7
Beth hob Molly aus der Wiege, riss hastig eine Decke hoch und rannte über den Flur zur Stube, wo Sam schlief.
»Wach auf, Sam!«, schrie sie und schüttelte ihn. »Es brennt!«
Er hatte die Vorhänge in der Stube nicht zugezogen, bevor er ins Bett gegangen war, sodass sie ihn im Licht der Straßenlaternen gut sehen konnte. Er öffnete die Augen und blickte sie einen Moment lang verständnislos an, aber als sie ihre Warnung wiederholte, sprang er aus dem Bett, zog sich seine Hose über und war bei ihnen.
»Hol Ernest und Peter!«, schrie sie, und er rannte sofort durch den Flur davon. Rauch quoll jetzt die Treppe hinauf, und Beth wusste, dass sie sich einen anderen Fluchtweg suchen mussten.
Sie schloss die Stubentür und legte Molly in Sams Bett, schob hastig das Schiebefenster so weit auf, wie es ging, und schrie in der Hoffnung, dass ein Polizist oder irgendjemand in der Nähe sie hören würde. Aber die Straße unten lag verlassen da, nicht einmal eine Katze schlich herum.
Die Männer kamen die Treppe heruntergerannt und stürmten in die Stube. »Was hat das Feuer ausgelöst?«, fragte Peter mit vor Angst schriller Stimme.
»Das ist jetzt egal«, entgegnete Ernest und lehnte sich aus dem Fenster. »Es ist zu hoch, um von hier zu springen. Vielleicht wäre es aus den hinteren Fenstern einfacher?«
»Ich sehe nach«, sagte Sam und übernahm das Kommando. »Ihr bleibt hier und bindet die Laken und was ihr finden könnt zu einem Seil zusammen. Beth, schrei weiter so laut, wie du kannst.«
Er verschwand und kehrte schon Sekunden später vom Rauch hustend mit einem Stapel Laken zurück. »Die Treppe brennt schon, und es ist zu gefährlich, aus dem Schlafzimmerfenster zu steigen, weil die Flammen direkt darunter sind«, keuchte er. »Wir müssen hier raus. Beth, stopf den Teppich in die Ritze unter der Tür. Ernie, hilf mir, die Matratze rauszuwerfen, damit wir weicher landen, dann lassen wir dich runter, danach Beth und Molly.«
Beth tat, was er gesagt hatte, und schob den Teppich so dicht unter die Tür, wie sie konnte. Ernest und Peter hatten bereits zwei Laken zusammengeknotet, zogen daran, um sicherzugehen, dass sie halten würden, und brüllten dabei aus Leibeskräften um Hilfe. Beth nahm Molly hoch, während die Männer die Matratze aus dem Fenster warfen. Dann stieg Ernest auf die Fensterbank und nahm das Ende des Lakens, und Sam und Peter, die das andere Ende hielten, ließen ihn langsam hinunter.
Während die Männer am Fenster beschäftigt waren, sah Beth sich nach etwas Sicherem um, in das sie Molly legen konnte. Als sie den Kohleneimer erblickte, griff sie danach und leerte die Kohlen in den Kamin. Molly weinte jetzt, weil der Lärm und die Panik um sie herum ihr Angst machten. Beth setzte sie in den Kohleneimer und schob ihr ein Kissen in den Rücken, damit sie nicht herausfallen konnte.
»Gute Idee«, lobte Sam sie. Ernest schrie wie wild unten auf der Straße, und Peter unterstützte ihn vom Fenster aus. Sam band das Lakenseil an den Griff des Kohleneimers und testete, ob es hielt.
Beths Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sah, wie Molly auf die Straße hinuntergelassen wurde. Sam und Peter arbeiteten ganz langsam, aber der Kohleneimer schwankte gefährlich. Wenn Molly sich bewegte, würde er zur Seite kippen.
Zum Glück blieb sie still sitzen und landete sicher in Ernests Armen.
»Jetzt du, Beth«, sagte Sam und holte das Lakenseil wieder nach oben. »Klammer dich so fest du kannst an dem Seil fest. Ich lasse dich runter.«
Beth hatte furchtbare Angst, während sie rückwärts auf die Fensterbank kletterte. Sie war barfuß und trug nur ihr Nachthemd und nichts darunter. Selbst in einer so verzweifelten Situation konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass jemand ihren Intimbereich sah.
»Wickel dir das Seil ums Handgelenk, und halt dich fest«, befahl ihr Sam. »Benutze deine Füße, um an der Wand nach unten zu kommen. Wir seilen dich ganz langsam ab und lassen dich nicht fallen.«
Nichts in Beths Leben war je so furchteinflößend gewesen. Sie hatte Angst, herunterzufallen und sich das Genick zu brechen, und war sich nur zu bewusst, dass der Wind unter ihr Nachthemd fuhr und dass Ernest direkt unter ihr stand. Aber sie musste sich beeilen, weil Sam und Peter auch noch hinuntermussten.
»Gutes Mädchen, nur noch ein kleines Stück, und du kannst springen«, rief Ernest. »Die Matratze ist direkt unter dir, und ich bin hier und fange dich auf.«
Sie blieb kurz am Schild über dem Schaufenster hängen, aber es gelang ihr, sich wieder zu befreien, und dann forderte Ernest sie auf zu springen.
Die Leute liefen jetzt aus ihren Häusern, um zu sehen, was dieser ganze Lärm zu bedeuten hatte, und die Geräusche gaben ihr etwas Sicherheit. Sie ließ das Laken los und landete mit den Füßen zuerst auf der Matratze.
Sie riss Molly aus Ernests Armen, und als sie in das Schaufenster blickte, sah sie zu ihrem erneuten Entsetzen, dass die Flammen bereits überall an der hinteren Tür leckten, die zu ihrer Wohnung führte. Rauch quoll über ihnen nach oben, und immer mehr Leute kamen auf der Straße zusammen. Sie hoffte, dass die Feuerwehr rechtzeitig eintreffen würde, bevor die ganze Ladenzeile abbrannte.
»Ich habe eine Leiter!«, rief eine männliche Stimme. »Die kann ich in zwei Minuten herholen.«
Sam half derweil Peter aus dem Fenster. »Wie soll Sam denn rauskommen?«, wollte Beth von Ernest wissen. »Da oben gibt es nichts, an dem er das Laken festbinden kann.«
»Die Leiter ist dann vielleicht schon hier«, entgegnete Ernest. »Komm schon, Pete«, rief er. »Pass auf, wenn du zu dem Ladenschild kommst.«
Peter sprang die letzten drei Meter und wandte sich an Ernest. »Das Feuer ist schon an der Tür da oben«, sagte er. »Wie soll Sam rauskommen?«
Beth konnte sehen, wie die Flammen sich über den Boden im Laden ausbreiteten. Bald würde die Hausfront brennen, und dann saß ihr Bruder in der Falle.
»Sam!«, schrie Beth. »Zieh das Bett ans Fenster. Das Kopfteil passt nicht durch, also kannst du das Laken daran festbinden.«
Ihr war ganz schlecht vor Angst, und sie wünschte, sie könnte sehen, ob Sam tat, was sie ihm gesagt hatte – es würde ihm ähnlich sehen, wenn er erst noch ein paar Wertgegenstände einsammelte, bevor er ging. Jetzt herrschte auf der Straße völliges Chaos, einige Leute riefen, dass man eine Kette mit Wassereimern bilden solle, andere fürchteten um ihre Häuser, barfüßige Kinder in Nachthemden weinten, weil sie ihre Eltern nicht sehen konnten. Ein paar Leute bliesen in Pfeifen, und noch mehr klopften an andere Türen, um die Bewohner herauszuholen.
Aber gerade als Beth schon glaubte, Sam wäre verloren, kam das Laken aus dem Fenster, und er stand auf dem Fensterbrett. Sein Oberkörper war nackt, und das Licht der Laterne beschien sein blondes Haar. Er hielt ihre Geige in der Hand.
»Fang«, schrie er und warf sie nach unten in Peters Hände. Gerade als die Flammen hinter dem Ladenfenster die Scheibe zersplittern ließen, seilte Sam sich an dem Laken nach unten ab.
Beth rannte zu ihm und umarmte ihn. »Wieso hast du ausgerechnet meine Geige gerettet?«, fragte sie.
»Irgendetwas sagte mir, dass ich das tun muss.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß doch, wie viel sie dir bedeutet.«
Es dauerte noch fünfzehn Minuten, bis der erste Feuerwehrwagen eintraf, die Feuerwehrleute heraussprangen und den Schlauch an dem Wassertank befestigten, aber da brannte bereits die gesamte Front des Hauses. Die Pferde wurden abgeschirrt und etwas weiter die Straße hinuntergeführt, weg von der schlimmen Hitze, und Beth und die Männer drängten sich auf der anderen Straßenseite zusammen und beobachteten entsetzt das Geschehen.
Erst da wurde Beth klar, dass sie alles verloren hatten. Ihr Zuhause, ihre Sachen, ihr Geld. Alles war weg.
Sie waren verarmt und obdachlos.
Ihre Vermieter und Mr Filbert, der Mieter des Ladens, hatten bestimmt eine Versicherung, aber sie nicht. Sam hatte nicht mal mehr einen Anzug, um am Morgen zur Arbeit zu gehen. Und was Molly anging, sie hatte nur ein Nachthemd, eine Windel und eine Decke.
Beth zitterte vor Angst, nicht vor Kälte. Jemand legte ihr eine Decke über die Schultern, und sie hörte, wie sie jemand fragte, ob sie irgendwo unterkommen könnten. Tränen schossen ihr in die Augen, heiße Tränen, die über ihre Wangen liefen und auf Molly fielen, die in ihren Armen eingeschlafen war.
Zwei weitere Feuerwehrwagen kamen, von denen einer auf die Rückseite des Gebäudes fuhr. Das Feuer wütete immer noch, und es sah aus, als würden der Eisenwarenladen auf der einen und der Kurzwarenhandel auf der anderen Seite ebenfalls abbrennen. Polizisten versuchten, die Leute zurückzudrängen, um Platz zu schaffen.
»Wie hat das angefangen?«, schrie jemand.
»Jemand hat das Feuer absichtlich gelegt«, rief Beth zurück. »Ich sah, wie jemand durch das Hoftor wegrannte. Sie haben Petroleum in den Briefschlitz gegossen, sie wollten uns alle umbringen.«
Einer der Polizisten kam zu ihr und bat sie, zu wiederholen, was er sie gerade sagen gehört hatte. »Haben Sie irgendeine Idee, wer es gewesen sein könnte?«, fragte er.
»Versuchen Sie es bei Jane Wiley.« Sie spuckte den Namen förmlich aus. »Sie war früher unsere Untermieterin.«
Mrs Craven kam plötzlich mit ihrem Mann an ihrer Seite durch die Menge auf sie zu. »Ich bin hier, Liebes«, rief sie. »Wir werden nicht zulassen, dass Sam und du obdachlos seid nach allem, was ihr durchgemacht habt.« Sie bahnte sich den Weg zu Beth und schlang ihre dicken Arme um sie und Molly. »Ihr kommt jetzt mit uns.«
Barfuß mit nur noch einem Baumwollnachthemd und einer Geige, die sie ihr Eigen nennen durfte, und Molly auf dem Arm ging Beth mit den Cravens in ihre Wohnung und ließ Sam zurück, der ihnen folgen würde, sobald er jemanden gefunden hatte, der Ernest und Peter aufnehmen würde. Die beiden kleinen Zimmer der Cravens waren der Hafen gewesen, in den Beth während der vergangenen Monate so oft gelaufen war, wenn sie ein Problem hatte oder einfach mit jemandem reden musste, der älter und weiser war. Aber sie wusste, dass ihre Nachbarn sie jetzt nur kurzfristig aufnehmen konnten, denn sie waren zu alt, um von unerwarteten Gästen gestört zu werden, und zu arm, um sie auch noch zu ernähren.
Beth konnte nicht schlafen. Es waren nicht nur das Zischen des Wasserstrahls, der auf das Feuer gerichtet war, oder die Feuerwehrleute, die sich weniger als vierzig Meter entfernt über die Gasse hinweg etwas zuriefen; es war nicht mal der harte Boden von Mrs Cravens Wohnzimmer oder die rauchgeschwängerte Luft, die sie wach bleiben ließen. Es war das Wissen, dass Jane Wiley das Feuer in böser Absicht und mutwillig gelegt hatte.
Wie konnte jemand nur so gemein sein? Sie hatte sie vielleicht nicht wirklich umbringen wollen, aber sie musste doch darauf aus gewesen sein, ihr Heim zu zerstören.
Alles war weg – die Kleidung, die Möbel und das Geld –, aber noch schlimmer war für Beth der Verlust all der kleinen persönlichen Dinge und Familienfotos, Erinnerungen an ihre Eltern und Großeltern, die nicht zu ersetzen waren. Sie war gerührt, dass Sam daran gedacht hatte, ihre Geige zu retten, aber sie schien ein so unwichtiger Gegenstand zu sein.
Praktisch, wie sie war, hatte Mrs Craven ein paar Windeln und einen Strampelanzug für Molly herausgesucht und ihr eine improvisierte Wiege aus einer ihrer Schubladen gemacht. Sie sagte, dass die Heilsarmee Leuten in Beths und Sams Lage helfe, indem sie ihnen Kleidung und Schuhe gebe, und dass sie nicht daran zweifelte, dass die Nachbarn etwas für sie sammeln würden. Aber Beth war zu niedergeschlagen, um sich davon getröstet zu fühlen.
»Mehr ließ sich so schnell nicht auftreiben«, sagte Mr Craven, als er Sam am folgenden Morgen ein Hemd, ein Jackett und Stiefel gab, die einem Nachbarn gehörten.
Sam zog alles dankbar an, aber der Besitzer musste deutlich größer sein als er, sodass er in den Sachen wie ein Clown aussah.
»Zumindest habe ich noch meine Hose«, bemerkte Sam. »Dann muss ich mir keine Sorgen machen, dass sie mir auf die Füße rutscht.«
»Die Leute im Büro werden Verständnis dafür haben«, erklärte Beth, die spürte, wie nervös er war, in diesem Aufzug vor dem Büroleiter zu erscheinen. Sie ging zu ihm und richtete seinen Hemdkragen.
»Mach dir keine Sorgen, Beth«, sagte er. »Auf dem Weg nach Hause gehe ich zur Heilsarmee und sehe nach, ob sie etwas Passendes für mich haben.«
Beth trug immer noch ihr rußgeschwärztes Nachthemd, aber Mrs Craven war zu ihrer Tochter gegangen, um sich von ihr Sachen für sie zu leihen. Erst da war Beth bewusst geworden, dass die meisten Leute nur zwei verschiedene Ausstattungen besaßen, eine für jeden Tag und eine für besondere Anlässe. Sie hatte Glück gehabt, fünf oder sechs Kleider zu besitzen, und es war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass das ungewöhnlich sein könnte.
Das Feuer war jetzt vollständig gelöscht. Mr Craven war dort gewesen, um es sich anzusehen, und sagte, dass die gesamte Treppe zusammengebrochen sei, dass die Fenster explodiert und die Fensterrahmen und die Innentüren zusammen mit den Möbeln verbrannt seien. Der Laden darunter war ebenfalls völlig zerstört. Mr Filbert war noch nicht da, aber er würde einen schlimmen Schock erleiden, wenn er kam.
Mrs Craven kehrte, kurz nachdem Sam zur Arbeit gegangen war, von ihrer Tochter zurück. »Das hier ist wirklich schäbig«, sagte sie und zog ein sehr abgetragenes und verblasstes grünes Kleid aus ihrer Tasche. »Es ist das einzige, das meine Cathy entbehren konnte, aber es sollte dir passen. Und ich habe auch noch diese Stiefel.«
Beth blickte auf die Stiefel hinunter und sah, dass sich das Obermaterial des rechten teilweise von der Sohle gelöst hatte; außerdem waren sie zwei Nummern zu groß für sie. Aber zumindest hatte sie etwas, das sie anziehen konnte.
»Ich müsste heute eigentlich zum Falkner Square«, sagte sie. »Soll ich noch hingehen?«
»Natürlich sollst du das, du kannst es dir jetzt nicht leisten, diesen Job zu verlieren«, sagte Mrs Craven mit einem leicht gereizten Unterton, so als würde sie es schon bereuen, Beth und Sam aufgenommen zu haben. »Und jetzt nimm dir eine Schale mit Wasser mit in das andere Zimmer, und wasch dich gründlich. Du hast immer noch Ruß im Gesicht.«
Als Beth schließlich am Falkner Square ankam, hatte sie Blasen an den Füßen von den zu großen Schuhen.
»Beth!«, rief Mrs Bruce, als sie in die Küche humpelte. »Was um Himmels willen ist mit dir passiert?«
Als Beth die Geschichte erzählte, begann sie zu weinen. Mrs Bruce setzte sie an den Tisch und gab ihr eine Tasse Tee und ihre volle Aufmerksamkeit.
»Deshalb sehe ich heute so aus«, sagte Beth schließlich und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Ich weiß nicht, wo wir wohnen oder wie wir zurechtkommen sollen. Wir hatten gestern eine so schöne Zeit in New Brighton, ich dachte wirklich, wir wären über den Berg und dass jetzt alles besser würde.«
Mrs Bruce tätschelte ihre Schulter. »Es tut mir so leid, Liebes, das muss ein schrecklicher Schock für dich gewesen sein. Aber jetzt schlage ich vor, dass du erst mal diese schrecklichen Stiefel ausziehst, sonst werden deine Blasen noch schlimmer. Dann kümmerst du dich um die Wäsche, und wir reden später noch mal.«
Das klang so, als würde die Haushälterin finden, dass Beth sich lange genug im Selbstmitleid gesuhlt hatte, und so schlecht Beth sich auch fühlte, sie wusste, wie wichtig es war, diesen Job zu behalten. Deshalb zog sie sich die Stiefel aus und kümmerte sich um die Wäsche, froh, als sie einen großen Haufen davon sah, denn er würde sie von ihren Problemen ablenken.
Es war nach zwölf, als Mrs Langworthy in den Hof kam, wo Beth gerade die letzte Wäsche aufhängte. Sie sah sehr hübsch aus in ihrem hellgrün-weiß gestreiften Kleid und mit den mit zwei Schildpattkämmen hochgesteckten roten Haaren.
»Mrs Bruce hat mir von dem Feuer erzählt, Beth«, sagte sie in besorgtem Ton. »Es tut mir so leid.«
»Ich glaube, wir schaffen das schon«, erwiderte Beth. Sie wollte nicht klingen, als sei sie auf Mitleid aus, und es reichte ihr, dass die Herrin extra nach draußen gekommen war, um mit ihr zu sprechen.
»Aber wo werdet ihr jetzt wohnen?«, fragte Mrs Langworthy. »Es ist schwer, wenn man auch noch an ein Kind denken muss.«
»Für die nächsten paar Nächte können wir bei unseren Nachbarn schlafen. Ende der Woche suchen wir uns etwas, wenn Sam seinen Lohn bekommt.«
»Ich kann mir vorstellen, was für Unterkünfte man angeboten bekommt, wenn man verzweifelt ist.« Mrs Langworthy schürzte missbilligend die Lippen. »Diesen Gedanken kann ich einfach nicht ertragen, deshalb möchte ich, dass ihr in die Räume über den Stallungen zieht. Sie stehen leer, seit mein Schwiegervater seinen Schlaganfall hatte und wir den Kutscher entlassen haben.«
Beth konnte ihre Herrin nur ungläubig anstarren.
»Ich habe dich nicht für ein Mädchen gehalten, das nichts zu sagen hat«, sagte Mrs Langworthy mit einem leichten Lächeln.
»Es tut mir leid, Mam«, erwiderte Beth hastig. »Ich war nur so überrascht. Ich kann nicht glauben, dass Sie so freundlich sind.«
»Vielleicht denkst du das nicht mehr, wenn du siehst, wie staubig es dort ist.«
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf Beths Gesicht aus. »Es ist mir egal, ob es das Schwarze Loch von Kalkutta ist. Ich arbeite jeden Tag umsonst für Sie, wenn wir dafür dort wohnen dürfen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Mrs Langworthy knapp. »Lauf schnell rauf und putz es, bevor du Molly und deinen Bruder holst. Ich bitte Mrs Bruce, ein paar Decken und Bettzeug für dich rauszusuchen.«
Als Beth oben an der Holztreppe in den unbenutzten Stallungen stand und in das erste der zwei Zimmer blickte, fasste sie neuen Mut. Es war sehr klein und sehr schmutzig, aber sie konnte sehen, dass es hell und luftig sein würde, wenn sie die Fenster geputzt hätte, denn es hatte Fenster auf beiden Seiten, von denen man in den Hof der Langworthys und auf die Seitenwand der Stallungen blickte. Es gab ein Waschbecken, einen Ofen und einen Tisch und Stühle. Aufgeregt lief sie in das nächste Zimmer, wo ein altes eisernes Bettgestell und ein Rollbett standen, das sie für Sam in die Küche stellen konnte.
Sie hatte keine wirkliche Vorstellung davon, was sie und Sam für eine Miete bekommen hätten, die sie sich leisten konnten. Aber sie war absolut sicher, dass es nicht so etwas gewesen wäre, sondern wahrscheinlich nur ein Zimmer in den Slums.
Beth putzte die Zimmer zwei Stunden lang wie eine Besessene. Sie stellte die beiden Matratzen zum Lüften nach draußen in die Sonne, schrubbte die Böden und putzte die Fenster. Als sie fertig war, gab es nirgendwo mehr Spinnweben, aber sie sah aus wie ein Schornsteinfeger, und ihre nackten Füße waren schwarz.
Mrs Bruce und Kathleen kamen über den Hof, als sie gerade fertig war, und jede von ihnen trug einen Arm voller Decken, Kissen und frischer Laken. Sie halfen Beth, die beiden Betten zu machen, und Mrs Bruce legte ein rot-weiß kariertes Tuch über den Tisch.
»Ist es nicht wundervoll?«, keuchte Beth. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand gütiger ist als Mrs Langworthy.«
»Sie hatte auch schon sehr viel Pech im Leben und musste harte Zeiten durchstehen«, erklärte ihr Mrs Bruce. »Und sie sagte, du sollst nach oben gehen und ein Bad nehmen und dir die Haare waschen, bevor du Molly holst. Sie hat dir auch ein paar neue Kleider rausgesucht.«
Beth streckte sich in dem warmen Wasser aus und ließ ihr Haar an der Oberfläche treiben. Sie war immer noch fassungslos darüber, wie sie innerhalb weniger Stunden von völliger Verzweiflung zu solcher Glückseligkeit gelangen konnte.
Bisher hatte sie immer nur in einer Zinkwanne gebadet, und seit sie fünf oder sechs war, hatte sie sich nicht mehr hineinlegen können. Sie hoffte nur, dass die Leute heute auch so nett zu Sam gewesen waren wie zu ihr.
Die Kleider, die Mrs Langworthy ihr gegeben hatte, lagen zusammengefaltet auf dem Badezimmerhocker. Ein dunkelblauer Rock, eine blaue Bluse mit weißen Punkten, ein Hemdchen, Unterhosen und ein Petticoat. Sie fragte sich, ob Mrs Langworthy wusste, dass sie unter diesem schrecklichen grünen Kleid nichts trug. Mrs Bruce hatte ihr auch ein Paar Stiefel und Strümpfe von sich gegeben, da die von Mrs Langworthy zu groß waren.
So schön es im Bad auch war, Beth wusste, dass sie sich jetzt beeilen und zu Mrs Craven und Molly zurückmusste.
»Also, da brat’ mir doch einer ’n Storch!«, keuchte Mrs Craven, als Beth in ihren neuen Sachen und mit glänzenden Haaren, die aussahen wie poliertes Ebenholz, in ihrem Hof erschien. »Jemand war heute sehr gut zu dir, und das war nicht die Heilsarmee!«
Beth lächelte, zum Teil, weil sie sich wieder ein bisschen wie früher fühlte, sauber und ordentlich, aber auch, weil es ihr gefiel, dass Mrs Craven mit Molly draußen in der Sonne saß.
Sie hob ihre kleine Schwester von der Decke hoch, auf der sie saß, und umarmte sie. »Beth hat eine hübsche kleine Überraschung für dich«, sagte sie.
»Na, da seid ihr wohl auf die Füße gefallen, so viel steht fest«, rief Mrs Craven, nachdem Beth ihr von den Ereignissen des Vormittags berichtet hatte. »Das nenn ich Glück!«
Beth war plötzlich ein bisschen verlegen, denn es klang, als wäre ihre Nachbarin fast enttäuscht, dass ihr Schicksal sich so schnell zum Guten gewendet hatte. »Es wird mir sehr fehlen, Sie nicht mehr gegenüber zu haben«, sagte sie schnell. »Sie waren so freundlich, Mrs Craven, schon seit Papas Tod. Ich weiß nicht, was Sam und ich ohne Sie gemacht hätten.«
Ihre Nachbarin strahlte. »Vergiss nur nicht, mich hin und wieder zu besuchen. Ich werde euch alle vermissen, aber vor allem meine kleine Molly.« Sie streckte dem Baby einen Finger hin, den es sofort ergriff. »Und jetzt habe ich auch noch ein paar Neuigkeiten für dich. Die Polizei hat Jane Wiley verhaftet. Der Polizist, der gestern Abend mit Sam geredet hat, kam heute Morgen, nachdem du gegangen warst, und erzählte es mir. Sie leugnet es natürlich, aber ihre Sachen rochen nach Petroleum. Der Polizist sagte, jemand in ihrem Haus habe auch ausgesagt, dass sie nachts noch das Haus verlassen hat, und zwar nachdem Thomas aus dem Pub zurück war.«
»Was passiert jetzt mit ihr?«
»Sie wandert natürlich ins Gefängnis«, erklärte Mrs Craven triumphierend. »Und für lange Zeit, denke ich. Ich hoffe, sie verrottet da.«
Beth nickte zustimmend. »Wissen Sie, wie es Mr Filbert und den anderen beiden Ladeninhabern geht?«, fragte sie. »Es muss schrecklich für sie sein, dass sie ihre Geschäfte verloren haben.«
»Ich hörte, dass sie ganz außer sich waren. Plünderer sind in den Eisenwarenladen eingedrungen, bevor sie die Fenster mit Brettern vernageln konnten.«
Beth schüttelte angewidert den Kopf. »Irgendwas Neues von Ernest und Peter?«
»Sie waren heute Morgen da, um ihre Räder zu holen, und haben sich nach euch erkundigt. Jemand in der Lord Street hat sie aufgenommen und sie mit Kleidung ausgestattet, aber sie kommen zurecht, sie haben Familien mit ein bisschen Geld, die ihnen helfen werden.«
Da fiel Beth wieder ein, dass sie das Kleid und die Schuhe noch zurückgeben musste, die sie sich geliehen hatte. Sie reichte beides Mrs Craven und holte dann aus der Tasche den großen Hackfleischauflauf, den Mrs Cray, die Köchin, ihr gegeben hatte.
»Ich wünschte, ich hätte Geld, um Ihnen etwas zu kaufen, mit dem ich Ihnen zeigen könnte, wie dankbar ich für Ihre Freundlichkeit bin«, sagte sie, »aber vielleicht könnten wir das hier zusammen essen, bevor wir nachher gehen, und wenn ich Sie wieder besuchen komme, dann nicht mit leeren Händen.«
»Gott schütze dich.« Mrs Cravens Augen strahlten, als sie den Auflauf sah. »Du bist ein gutes Mädchen, Beth, deine Mutter wäre stolz auf dich.«
Sam kam gegen halb sechs mit einem braunen Paket in der Hand zurück. Er trug noch immer das zu große Jackett mit dem Hemd und sagte, die anderen Angestellten hätten ihn den ganzen Tag damit aufgezogen. Aber der Büroleiter hatte ihm fünf Pfund aus dem Hilfsfonds der Firma gegeben, der in Not geratenen Angestellten helfen sollte.
»Ich habe mir im Secondhand-Laden ein paar Sachen gekauft«, sagte er. »Eigentlich wollte ich sagen, dass du dir auch welche holen sollst, aber es sieht aus, als wärst du schon versorgt. Dann haben wir mehr für die Miete unserer neuen Unterkunft übrig.«
Beth erzählte ihm dann die Neuigkeiten, worüber Sam fassungslos war. »Warum tut sie das?«, fragte er.
»Weil sie freundlich und großzügig ist, deshalb sorgen wir besser dafür, dass sie es nicht bereut.« Beth lächelte.
Es stellte sich heraus, dass der Kinderwagen, den sie in den hinteren Schuppen gestellt hatten, vom Feuer verschont worden war und ihn lediglich eine Rußschicht bedeckte. Nach dem Essen setzten Beth und Sam Molly zusammen mit einer kleinen Tasche voller Babysachen, die die Leute für sie vorbeigebracht hatten, und der Geige hinein, verabschiedeten sich von den Cravens und machten sich auf den Weg zum Falkner Square.
»Ich kann noch gar nicht fassen, dass wir alles verloren haben«, seufzte Sam, als sie eine Abkürzung durch eine Gasse gingen, die sie zur Seel Street führen würde. »Du mochtest Jane Wiley vom ersten Augenblick an nicht. Ich wünschte, ich hätte deinem Urteil vertraut.«
»Das war nicht deine Schuld«, erwiderte Beth grimmig. »Sie hätte es vielleicht nicht getan, wenn ich sie nicht so überstürzt rausgeworfen hätte. Aber lass uns nicht mehr darüber nachdenken. Zum Glück ist niemand bei dem Brand umgekommen, und vielleicht ist ein neuer Anfang gut für uns.«
»Aber wir müssen härter werden«, meinte Sam nachdenklich. »Wir können nicht länger zulassen, dass uns Dinge passieren. Wir müssen herausfinden, was wir wirklich wollen, und danach streben.«
»Was willst du denn?«, fragte Beth. Es war ein wunderbar warmer Abend, und obwohl sie schrecklich müde war, hatte sie das Gefühl, alles bei sich zu haben, was sie wollte: Molly schlief im Kinderwagen, Sam ging neben ihr, und ein neues Heim wartete auf sie.
»Ich will nach Amerika«, sagte er. »Ich will nicht unterwürfig sein, auf einem Hocker sitzen und etwas in Depotbücher kritzeln und das Gefühl haben, dass ich dankbar für den Hungerlohn sein muss, den ich jede Woche bekomme. Und ich will auch nicht, dass du vorzeitig alterst, während du anderer Leute Sachen schrubbst. Amerika ist ein großes junges Land voller Möglichkeiten. Dort könnten wir es weit bringen.«
»Ich bin sicher, das könnten wir.« Beth hatte Angst zu fragen, ob Molly in seinem Traum auch vorkam. »Aber zuerst müssen wir wieder auf die Beine kommen.«