5

»Wir werden die billigste Beerdigung nehmen«, beharrte Sam stur. »Ihretwegen kann Vater nicht in heiliger Erde ruhen, und niemand ist zur Beerdigung gekommen und hat gesagt, was für ein guter Mann er war. Warum soll es ihr besser gehen?«

»Wir können ihr kein Armenbegräbnis geben«, erwiderte Beth müde, denn sie waren das schon mehrmals durchgegangen, seit er zum Abendbrot nach Hause gekommen war, und jetzt war es schon fast elf Uhr. »Was würden die Leute von uns denken?«

»Warum sollten wir uns darum scheren?«, erwiderte er aufbrausend. »Abgesehen von den Cravens reden seit Papas Tod sowieso alle schlecht über uns. Lass sie es doch weiter tun.«

Beth fing an zu weinen, weil sie diese hartherzige Person nicht kannte, die den Platz ihres Bruders eingenommen hatte. Ihre Mutter war noch keine vierundzwanzig Stunden tot, ihre Leiche lag noch immer im Bett, und doch war Sam heute Morgen zur Arbeit gegangen, als wäre nichts passiert. Sie verstand natürlich, dass er Angst hatte, seinen Job zu verlieren, wenn er nicht ging, aber er hätte ihr das erklären können, nur ein paar freundliche Worte, um sie wissen zu lassen, dass er nicht auch noch auf sie wütend war.

»Weine nicht, Beth«, sagte er, und sein Blick wurde weicher. »Ich will nicht grausam sein, aber wir sind in einer verzweifelten Lage. Wir können kein Geld für ihre Beerdigung ausgeben, das wir nicht haben. Und das Baby muss auch weg!«

Beth stellte sich schützend vor Mollys Wiege. »Sag das nicht, Sam. Sie ist unsere Schwester, und ich lasse sie nicht im Stich. Du kannst das Klavier oder alles andere verkaufen, um an Geld zu kommen, wir können ein Zimmer untervermieten oder in eine billigere Wohnung ziehen, aber Molly bleibt bei uns.«

»Ich kann ihren Anblick nicht ertragen«, sagte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Sie erinnert mich ständig daran, wozu Mama Papa getrieben hat.«

»Wenn Mama nicht so ehrlich und so mutig gewesen wäre, uns die Wahrheit zu gestehen, dann wüssten wir es jetzt gar nicht«, widersprach Beth. »Außerdem würde Papa sich im Grabe umdrehen, wenn wir uns von einem hilflosen Baby abwenden, selbst wenn es nicht sein eigenes war. Also musst du die Menschlichkeit aufbringen zu akzeptieren, dass wir Molly nicht im Stich lassen dürfen.«

Sam sah sie nur nachdenklich an.

Es dauerte eine Weile, bevor er wieder sprach. »So gesehen muss ich dir zustimmen, schätze ich.« Er seufzte. »Aber erwarte nicht, dass ich etwas für sie empfinde. Und mach mir keine Vorwürfe, wenn du feststellst, was es bedeutet, arm zu sein.«

Es reichte Beth, dass Sam nachgegeben hatte. »Dann mache ich auch einen Kompromiss und organisiere die billigste Beerdigung. Aber du darfst mir auch keine Vorwürfe machen, wenn du später feststellst, dass du dich deswegen schämst.«

Weihnachten war trostlos; sie hatten weder das Geld noch die Lust, das Fest auf feierliche Weise zu begehen. Sie ließen Molly nur so lange bei Mrs Craven, um in die Kirche zu gehen, aber das tröstete sie nicht, denn es erinnerte sie an die fröhlichen Weihnachtsfeste der Vergangenheit. Ein paar Leute kamen zu ihnen und sprachen ihnen ihr Beileid aus, aber in ihren Worten schwang statt Ehrlichkeit nur Neugier mit.

Die Beerdigung fand zwei Tage später statt, und Mrs Cravens älteste Tochter passte auf Molly auf. Heftiger Regen hatte den Schnee schmelzen lassen, aber ein eisiger Wind wehte über den Friedhof und ließ sie furchtbar frieren, während sie den billigen Sarg in die Erde hinunterließen. Abgesehen von Sam und Beth gab es nur noch drei andere Trauergäste: die Cravens und Dr. Gillespie. Als Vater Reilly die abschließenden Worte der Trauerrede sprach, blickte Beth hinüber zu der Stelle, wo ihr Vater außerhalb des Friedhofs beerdigt war. Sie dachte daran, wie ungerecht es war, dass ein Mann, der sich niemals gegen irgendjemanden versündigt hatte, dort lag, während seine ehebrecherische Frau auf dem Friedhof ruhen durfte.

In der ersten Februarwoche, nachdem Sam siebzehn und Beth sechzehn geworden war, mussten sie das Klavier verkaufen. Beth hing nicht wirklich daran, denn schließlich blieb ihr ja noch ihre geliebte Geige, aber zu sehen, wie das Piano aus dem Fenster auf die Straße hinuntergehievt wurde, ließ sie über die tragische Ironie der Ereignisse nachdenken.

Für ihre Eltern war das Klavier ein Symbol gewesen, dass es ihnen gelungen war, ihre Kinder in die Mittelklasse zu bringen und ihnen dadurch die Entbehrungen zu ersparen, die sie selbst erleben mussten. Doch weil Sam und Beth so behütet und ohne Mangel aufgewachsen waren und kaum etwas über die harte Realität des Lebens wussten, fehlte ihnen jetzt die Fähigkeit, mit der Armut fertigzuwerden.

Beth konnte Kuchen backen, den Tisch richtig decken, ein Hemd stärken und bügeln, und sie besaß noch ein Dutzend anderer kultivierter Fähigkeiten, doch niemand hatte ihr beigebracht, die Mahlzeiten für die Woche so zu planen, dass sie mit wenig Geld auskam. Sam war vielleicht in der Lage, Kohlen in den Keller zu schaufeln, Schnee im Hof zu schippen und pünktlich zur Arbeit zu gehen, aber er hatte keine Ahnung, wie man ein verstopftes Rohr reinigte oder eine kaputte Gewichtsschnur an den Schiebefenstern reparierte.

Während ihrer gesamten Kindheit hatte in der Stube, im Herd in der Küche und selbst in den Schlafzimmern immer ein Feuer gebrannt, wenn es sehr kalt war. Die Gaslampen wurden in den Zimmern entzündet, wenn es dunkel wurde, es hatte immer Obst in der Schale und Kuchen in der Dose gelegen, und es hatte jeden Tag Fleisch auf dem Tisch gestanden.

Die Kohlen gingen ihnen kurz nach Weihnachten aus, und als sie neue bestellten, waren sie entsetzt über den Preis und konnten nur noch den Herd in der Küche heizen. Das Gas kostete so viel Geld, dass sie kaum noch wagten, die Lampen anzumachen. Obst und Kuchen standen nicht mehr auf ihrem Speiseplan.

Sams Lohn war, lange bevor der Freitag kam, für Essen ausgegeben, und nachdem sie alle Konserven und Vorräte an Zucker und Mehl aufgebraucht hatten, die ihre Mutter so geduldig in der Speisekammer angesammelt hatte, gab es bis zum Zahltag nur noch Brot.

Vielleicht hätte Sam warten sollen, bis sie einen besseren Preis für den geliebten runden Mahagoni-Tisch ihrer Mutter mit den passenden Stühlen bekamen, aber sie brauchten das Geld, um die Kohlen und die Rechnung von Dr. Gillespie zu bezahlen. Es bestand kein Zweifel, dass man sie beim Verkauf der Standuhr betrogen hatte. Aber sie wussten beide nicht, was diese Dinge wirklich wert waren oder dass Antiquitätenhändler Verzweiflung riechen konnten.

Obwohl Beth sich liebevoll um Molly kümmerte, hatte sie nicht geahnt, wie einsam man war, wenn man den ganzen Tag mit einem Baby allein zu Hause saß. Sie schien nie eine Minute für sich selbst zu haben, um zu lesen, Geige zu spielen oder ein Bad zu nehmen. Sam interessierte sich nicht für Mollys Fortschritte, wenn er von der Arbeit kam, und sie hatte nur Mrs Craven zum Reden und machte sich ständig Sorgen um das Geld.

Mitte März sah Sam keine andere Möglichkeit mehr, als Zimmer zu vermieten, damit sie über die Runden kamen.

Einer der älteren Gehilfen aus seinem Büro hatte ihm seinen Cousin Thomas Wiley und dessen Frau Jane vorgeschlagen, die bei ihm und seiner Familie wohnten, seit Thomas aus Manchester nach Liverpool gekommen war, um hier bei der Post zu arbeiten. Das Paar war Mitte dreißig, und Beth konnte Jane vom ersten Moment an nicht leiden. Alles an ihr war scharf – ihre Augen, die im Raum umherwanderten, während sie sprach, ihre Nase und ihre Wangenknochen, und auch ihre Stimme hatte einen scharfen Unterton.

Sie zeigte kein Interesse an Molly, und sie musterte Beth von oben bis unten, als schätze sie den Wert ihrer Kleidung ab. Als Beth vorschlug, dass sie sich abends beim Kochen abwechseln könnten, erklärte Jane ihr, dass sie nicht koche.

Ihr Mann Thomas war sympathischer, ein jovialer, rotgesichtiger Mann, der sehr dankbar dafür war, dass sie ihnen die Stube und Beths altes Schlafzimmer im obersten Stock über der Küche angeboten hatten, weil sie mit Molly jetzt in dem alten Zimmer ihrer Eltern schlief. Thomas sagte, er habe die Hoffnung schon fast aufgegeben, irgendwo eine anständige Unterkunft zu finden, und dass man in den Zimmern, die er sich angesehen hatte, nicht mal einen Hund hätte halten können.

Traurigerweise wurde bald klar, dass Thomas der Alkohol wichtiger war als seine Frau oder sein Zuhause. An den meisten Abenden kam er erst nach zehn Uhr zurück.

Beth versuchte wirklich, mit Jane auszukommen, aber es war von Anfang an klar, dass diese zu glauben schien, Untermieter müssten bedient werden. Am zweiten Tag befahl sie Beth, ihr die Zinkwanne in ihr Zimmer zu stellen. Als Beth ihr erklärte, dass sie und Sam immer in der Küche badeten, weil es da wärmer und bequemer sei, und dass Jane ihre Wanne selbst füllen und leeren müsse, stolzierte sie empört herum und behauptete, so etwas noch nie gehört zu haben.

Sie verschüttete Wasser auf dem Küchenboden, wenn sie badete, und machte keine Anstalten, es wieder aufzuwischen. Sie beschwerte sich darüber, dass Mollys Schreien sie nachts wecke und dass die Matratze des Bettes zu hart sei. Beth fütterte Molly immer möglichst schnell, wenn diese nachts aufwachte, und verbrachte eine gute Stunde damit, die Federmatratze draußen aufzuschütteln, um sie weicher zu machen, aber Jane zeigte sich in keiner Weise erkenntlich. Sie richtete manchmal Chaos an, wenn sie nur einen Tee kochte, und räumte hinterher nie auf. Sie legte ihre Wäsche in die Spüle und verschwand dann, sodass Beth erst alles für sie waschen musste, wenn sie die Spüle benutzen wollte.

Tag für Tag sah Beth, wie das gemütliche und geordnete Leben, zu dem sie erzogen worden war und das sie verzweifelt versuchte aufrechtzuerhalten, immer stärker ausgehöhlt wurde. Wenn sie Molly in der Spüle badete, kam Jane herein und fing an, Schinken zu braten. Dabei warf sie das saubere Nachthemd, das Leibchen und die Windel, die am Herd zum Lüften hingen, auf den Boden. Wenn Beth sich in den Sessel setzen wollte, um Molly zu füttern, saß Jane bereits darin. Sie bediente sich an ihrem Essen und wusch keine Teller oder Töpfe ab. Beth gab bald die Hoffnung auf, dass sie irgendwann anbieten würde, auch einmal das Putzen der Küche, der Treppe oder des Plumpsklos zu übernehmen; und Thomas kam abends oft mit schmutzigen Stiefeln nach Hause, und am nächsten Morgen fand Beth dann eine Spur, die über den Flur die Treppe hinaufführte.

Beth brachte es einfach nicht fertig, sich darüber zu beschweren. Zum einen hatte sie ein bisschen Angst vor Jane, und außerdem wusste sie, wie verzweifelt Sam und sie die Miete brauchten. Doch es war so schwer, mitanzusehen, wie ihr früher stets so sauberes und ordentliches Zuhause mehr und mehr verkam, oder sich Thomas’ betrunkenes Gefasel spät in der Nacht anzuhören und nie wirklich eine Privatsphäre zu haben. Klavier oder Geige zu spielen war Beths bewährte Methode gewesen, vor ihren Problemen zu fliehen, aber jetzt besaßen sie kein Klavier mehr, und solange Jane um sie herumschlich, mochte sie nicht Geige spielen. Sie konnte ihre eigene Anspannung spüren und hatte Angst, was passieren würde, wenn ihr eines Tages der Geduldsfaden riss.

Es passierte an einem Morgen im Juli. Sam und Thomas waren eine Stunde zuvor zur Arbeit gegangen. Beth kam mit Molly auf dem Arm in die Küche, um sie zu füttern, und sah, wie Jane Milch aus der Babyflasche in ihren Tee goss.

»Was machen Sie denn da?«, rief Beth. »Die ist für Molly.«

»Es ist keine andere Milch mehr da«, erwiderte Jane.

»Na, dann gehen Sie und kaufen Sie welche«, gab Beth wütend zurück. »Was für ein Mensch stiehlt einem Baby sein Essen?«

»Wag es nicht, so mit mir zu reden.« Janes Augen wurden schmal, und sie streckte Beth drohend ihr dünnes Gesicht entgegen. »Du fütterst sie sowieso viel zu viel, deshalb ist sie so fett.«

Mit sieben Monaten war Molly mollig, aber Beth war stolz darauf, dass sie so gesund und stark war. Sie hatte üppiges dunkles Haar, vier Zähne und konnte jetzt ohne Hilfe sitzen. Sie war ein glückliches, zufriedenes Baby, das den ganzen Tag lang lächelte und vor sich hin gurgelte.

»Sie ist wunderschön und nicht fett, und Sie sollten sich schämen«, fuhr Beth sie an. »Es ist schlimm genug, dass Sie uns das Essen stehlen. Muss ich jetzt Mollys Milch auch noch verstecken?«

»Nennst du mich eine Diebin?«, kreischte Jane. Sie griff in Beths Haare und riss ihr heftig den Kopf zurück, was Beth aufschreien ließ. »Genau, heul doch. Du hältst dich für was Besseres, was? Fragt sich nur, wieso! Dein Alter hat sich aufgehängt, und alle wissen, warum.«

Sie ließ Beths Haare los und blickte sie verächtlich an. »Weißt du, dass sich alle über deine Ma das Maul zerreißen? Tom und ich hörten es, bevor wir herzogen. Dein Pa muss nicht ganz richtig im Kopf gewesen sein, weil er sich aufgehängt hat, anstatt sie auf die Straße zu setzen. Kein Wunder, dass dein Bruder mit dem Balg nichts zu tun haben will.«

Beth wich mit Molly auf dem Arm zurück. Sie war entsetzt, dass die Wahrheit über ihre Mutter allgemein bekannt war, und sie fürchtete sich auch vor Jane, doch sie hatte genug, und sie würde sich von dieser Frau nicht länger ausnutzen lassen.

»Was Sie da sagen, ist völliger Unsinn«, schrie sie zurück. »Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Mutter beleidigen, und deshalb packen Sie jetzt Ihre Sachen und verlassen auf der Stelle mein Haus.«

»Und wie willst du mich dazu zwingen?« Jane stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Dein großer Bruder schmeißt mich raus, ja?« Sie brach in Gelächter aus. »Er ist so weich wie Scheiße.«

Plötzlich wusste Beth, dass sie stark sein und für ihr Recht kämpfen musste. Sie wandte sich um, lief ins Schlafzimmer und legte Molly in ihre Wiege. Die Kleine protestierte lautstark, doch Beth ignorierte sie und rannte zurück in die Küche, um sich Jane zu stellen.

»Ich brauche meinen Bruder nicht«, sagte sie trotzig. »Ich bin durchaus in der Lage, mit Leuten wie Ihnen fertigzuwerden. Verschwinden Sie auf der Stelle! Ich packe Ihre Sachen zusammen und stelle sie in den Hof, damit Thomas sie später abholen kann.«

Jane sprang mit erhobener Hand auf sie zu, um sie zu schlagen, aber Beth war schneller, umfasste ihr Handgelenk und drehte ihr den Arm um, sodass die andere Frau vor Schmerzen aufschrie. »Raus!«, brüllte Beth und drehte den Arm noch weiter nach oben, während sie ihre Mieterin zur Treppe schob. »Und wenn Sie versuchen, zurückzukommen, dann werden Sie das bereuen!«

Jane wehrte sich und versuchte, sie mit ihrer freien Hand zu kratzen, aber Beth war jung und stark und so aufgebracht, dass es ihr gelang, die ältere Frau die Treppe hinunter und durch die Hintertür zu bugsieren. Als sie draußen im Hof standen, schubste sie Jane so sehr, dass sie hinfiel.

»Das wirst du büßen«, schrie Jane auf sie herab. »So kommst du mir nicht davon. Ich will meine Sachen!«

»Die können Sie haben«, sagte Beth. »Ich werfe sie aus dem Fenster.«

Damit drehte sie sich um, ging durch die Hintertür, schob den Riegel vor und rannte nach oben. Sie brauchte nur ein paar Minuten, um den Frauenmantel, den Hut, die Tasche und ein paar Stiefel im Schlafzimmer zusammenzuraffen, dann öffnete sie das Küchenfenster und warf alles auf den Hof hinunter.

»Seien Sie dankbar, dass Sie die bekommen haben«, schrie sie. »Die restlichen Sachen stelle ich ins Klohäuschen, damit Sie sie heute Abend abholen können.«

Mr Craven war in die Gasse hinter dem Hof getreten und blickte fragend zum Fenster hoch, an dem Beth stand. »Ich schmeiße sie gerade raus, weil sie meine Eltern beleidigt hat«, rief sie ihm zu. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihr den Weg zu zeigen?«

Sie blieb noch lange genug am Fenster stehen, um zu sehen, wie ihr Nachbar Jane aus dem Hinterhoftor führte, und um die wüsten Beschimpfungen zu hören, die die Frau gegen sie ausstieß.

Irgendwie gelang es Beth, Molly ihre Flasche zu geben, obwohl sie wie Espenlaub zitterte, weil sie noch so sehr unter Schock stand. Sie hörte, wie Mrs Craven im Hof nach ihr rief, und ging nach unten, um sie hereinzulassen.

»Oh Liebes!«, rief ihre Nachbarin, als sie sah, wie blass und aufgewühlt Beth war. »Wir hörten das Schreien, deshalb ging mein Alfie nachsehen, was passiert ist.«

Das Mitgefühl in ihrer Stimme ließ Beth weinen, und Mrs Craven umarmte sie, dann nahm sie ihr Molly ab. »Ich mach uns ’ne schöne Tasse Tee, und dann erzählst du mir alles.«

»Es ist keine Milch mehr da. So hat das alles angefangen«, fing Beth an zu erklären.

»Dann gehe ich schnell welche holen«, erwiderte Mrs Craven. »Und du solltest Molly wickeln, während ich weg bin. Sie stinkt!«

Eine halbe Stunde später hatte Beth alles berichtet. Durch den Tee und das Mitgefühl ihrer Nachbarin ging es ihr schon besser.

»Ich wusste sofort, als ich sie sah, dass sie nichts taugt. Total ordinär und gnadenlos«, sagte Mrs Craven und schaukelte Molly auf ihrem Knie. »Als hättest du nicht schon genug, mit dem du fertig werden musst! Aber du darfst dir keine Gedanken darüber machen, was sie über deine Mutter gesagt hat.«

»Stimmt es denn, dass die Leute so über sie reden?«

Mrs Craven runzelte die Stirn. »Zu mir hat niemand so etwas gesagt. Wenn sie es getan hätten, dann hätt’ ich ihnen auch den Kopf gewaschen. Aber mein Alfie hat erzählt, dass es im Fiddlers rumgegangen ist.«

Das Fiddlers Inn lag um die Ecke an der Lord Street. Papa war kein Trinker gewesen, aber die meisten ihrer männlichen Nachbarn verkehrten dort, auch Thomas Wiley.

Es war Beth nicht in den Sinn gekommen, dass die Leute annehmen könnten, Molly wäre nicht das Kind ihres Vaters, und sie war entsetzt, als sie erfuhr, dass sie es taten. Aber sie würde nicht zugeben, dass die Gerüchte stimmten, nicht einmal der freundlichen Mrs Craven gegenüber.

»Warum sind die Leute so grausam?«, fragte sie verwirrt.

»Manchmal ist es Eifersucht. Deine Familie wirkte immer so perfekt, deine Mutter war eine schöne Frau, dein Vater hatte ein florierendes Geschäft und zwei Kinder, auf die er stolz sein konnte. Es war allen ein Rätsel, warum er sich das Leben genommen hat, deshalb suchten sie nach einer Erklärung.«

»Was wird jetzt aus uns?«, fragte Beth traurig. »Wir brauchen einen Untermieter, um über die Runden zu kommen. Sam wird sehr wütend auf mich sein.«

»Das glaube ich nicht, Beth.« Mrs Craven legte eine Hand über Beths. »Du hast heute sehr viel Mut bewiesen, das wird er bewundern. Und jetzt helfe ich dir, die Sachen der Wileys zusammenzupacken. Mein Alfie wird die Ohren offen halten und dir helfen, falls sie zurückkommen und Ärger machen.«