesen, dass der Barmanager ihn früher hatte gehen lassen. Als er den Lampenschein durch das Fenster sah, freute er sich, denn das bedeutete, dass er sich mit Beth noch unterhalten konnte. Sonst schlief sie schon, wenn er zurückkam.

Aber als er die Tür öffnete und sie mit einer Decke über den Schultern vor dem Ofen sitzen sah, wusste er, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist passiert?«, fragte er. Seine Hände und Füße waren wie Eisblöcke, und er ging zum Herd, um sich zu wärmen. »Sie haben dir doch nicht gesagt, dass sie dich nicht länger brauchen?«

Beth hatte diese Sorge erst letzten Sonntag ausgesprochen, aber Sam glaubte nicht daran, dass man sie entlassen würde, denn bei der Weihnachtsfeier hatte er gespürt, wie sehr Mr und Mrs Langworthy sie inzwischen ins Herz geschlossen hatten.

»Mrs Langworthy möchte, dass wir ihr Molly geben«, platzte Beth heraus und brach sofort in Tränen aus.

Sam kniete sich auf den Boden vor sie und bedrängte sie mit Fragen, bis sie ihm schließlich von dem Angebot berichtete.

»Wäre das denn so schlimm?«, fragte er, als sie fertig war. »Sie hat recht, es wäre gut für Molly.«

»Dir war sie immer schon egal«, beschuldigte Beth ihn verbittert. »Wenn es nach dir gegangen wäre, dann wäre sie damals im Waisenhaus gelandet.«

»Vielleicht war ich nicht besonders nett zu ihr, als sie geboren wurde«, stimmte Sam zu und errötete beschämt. »Das tut mir jetzt leid. Aber sie würde bei den Langworthys ein viel besseres Leben haben als bei uns. Wir könnten nach Amerika gehen und etwas erleben. Denk doch nur, wie schön das wäre!«

»Ich will nichts erleben, ich will Molly.« Beth fing wieder an zu weinen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Ich hatte mich entschieden, dich alleine fahren zu lassen. Ich weiß, dass es nicht fair von mir ist, dich zurückzuhalten. Also kannst du gehen, und ich bleibe bei ihr.«

Sam schwieg für eine Weile, kniete nur zu Beths Füßen, während sie in ihre Hände weinte. Er dachte oft an die Untreue ihrer Mutter und war verbittert darüber, dass sein Vater sich deswegen das Leben genommen hatte, aber Molly lehnte er deswegen nicht länger ab.

Wie konnte er? Sie war ein so süßes kleines Ding, tatsächlich war er sicher, dass er genauso wütend und entsetzt auf diesen Vorschlag reagiert hätte wie seine Schwester, wenn auch er ständig mit Molly zusammen gewesen wäre.

Aber so, wie die Dinge lagen, war er in der Lage, die Situation objektiver zu beurteilen. Es bestand kein Zweifel, dass die Langworthys Molly die beste Erziehung bieten konnten. Sie waren wohlhabende, einflussreiche Leute, aber sie hatten auch ein gutes Herz. Hätten sie Beth und ihn damals nach dem Brand nicht so großzügig bei sich aufgenommen, dann wären sie vielleicht gezwungen gewesen, in den Slums zu leben, und Molly wäre nicht das gesunde, glückliche Baby, das sie war.

Möglich, dass er dabei bis zu einem gewissen Grad auch an sich selbst dachte. Es wäre wundervoll, zusammen mit Beth nach Amerika gehen zu können, ohne mit einem kleinen Kind belastet zu sein. Sie würden hingehen können, wohin sie wollten, würden frei in ihren Entscheidungen sein, und wenn sie beide arbeiten gehen konnten, dann würden sie auch viel mehr Geld zusammenbekommen.

Am wichtigsten war ihm jedoch, dass Beth ein gutes Leben, einen liebevollen Mann und eigene Kinder hatte. Aber das alles würde sie mit Molly im Schlepptau nicht bekommen, denn die Leute würden die Kleine immer für Beths uneheliches Kind halten. Beth würde immer eine Dienstbotin bleiben müssen, und sie verdiente etwas Besseres.

Aber wie konnte er seine Schwester überzeugen, dass er nicht nur an sich selbst dachte?

»Ich könnte nach Amerika gehen und dich dann nachkommen lassen, wenn ich Fuß gefasst habe«, sagte er. »Aber ich will nicht ohne dich gehen, Beth. Und jetzt, wo die Langworthys uns dieses Angebot gemacht haben, wie wird es uns da ergehen, wenn wir es ablehnen? Was, wenn sie uns wegschicken? Was dann?«

»Das würden sie nicht tun«, erklärte Beth hastig, aber sie sah Sam fragend an. »Oder?«

»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Mr Edward hat vielleicht das Gefühl, dass Mollys Anwesenheit seine Frau aufregt. Die Leute werden hässlich, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen.«

Sam beschloss, dass er es dabei bewenden ließ. Beth wusste nur zu gut, dass sie niemals wieder einen solchen Platz zum Leben finden würden. Und sie würde auch kaum einen anderen Job finden, bei dem sie Molly mitnehmen konnte. Sie war intelligent genug, das zu berücksichtigen, wenn sie ihre Entscheidung traf.

In dieser Nacht konnte Sam nicht schlafen, denn er wusste, dass Beth im Zimmer nebenan wach lag und sich Sorgen machte. Sie hatten das Thema wieder und wieder durchgekaut, und er spürte, dass Beth im Herzen wusste, dass es für Molly das Beste wäre, wenn sie bei den Langworthys bliebe. Die Ereignisse und Kämpfe des letzten Jahres hatten sie beide gelehrt, wie unsicher das Leben war. Sie mussten sich nicht weit vom Falkner Square entfernen, um zu sehen, wie leicht sie wieder in den Abgrund der Armut fallen konnten.

Doch Sam war auch bewusst, dass Beth nicht wirklich rational denken konnte, weil sie Molly so sehr liebte. Sie war nicht in der Lage, es so zu sehen wie er, weil sie nicht selbstsüchtig war und sich nicht so sehr nach Freiheit und Abenteuer sehnte. Sie glaubte nicht einmal daran, dass Molly vielleicht zu ihnen nach Amerika kommen würde, wenn sie erwachsen war.

Und trotz allem, was er heute Abend und in der Vergangenheit gesagt hatte, war Sam in das Zimmer nebenan gegangen, bevor er sich hinlegte, und sein Herz war angeschwollen vor Liebe zu der schlafenden Molly. Er konnte sich keinen Tag vorstellen, an dem er diese großen braunen Augen nicht sah, nicht ihr fröhliches Lachen hörte und sie durch den Raum schwanken sah. Er hatte sich alle Mühe gegeben, sein Herz vor ihr zu verschließen, aber er hatte versagt, und nicht nur Beth würde der Abschied sehr schwerfallen.

Beth weckte ihn am folgenden Morgen so wie immer. Ihre Augen waren gerötet, und sie sah sehr blass aus. Sie gab ihm eine Tasse Tee und setzte sich ans Bettende.

»Kommst du heute Nachmittag nach Hause?«, fragte sie.

Es war Samstag, und Sams Arbeit bei der Reederei endete mittags. Normalerweise besuchte er nachmittags Freunde und ging dann am frühen Abend direkt ins Adelphi.

»Wenn du das willst«, erwiderte er.

»Das will ich. Ich will, dass du zum Haus rüberkommst und mit Mr Langworthy über Molly sprichst«, sagte sie mit bebender Stimme. »Wenn er das genauso sehr will wie seine Frau, dann glaube ich, dass es das Beste wäre, wenn wir zustimmen.«

Ein Kloß saß in Sams Hals, denn er wusste, wie viel Schmerzen ihr diese Entscheidung bereitete. Er konnte sich nicht dazu bringen, irgendwelche Plattitüden zu sagen. »Ich komme sofort nach Hause«, sagte er. »Du bist so tapfer, Beth.«

»Ich bin nicht tapfer. Tapfer wäre es, sie mit nach Amerika zu nehmen oder dieses Haus erhobenen Hauptes zu verlassen. Aber ich musste daran denken, wie Papa das wohl gesehen hätte. Ich glaube, er hätte gesagt, dass wir Molly das geben sollten, was am besten für sie ist.«

Sam fand im Stillen, dass ihr Vater gar nichts dazu zu sagen gehabt hätte, da er selbst ja nicht an seine Kinder gedacht hatte, als er sich das Leben nahm, aber das behielt er für sich. »Ja, ich denke, das hätte er.« Er nickte. »Aber bevor wir zustimmen, müssen sie uns versprechen, Molly von uns zu erzählen und sie dazu anzuhalten, uns zu schreiben, wenn sie alt genug ist.«

Neue Tränen schossen in Beths Augen. »Ich glaube, wir sollten auch darauf bestehen, dass das alles schnell passiert. Ich könnte es nicht ertragen, wochenlang zu warten, während das über uns hängt.«

»Ich habe genug für die Überfahrt zusammen«, erwiderte Sam. »Gerade so.«

»Wir kommen schon zurecht«, erklärte Beth entschlossen.

Beth hielt an der unwirklichen Hoffnung fest, Mr Edward würde ihnen bei dem Gespräch mitteilen, dass seine Frau nicht ganz bei sich war, weil es ihr so schlechtging. Aber um drei Uhr, dem Zeitpunkt, zu dem sie Mrs Bruce gebeten hatte, für Sam und sie einen Gesprächstermin mit ihm zu arrangieren, öffnete er die Tür zum Salon, als sie die Treppe heraufkamen, und seine Augen strahlten freundlich.

Er besaß nicht die Wärme seiner Frau; er war steif und kühl zu jedem. Beth wusste, dass das vor allem an seiner Erziehung und seiner geschäftlichen Verantwortung lag, aber sie hatte ihn entspannt erlebt, wenn er mit Molly sprach.

»Ihr möchtet über das Angebot reden, das meine Frau euch gemacht hat?«, fragte er.

»Ja, Sir«, erwiderte Beth, und ihre Knie wurden ganz weich.

»Kommt herein und setzt euch.«

Das Feuer im Kamin brannte, und die Lampen waren angezündet, weil es ein so grauer Tag war. Mrs Langworthy war ebenfalls anwesend, aber sie sah viel besser aus als am vorangegangenen Tag. Sie saß am Kamin, und Mr Edward führte Sam und Beth zu der Couch, die davor stand. Er blieb stehen und stützte den Ellbogen auf den Kaminsims.

»Meine Frau hat Angst, ihr könntet vielleicht glauben, sie habe diesen Vorschlag vorschnell gemacht, ohne mich davon vorher in Kenntnis gesetzt zu haben. Aber tatsächlich hat sie schon Weihnachten mit mir darüber gesprochen«, begann er.

»Und wie dachten Sie damals darüber?«, hakte Sam forsch nach.

»Dass Molly ein entzückendes Baby ist, eines, das ich sicher wie mein eigenes lieben könnte. Aber wir waren nicht in der Position, eine solche Möglichkeit mit euch zu diskutieren, nicht, solange mein Vater noch so viel Pflege brauchte.«

»Aber ein paar Tage nach der Beerdigung hatten Sie das Gefühl, dass es angebracht wäre, Beth mit diesem Thema zu überfallen?«, sagte Sam sarkastisch.

Mr Edward wurde rot. »Ich war sehr erschrocken, als meine Frau mich darüber informierte, dass sie so offen gesprochen hatte. Es hätte taktvoller und zu einem angemesseneren Zeitpunkt geschehen sollen.«

»Bitte vergebt mir dafür.« Mrs Langworthy ergriff das Wort und rang sorgenvoll die Hände. »Ich fürchte, meine Zuneigung zu Molly und Beth hat mich so impulsiv sein lassen, und wenn ich euch beleidigt oder sogar verängstigt habe, dann tut mir das sehr leid.«

»Wir verstehen, dass Mrs Langworthy nur das Beste für Molly will«, stimmte Sam zu und sah Mr Edward an. »Aber wir sind heute hier, um herauszufinden, ob Sie sich da beide einig sind.«

Beth war überrascht, dass Sam so offen und direkt sein konnte. Sie hatte ein bisschen Angst gehabt, dass er sich mit allem einverstanden erklären würde, was die Langworthys vorschlugen.

»Das sind wir in der Tat«, erklärte Mr Edward fest. »Ich kann euch beiden versichern, dass ich den Wunsch meiner Frau teile, sie zu lieben, zu beschützen und ihr alles zu geben, das wir unserem eigenen Kind geben würden, wenn wir mit einem gesegnet wären. Ich habe wenig Erfahrung mit kleinen Kindern, wie ich gestehen muss, aber ich finde Molly einfach entzückend.«

Beth konnte Mr Edward nur anstarren, denn sie hatte nicht erwartet, dass er so viel Wärme oder Hingabe zeigen würde.

»Beth!« Sam sah seine Schwester scharf an. »Hast du noch etwas hinzuzufügen?«

»Wenn wir sie Ihnen geben, versprechen Sie dann, dass Sie uns schreiben und uns wissen lassen, wie es ihr geht, bis sie alt genug ist, um uns selbst zu schreiben?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Darauf habt ihr unser Wort«, sagte Mr Edward ernst. »Wenn ihr zurückkommen solltet, dann seid ihr jederzeit bei uns willkommen und könnt sie besuchen. Alles, worum wir bitten, ist, dass wir ihr gesetzlicher Vormund werden und dass sie unseren Namen annimmt. Wir brauchen diese Sicherheit.«

Beth und Sam tauschten Blicke, denn ihnen war klar, dass sie damit vor dem Gesetz jedes Recht an ihrer Schwester aufgaben.

»Kein Kind könnte mehr gewollt sein«, flehte Mrs Langworthy. »Sie wird uns haben und auch Mrs Bruce, Kathleen und die Köchin. Wir werden ihr ein sicheres, glückliches Heim voller Liebe bieten. Uns ist bewusst, wie schwer das für euch beide sein muss, aber wenn ihr sie in unsere Obhut gebt, dann sichert ihr damit ihre Zukunft.«

Sam blickte Beth an und nickte. »Wenn sie älter ist, müssen Sie ihr sagen, dass wir uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht und es nur getan haben, weil wir glaubten, dass es das Beste für sie ist«, sagte er mit zitternder Stimme.

»Das werden wir ganz sicher, meine Lieben.« Mrs Langworthy stand auf und nahm Beths Hände, zog sie hoch und umarmte sie. »Wir werden nicht zulassen, dass sie euch vergisst. Und wir versprechen, dass wir euch niemals Grund geben werden, die Entscheidung zu bereuen, die ihr heute trefft.«

Mr Edward trat zu ihnen und räusperte sich. »Darf ich dir sagen, wie sehr ich dich vermissen werde, Beth? Du hast Licht und Farbe in dieses Haus gebracht.« Er hielt einen Moment inne und blickte Sam an, dann wieder Beth. »Ich glaube, dass ihr beiden in Amerika Erfolg haben werdet, aber wenn es euch dort nicht gefällt, dann kommt zurück zu uns. Wir werden für euch immer Platz in unseren Herzen und in unserem Haus haben.«

Beth hörte die Ehrlichkeit in seiner Stimme und war tief berührt.

»Danke, Sir«, flüsterte sie, und Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich halte es für das Beste, wenn wir so bald wie möglich aufbrechen. So ist es für alle leichter.«