3
Während Beth den Tisch für das Abendbrot deckte, beobachtete sie, wie ihre Mutter am Herd in einem Eintopf rührte. Wie immer war sie in sich selbst versunken und nahm die Anwesenheit ihrer Tochter kaum wahr.
Seit drei Monaten war sie jetzt Witwe, aber ihr Zustand hatte sich nicht verändert. Obwohl sie genauso wie immer wusch, kochte und putzte, sprach sie nur, wenn man ihr eine Frage stellte, und interessierte sich für nichts und niemanden.
Mrs Craven, ihre freundliche Nachbarin, die ihnen in der Zeit kurz nach dem Tod ihres Vaters eine so große Stütze gewesen war, hatte zu Beth und Sam gesagt, dass sie geduldig mit ihr sein sollten, weil jeder Mensch anders mit der Trauer umging, und dass ihre Mutter ihr Schweigen brechen würde, wenn sie so weit sei. Aber vor einem Monat hatte selbst Mrs Craven die Geduld mit ihrer Mutter verloren, als diese sie wegschickte, als sie zu Besuch kam.
»Ihr Gesicht war so kalt wie ’n Marmorgrabstein! Hat mir richtig ’ne Gänsehaut gemacht, weil’s so war, als würde sie mich gar nicht kennen«, berichtete sie Beth verärgert.
Beth konnte nicht glauben, dass ihre Mutter die einzige Person vor den Kopf stieß, die eine wirkliche Freundin gewesen war. Aber sie nahm ja auch nicht zur Kenntnis, wie viel Sam für sie tat.
Er hatte alles versucht, um den Laden weiterzuführen, aber die Leute, die immer ihre Stiefel und Schuhe zum Reparieren gebracht hatten, kamen nicht mehr. Ob das an dem Selbstmord lag oder ob sie dachten, Sam verstünde sein Handwerk nicht, war nicht klar, deshalb vermietete Sam den Laden an jemand anderen. Ihre Mutter zuckte nur mit den Schultern, als er es ihr sagte.
Beth fand, dass ihr verträumter und früher sehr fauler Bruder auf beeindruckende Weise seinen Mann stand, indem er sich so souverän um alle Probleme der Familie kümmerte. Jetzt, wo jemand unten fast die gesamte Miete für das Haus zahlte, mussten sie nur wenig Geld aufbringen, um in ihrer Wohnung bleiben zu können. Sam hatte sich eine Stelle als Bürogehilfe bei einer Reederei besorgt und brachte jeden Penny, den er verdiente, nach Hause, um sie alle durchzubringen. Ihre Mutter hätte ihn in den Himmel loben sollen, anstatt ihn zu ignorieren.
Aber sie lobte Beth ja auch nicht dafür, dass sie eine Stelle als Verkäuferin in einem Strumpfwarenladen gefunden hatte. Sie fragte nie, wie lange sie arbeiten musste oder was sie verdiente.
Vor einer Weile hatte Sam einmal gemeint, es wäre, als hätte jemand ihre Mutter gegen eine stumme Dienstbotin ausgetauscht. Es war ein Scherz gewesen, aber genauso war es, denn sie kochte und servierte ihnen die Mahlzeiten ohne ein Wort. Sie war nie sehr gesprächig gewesen, hatte nur hin und wieder ein bisschen über die Nachbarn geklatscht, aber sie war immer eine gute Zuhörerin gewesen und hatte kleine Veränderungen an ihnen sofort bemerkt, hatte sich nach ihrem Befinden erkundigt, wenn sie krank wirkten oder traurig. Jetzt fiel es ihr nicht auf, wenn sie müde oder erkältet waren; sie machte nicht einmal eine Bemerkung über das Wetter. Wenn sie sich erkundigten, wie ihr Tag gewesen war, dann antwortete sie mit einem Satz: »Ich habe die Wäsche gewaschen«, oder: »Ich habe die Betten bezogen.« Beth kochte innerlich vor Wut und wollte sie anschreien, dass sie noch Sam und sie habe und das Heim, das sie liebe, während die Welt ihrer Kinder völlig auf den Kopf gestellt worden sei. Sam saß zehn Stunden am Tag an seinem Schreibtisch und musste nach der Pfeife von Männern tanzen, die ihn wie Dreck unter ihren Schuhen behandelten. Er konnte nicht mehr ein oder zwei Stunden runter zu den Docks gehen wie sonst; jeder Penny, den er verdiente, wurde gebraucht.
Beth mochte sich gewünscht haben, in einem Laden zu arbeiten, aber sie stellte bald fest, dass Hooley’s Strumpfwarenladen ganz anders war, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie und die anderen Verkäuferinnen wurden jeden Morgen begutachtet, ob ihre Fingernägel sauber waren und ihre Schuhe poliert, und ein paar lose Haarsträhnen waren bereits ein schweres Vergehen. Die Kunden waren oft unhöflich, aber sie musste immer lächeln und sie wie Könige behandeln. Sie musste erst um Erlaubnis fragen, bevor sie auf die Toilette gehen durfte, und wenn man sich nur mit einer anderen Verkäuferin unterhielt, konnte man dafür schon gefeuert werden. Ständig stand sie unter Beobachtung, und den ganzen Tag auf den Beinen zu sein erschöpfte sie sehr. Ihre Mutter ging fast nie aus, deshalb sah sie die verächtlichen Blicke der Leute nicht oder hörte ihre gemeinen Bemerkungen. Sam und Beth lebten jeden Tag damit.
Aber alle Sorge, alle Verbitterung und aller Ärger der vergangenen Monate waren heute auf einen Schlag von einem sehr viel ernsteren Problem verdrängt worden.
Heute war der Wochentag, an dem der Laden früher schloss, und Beth kam kurz nach eins nach Hause. Sie wollte etwas essen und dann versuchen, ihre Mutter zu einem Spaziergang in der Sonne zu überreden.
Die Leute, die jetzt den Laden führten, wollten auch Schuhe verkaufen, und in den vergangenen Wochen hatte ein Tischler Regale und eine Theke eingebaut. Als Beth durch die Hintertür kam, arbeitete ein Maler im Laden, und die Tür stand weit auf. Er entschuldigte sich für den Farbengeruch und sagte, er hoffe, dass ihrer Mutter nicht schlecht davon geworden war, weil er gehört habe, wie sie sich auf dem Plumpsklo übergeben habe.
Beth war natürlich alarmiert die Treppe hinauf zu ihrer Mutter gerannt. Aber die leugnete, dass etwas mit ihr nicht stimmte, und behauptete, der Maler hätte sich verhört.
Die ganze Wohnung roch nach Farbe, doch ihre Mutter hatte sich trotzdem geweigert, mit Beth spazieren zu gehen. Deshalb hatte sie eine Scheibe Brot mit Käse gegessen und war allein gegangen.
Inzwischen benutzten sie alle nur noch die Hintertür, aber als Beth die Church Street wieder hinaufkam, stand die Ladentür weit auf, also schlüpfte sie hinein, um nicht außen herumlaufen zu müssen. Es war ungefähr halb drei, und sie blieb in dem kleinen Flur an der Treppe stehen, die zu ihrer Wohnung führte, weil sie durch die offene Hintertür sehen konnte, dass ihre Mutter im Hof die Wäsche von der Leine nahm.
Sie streckte sich nach oben, um eines von Sams Hemden zu erreichen, und Beth war schockiert, als sie sah, wie dick der Bauch ihrer Mutter geworden war.
Ihre Mutter war klein, und sie war immer sehr schlank gewesen, so schlank, dass ihr Vater ihre Taille mit den Händen umfassen konnte. Vor drei Monaten, als Beth ihr Trauerkleid abgesteckt hatte, war das immer noch so gewesen. Aber jetzt nicht mehr. Sie trug eine Schürze über ihrem schwarzen Kleid, aber die Schürze saß viel weiter oben, als sie sollte, und ihr dicker Bauch war deutlich zu erkennen.
Beth war so entsetzt, dass sie beinahe aufgeschrien und ihre Mutter auf sich aufmerksam gemacht hätte. Alice war nämlich nicht insgesamt dick geworden; ihr Gesicht war im Gegenteil viel schmaler, seit sie Witwe war. Beth wusste genau, was dicke Bäuche bedeuteten, selbst wenn behütet aufgewachsene junge Damen solche Dinge eigentlich nicht wissen durften.
Das war eine weitere Sache gewesen, die Miss Clarkson Beth erklärt hatte. Sie meinte, es sei absurd, junge Mädchen über etwas so Natürliches im Dunkeln zu lassen, und dass Unwissenheit gefährlich sei, weil Männer es ausnutzen könnten. Deshalb wusste Beth, wie Babys gemacht wurden.
Obwohl sie sich schämte, dass ihre Eltern es nach ihrer Geburt offensichtlich noch einmal getan hatten, war Beths größte Sorge, wie sie ein so heikles Thema ihrer Mutter gegenüber ansprechen sollte. Aber ihr war bewusst, dass sie es tun musste, denn wenn ein Baby unterwegs war, dann gab es viel zu organisieren.
Kurze Zeit später, als ihre Mutter wieder im Haus war und die trockene Wäsche faltete, beobachtete Beth sie und hoffte, sich zu irren, denn jetzt, wo die Schürze wieder an der richtigen Stelle saß, war Alices Bauch nicht zu sehen; sie wirkte nur um die Mitte herum ein bisschen dicker.
Beth trank eine Tasse Tee, während sie versuchte, genug Mut zu fassen, denn sie erwartete eine feindselige Reaktion. Aber es wurde immer später, und wenn Sam nach Hause kam, würde keine Gelegenheit mehr für dieses Gespräch sein, denn Beth wusste, dass sie eine Schwangerschaft in Anwesenheit eines Mannes nicht ansprechen konnte, nicht einmal, wenn es ihr eigener Bruder war.
Sie holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser. »Du bekommst ein Baby, oder, Mama?«
Beth war nicht sicher, wie sie es fand, einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester zu bekommen. Aber Alices Reaktion auf ihre Frage machte sehr deutlich, dass ihre Mutter es für eine Katastrophe hielt. Ihr Gesicht verzog sich, sie legte die Hände über ihren Bauch, als wollte sie ihn verstecken, und stieß ein gequältes Wimmern aus.
Beth hatte eigentlich gedacht, dass ihre Mutter ihr sagen würde, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, aber eine so dramatische Reaktion hatte sie nicht erwartet. »Ich weiß, es kommt dir schrecklich vor, jetzt, wo Papa nicht mehr da ist, aber Sam und ich werden dir helfen«, erklärte sie schnell und ging zu ihrer Mutter. Sie versuchte nicht, sie zu umarmen, denn während der vergangenen drei Monate war ihre Mutter dann immer zurückgewichen, als hätte sie sich verbrannt.
Überraschenderweise warf sie sich jedoch in Beths Arme und weinte wie ein Kind an ihrer Schulter. »Ich wusste nicht, wie ich es euch sagen soll«, schluchzte sie. »Ich habe solche Angst, was jetzt aus uns werden wird.«
Beth hielt sie einfach nur fest und war so erleichtert darüber, dass ihre Mutter endlich wieder mit ihr redete, dass alle anderen Sorgen unwichtig erschienen. »Du musst keine Angst haben«, sagte sie beruhigend. »Wir haben es bis jetzt geschafft, und wir kommen auch mit einem Baby zurecht. Vielleicht ist es genau das, was wir brauchen, um wieder glücklich zu sein. Weißt du, wann es geboren wird?«
»Im Dezember, denke ich.« Alice wischte sich mit ihrer Schürze über die Augen. »Aber ich bin zu alt, um noch ein Baby zu bekommen. Es ist schlimm genug, dass dein Vater solche Schande über uns gebracht hat – jetzt werden die Leute wieder anfangen zu reden.«
»Du bist nicht zu alt«, erklärte Beth fest. »Und was spielt es für eine Rolle, was die Leute sagen? Das geht sie nichts an.«
Beth kochte noch eine Kanne Tee, und ihre Mutter putzte sich die Nase und gestand, wie erleichtert sie sei, dass es jetzt raus war. »Ich habe mich euch beiden gegenüber sehr schlecht benommen«, erklärte sie. »Aber ich war so krank vor Angst und Sorge, dass in meinem Kopf für nichts anderes mehr Platz war. Was wird Sam wohl denken?«
»Genau das Gleiche wie ich: dass wir einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen«, erklärte Beth ruhig. Sie war froh, endlich eine Erklärung für das merkwürdige Verhalten ihrer Mutter zu haben. »Ich weiß, das ist jetzt alles noch sehr beängstigend, Mama, aber es wird besser. Und du solltest dich lieber wieder mit Mrs Craven vertragen, weil wir ihre Hilfe brauchen werden, wenn das Baby kommt.«
Mrs Craven stand, zusätzlich zu ihren vielen anderen Talenten, in dem Ruf, eine ausgezeichnete Hebamme zu sein.
»Deshalb habe ich sie weggeschickt, weil ich Angst hatte, dass sie es merkt«, gestand Alice. »Es war zu viel für mich nach der Art, wie Frank gegangen ist.«
Später an diesem Abend, nachdem ihre Mutter ins Bett gegangen war, saßen Beth und Sam in der Küche und unterhielten sich. Sam hatte entsetzt ausgesehen, als Beth ihn zur Seite genommen und ihm sehr verlegen von der Neuigkeit berichtet hatte. Er flüsterte, dass es das Letzte sei, was sie jetzt gebrauchen konnten, aber er war diplomatisch genug, ihrer Mutter nicht zu zeigen, wie er darüber dachte.
Jetzt, wo sie allein waren und er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, reagierte er etwas weniger hart. »Ich kann nicht behaupten, dass mir der Gedanke an ein plärrendes Balg im Haus gefällt«, gestand er. »Aber zumindest erklärt es, was mit Mama los war. Ich dachte schon, sie endet in der Klapsmühle.«
»Es muss sehr beängstigend für sie gewesen sein«, sagte Beth. »Vor allem, weil ihre eigene Mutter sie ohne Mann bekommen haben muss, denn sonst hätte sie sie nicht ausgesetzt. Dieses Haus, in dem sie aufwuchs, lag direkt neben einem Armenhaus. Ich nehme an, sie hatte Angst, dass sie dort endet.«
»Das werde ich nicht zulassen«, erklärte Sam entschlossen. »Aber es nimmt uns jeden Freiraum.«
»Wie meinst du das?«, fragte Beth.
Er schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. »Pa hat uns nicht viel hinterlassen, und das meiste davon ist für die Beerdigung und unseren Lebensunterhalt draufgegangen, bis ich Arbeit hatte. Unser Lohn reicht gerade aus, um uns durchzubringen. Aber ich hatte gehofft, dass Mama irgendwann wieder heiraten würde und dass wir dann beide frei wären.«
Beth konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter noch einmal heiraten würde, und sagte das auch.
»Na ja, dann fang besser an zu hoffen, dass sie es tut«, erwiderte er mit einem Anflug von Sarkasmus. »Wenn du einen Mann triffst, der dich heiraten möchte, dann wird er nicht auch noch deine Mutter und ihr Baby bei sich aufnehmen wollen. Und ich hatte auch nicht geplant, für immer hierzubleiben. Ich will die Welt sehen.«
Beth wollte mit ihm schimpfen, weil er so selbstsüchtig war, aber sie konnte nicht, weil sie wusste, dass er sie nicht wirklich im Stich lassen würde. »Wir sollten uns jetzt noch keine Sorgen um die Zukunft machen«, schlug sie vor. »Irgendetwas ergibt sich, du wirst sehen.«
Es war ein langer, heißer Sommer – die Milch wurde schon mittags sauer, Plumpsklos und Abwassergräben stanken zum Himmel, die Blätter an den Bäumen hingen schlaff herunter und waren mit Staub überzogen. Auch nach Sonnenuntergang kam die Stadt nicht zur Ruhe, denn es war so warm, dass die Leute nicht schlafen konnten. Babys schrien, Hunde bellten, Kinder spielten bis tief in die Nacht auf den Straßen, und vor den Wirtshäusern krakeelten mehr Betrunkene herum als sonst.
Beth hielt die Tage in Hooley’s Strumpfwarenladen nur unter großen Mühen durch. Gegen Mittag schien die Sonne voll auf die Fenster, und drinnen stieg die Temperatur auf über dreißig Grad. Die Kunden waren gereizt und oft unhöflich, während sie Schublade nach Schublade mit Socken und Strumpfhosen für sie aufzog. Beth musste sich oft auf die Zunge beißen, um nicht patzig zu werden. In ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid mit dem Petticoat darunter schwitzte sie furchtbar, ihre Füße schwollen an und schmerzten, und sie fragte sich oft, warum sie früher geglaubt hatte, es wäre wunderbar, woanders zu arbeiten.
Sam ging es bei der Arbeit besser, denn das Gehilfenbüro lag zum Meer hinaus, sodass bei weit geöffneten Fenstern eine kühle Brise hereinwehte. Aber weil er einen steifen Stehkragen und ein Jackett tragen musste, schlief er in der Hitze oft ein oder blickte sehnsüchtig zu den Schiffen draußen auf dem Meer und wünschte sich, auf einem von ihnen zu sein.
Aber ihre Mutter litt noch mehr. Sie hatte keinen Appetit, fühlte sich in der Hitze ganz schwach, und ihre Knöchel und Beine waren mittags so geschwollen, dass sie nicht laufen konnte. Es beunruhigte Beth, wie dünn und ausgemergelt ihr Gesicht inzwischen war, doch ihr Bauch schien jeden Tag zu wachsen.
Ende September war das heiße Wetter endlich vorbei, und es regnete zwei Wochen ohne Unterlass. Nachts konnte man wieder schlafen, die Straßen wurden sauber gewaschen, und ihre Mutter aß wieder etwas mehr.
Alice hatte sich bei Mrs Craven für ihre Unfreundlichkeit entschuldigt, und die Nachbarin war nett genug, jeden Tag vorbeizukommen und ihr bei den schwereren Hausarbeiten zu helfen. Zusammen hatten die beiden eine Kiste mit alter Babykleidung von Sam und Beth vom Dachboden geholt, und eine andere Nachbarin lieh ihnen eine Wiege.
Der Winter begann erst Ende November, doch als er dann kam, brachte er heftigen Wind und bittere Kälte mit. In der zweiten Dezemberwoche fing es an zu schneien, und als Beth am Freitagabend nach Hause kam, machte Mrs Craven in der Küche gerade einen großen Topf mit Wasser auf dem Herd heiß.
»Die Wehen haben gegen Mittag eingesetzt«, erklärte sie. »Zum Glück bin ich auf dem Weg vom Markt vorbeigekommen. Ich möchte, dass du Dr. Gillespie holst, damit er nach ihr sehen kann.«
Beth war sofort beunruhigt, doch Mrs Craven umarmte sie beschwichtigend. »Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte sie.
Es war das erste Mal, dass Beth den Doktor seit jenem Abend sah, an dem ihr Vater sich erhängt hatte, und sie war sehr verlegen, als sie ihm sagte, warum sie ihn jetzt brauche.
»Ein Baby!«, rief er, und auf seinem runden Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Was für eine Überraschung! Und wie geht es dir und deinem Bruder? Es muss in den vergangenen Monaten schwer für euch gewesen sein.«
»Wir kommen zurecht, Doktor«, sagte Beth. Sein freundliches Lächeln nahm ihr etwas von der Anspannung, und sein Interesse an Sam und ihr war tröstlich. »Natürlich war das Baby zuerst ein Schock für uns alle. Aber Mrs Craven sagt, sie möchte, dass Sie nach ihr sehen, als Vorsichtsmaßnahme.«
Es war jedoch keine Vorsichtsmaßnahme, wie Beth später klar wurde, als sie an der Schlafzimmertür stand und hörte, wie der Arzt zu Mrs Craven sagte: »Sie ist eine sehr zierliche Frau, und das Baby ist sehr groß. Mrs Bolton ist außerdem nicht mehr die Jüngste und auch nicht sehr stark. Ich überlasse sie jetzt Ihren erfahrenen Händen, Mrs Craven, aber zögern Sie nicht, mich später noch mal zu rufen, wenn Ihnen etwas Sorgen macht.«
Beths Herz schlug wie wild vor Angst, und während der Abend voranschritt und sie ihre Mutter vor Schmerzen schreien hörte, wurde Entsetzen daraus. Dass Sam noch nicht zurück war, machte es nicht besser. Es gab nur Mrs Craven, und die erlaubte Beth nicht, das Schlafzimmer zu betreten. »Ich rufe dich, wenn ich Hilfe brauche oder wenn du den Doktor noch mal holen sollst«, erklärte sie fest. »Babys brauchen manchmal eine Ewigkeit, aber mach dir wegen des Schreiens keine Sorgen – die meisten Frauen tun das, es bedeutet nichts.«
Sam kam kurz nach zehn, und Mrs Craven schickte ihn sofort wieder los, um den Arzt noch einmal zu holen. Sie wollte ihnen zwar nicht sagen, wofür sie ihn brauchte, aber Beth konnte die Sorge auf ihrem breiten Gesicht sehen.
Dr. Gillespie kam mit Sam zurück und verschwand erneut für einige Zeit im Schlafzimmer.
Gegen zwölf kam Gillespie in die Küche zurück und bat um eine Schüssel mit heißem Wasser, um sich die Hände zu waschen. Er hatte sein Jackett bereits ausgezogen und sich die Ärmel aufgerollt, und als er sich die Hände und die Unterarme wusch, blickte er über die Schulter zu Sam und Beth.
»Ich muss das Baby schnell holen«, sagte er. »Bitte sucht noch mehr saubere Laken und Handtücher heraus. Ich kann sehen, dass ihr beiden Angst habt, aber macht euch keine Sorgen – eure Mutter kommt durch.«
Beth lief los, um die Laken zu holen, und der Doktor kehrte damit ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür hinter sich.
Es war jetzt sehr ruhig. Draußen fiel immer noch Schnee, der den Lärm der nächtlichen Kutschen dämpfte. Die einzigen Geräusche waren ein gelegentliches Husten oder eine unverständliche Anweisung des Doktors an Mrs Craven und das Knacken und Springen der Kohlen im Ofen.
Sam und Beth sagten nichts. Sie saßen sich nur am Küchentisch gegenüber, bleich und angespannt, beide mit ihren Ängsten beschäftigt.
Plötzlich gab es ein Geräusch – ein Rascheln, Schritte und dann die leise Stimme des Arztes. »Meine Güte, was für ’n großes Mädchen«, hörten sie Mrs Craven ausrufen, und einen Augenblick später hörten sie das Baby schreien.
»Gott sei Dank«, rief Sam und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Kurz danach kam Mrs Craven mit einem in eine Decke gewickelten Baby auf dem Arm aus dem Schlafzimmer. Sie sah erschöpft aus, aber sie lächelte. »Das ist eure kleine Schwester. Ein richtiger kleiner Wonneproppen«, sagte sie stolz.
Für Beth dämpfte der Anblick von Mrs Cravens blutverschmierter Schürze jede Freude und jedes Staunen, die sie beim Anblick ihrer kleinen Schwester vielleicht empfunden hätte. »Mama – geht es ihr gut?«, fragte sie.
»Bald, der Doktor näht sie gerade«, erwiderte Mrs Craven. »Aber du kannst helfen, indem du dich um die Kleine kümmerst«, sagte sie und gab Beth das Bündel. »Leg sie in die Wiege, und stell sie an den Ofen, damit sie es warm hat. Ich muss zurück und dem Doktor helfen.«
Während Sam die Wiege aus der Stube holte, stand Beth da und blickte auf das Baby in ihren Armen. Sie hatte noch nie ein Neugeborenes gesehen, und obwohl Mrs Craven gesagt hatte, dass dieses hier groß sei, fand sie es winzig, rot und zerknautscht. Es hatte dunkles Haar, und obwohl sie die Augen nicht sehen konnte, da sie fest geschlossen waren, mochte sie es, wie der kleine Mund sich öffnete und schloss wie der von einem Fisch.
Sam brachte die Wiege. »Ich glaube, wir wärmen zuerst die Matratze und die Laken an«, schlug Beth vor, denn seit es richtig kalt war, hatten sie in der Stube kein Feuer mehr gemacht. »Wie findest du sie?«
Sam blickte auf das Baby und strich ihm vorsichtig mit dem Finger über die Wange. »Sie ist ein bisschen hässlich«, sagte er und rümpfte angewidert die Nase.
»Nein, ist sie nicht«, widersprach Beth. »Sie ist süß, und es ist genauso wie bei neugeborenen Hunden oder Katzen. Zuerst sehen sie alle wie Ratten aus, aber kurz danach sind sie richtig hübsch, und das wird sie auch sein.«
Durch all die Vorbereitungen für die Babywiege und weil sie noch mehr Tee für Mrs Craven und den Doktor kochten, vergaßen sie kurzfristig ihre Mutter. Erst als ihre Nachbarin mit einem großen Bündel blutdurchtränkter Laken zurück in die Küche kam und Sam bat, die Zinkwanne aus dem Hof zu holen, um sie darin einzuweichen, wurden sie schlagartig an sie erinnert.
»Es wird ihr eine Zeitlang sehr schlecht gehen«, erklärte Mrs Craven ernst. »Wir müssen sie mit Fleischbrühe, Eiern und Milch wieder aufpäppeln. Wenn der Doktor mit ihr fertig ist, könnt ihr ein oder zwei Minuten zu ihr. Erwartet aber nicht zu viel von ihr, sie hat viel durchgemacht.«
Es schien Stunden zu dauern, bis Dr. Gillespie endlich wieder aus dem Schlafzimmer kam, doch tatsächlich war nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er sah müde aus, als er sich die blutbespritzte Schürze auszog und zur Spüle ging, um sich die Hände zu waschen. »Habt ihr Brandy im Haus?«, fragte er.
»Ich glaube ja, Sir«, antwortete Sam und ging in die Vorratskammer, um welchen zu holen.
»Gut, Junge, dann gib deiner Mutter welchen in heißer Milch.« Er ging zur Wiege und blickte auf das schlafende Baby. »Sie scheint zumindest ganz gesund zu sein, und Mrs Craven wird euch erklären, was sie braucht. Ich komme morgen wieder, um nach eurer Mutter zu sehen.«
Er nahm eine kleine dunkle Flasche aus seiner Tasche und stellte sie auf den Tisch. »Wenn eure Mutter in der Nacht Schmerzen hat, dann kann sie drei oder vier Tropfen davon in heißem Wasser nehmen. Versucht sie auch dazu zu bringen, Wasser zu trinken.«
»Na los! Ihr könnt jetzt zu ihr«, drängte Mrs Craven sie, als der Doktor gegangen war. »Und dann muss ich auch ins Bett.«
Sam und Beth schlichen leise in das Zimmer ihrer Mutter und wussten nicht recht, was sie dort erwartete. Alles sah überraschend ordentlich und normal aus, wenn man bedachte, was hier passiert war. Es war nur sehr heiß, weil der Ofen an war, und es roch ein bisschen komisch. Aber Alice schien geschrumpft zu sein; sie wirkte in dem großen Messingbett so klein wie ein Kind, und ihr Gesicht sah im Gaslicht merkwürdig fleckig aus.
»Wie geht es dir, Mama?«, fragte Sam.
»Ich habe Schmerzen«, krächzte sie. »Das Baby?«
»Es geht ihr gut, sie liegt warm eingepackt in der Wiege und schläft«, sagte Beth leise. »Du musst das hier trinken«, fügte sie hinzu und trat näher an das Bett, um ihrer Mutter so weit hochzuhelfen, dass sie die Brandy-Milch trinken konnte. »Ich schlafe heute Nacht in der Küche, damit sie es warm hat und ich sie im Auge behalten kann. Es schneit draußen.«
Als ihre Mutter getrunken und Beth sie wieder hingelegt hatte, griff sie nach dem Arm ihrer Tochter. »Bitte, hasst mich nicht dafür«, flehte sie.
»Dich wofür hassen?« Beth runzelte die Stirn und sah Sam verwirrt an.
»Dass ich euch mit einer solchen Last allein lasse«, sagte sie und schloss die Augen.
Beth deckte ihre Mutter gut zu und stellte die Gaslampe dann so weit herunter, dass sie nur noch schwach schien. Sam legte noch mehr Kohlen ins Feuer, und sie schlichen leise wieder aus dem Zimmer.
»Glaubst du, sie wird sterben?«, fragte Beth Sam, als Mrs Craven nach Hause gegangen war.
»Das war bestimmt nur die Medizin, die sie das hat sagen lassen«, erklärte er ihr. »Mach dir keine Sorgen.«
»Ich werde morgen nicht zur Arbeit gehen können, weil ich mich um das Baby kümmern muss«, sagte Beth. »Mr Hooley wird darüber so kurz vor Weihnachten nicht erfreut sein. Was, wenn er mir die Stelle nicht freihält, bis es Mama wieder besser geht?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, erwiderte Sam müde. »Du schreibst ihm eine Nachricht, und ich schiebe sie auf dem Weg zur Arbeit bei ihm unter der Tür durch. Und jetzt werde ich lieber noch ein paar Kohlen in den Herd legen, um unsere kleine Schwester warm zu halten. Ich frage mich, wie Mama sie nennen will.«
»Ich finde, sie sieht wie eine Molly aus«, erklärte Beth und blickte erneut in die Wiege. »Ich hoffe nur, sie wacht erst wieder auf, wenn Mrs Craven zurück ist. Ich weiß überhaupt nichts über Babys.«
Beth schlief unruhig in dem alten Ohrensessel am Herd unter ein paar Decken, die Füße auf einem Hocker. Sie wachte beim kleinsten Geräusch auf, aber jedes Mal war es nur ein Knacken vom Herd oder ein leises Schmatzen des Babys gewesen. Doch immer, wenn sie versuchte, wieder einzuschlafen, musste sie über die Bitte ihrer Mutter nachdenken.
Um sechs Uhr morgens wiegte Beth das schreiende Baby auf dem Arm und versuchte, es zu beruhigen, als zu ihrer Erleichterung Mrs Craven durch die Hintertür kam und mit den Füßen aufstampfte, um den Schnee abzuschütteln.
»Das Baby muss gewickelt und gefüttert werden«, erklärte sie resolut und zog ihren Mantel aus. Dann nahm sie Beth das Baby ab und fing an, die nasse Decke zu entfernen. Sie befahl Beth, die Kiste mit den Babysachen und Windeln zu holen.
Beth beobachtete fasziniert, wie die ältere Frau das winzige Baby vorsichtig wusch und ihr erklärte, wie sie das Stückchen Mull wechseln musste, das den Rest der Nabelschnur schützte, und dass sie einen speziellen Puder daraufgeben solle, bis er abfiele. Dann faltete sie eine Windel zu einem Dreieck und wickelte es um den Po des Babys.
»Später, wenn die Geschäfte öffnen, musst du versuchen, ein paar wasserdichte Gummihöschen für sie zu kaufen«, sagte Mrs Craven. »Die gab es noch nicht, als meine Kinder geboren wurden, aber ich find, sie sind ’n Segen, denn sie halten die Kleidung und das Bett trocken. Du musst die Windel alle zwei bis drei Stunden wechseln. Wenn sie zu lange nass ist, wird sie wund.«
Als sie dem Baby ein kleines Nachthemd anzog, erklärte sie noch mehr Dinge über die Babypflege, von denen Beth das meiste nicht verstand.
»Jetzt bringen wir sie zum Stillen zu deiner Mutter«, sagte sie und gab Beth das Baby zurück. »Sie will das vielleicht nicht, weil es ihr schlecht geht, aber einer Mutter geht es immer schneller wieder besser, wenn sie ihr Baby im Arm hält.«
Alice sah ein bisschen besser aus, denn die schrecklichen Flecken auf ihrem Gesicht waren verschwunden, und sie öffnete die Augen und versuchte zu lächeln. Sie stöhnte vor Schmerz auf, als Mrs Craven ihr half, sich ein bisschen aufzusetzen, damit sie ihr mehr Kissen in den Rücken stopfen konnte, und sie war schrecklich blass.
Beth wusste jetzt, dass Dr. Gillespie einen sogenannten Kaiserschnitt gemacht hatte und dass der eigentlich in einem Krankenhaus hätte durchgeführt werden müssen. Aber er hatte keine Wahl gehabt: Ihre Mutter war nicht transportfähig gewesen, und das Baby musste schnell geholt werden, oder sie wären beide gestorben.
»Wir lassen das Baby nur schnell ein bisschen trinken«, sagte Mrs Craven und knöpfte Mamas Nachthemd auf. »Dann hole ich Ihnen etwas zu trinken und etwas zu essen und mache es Ihnen etwas bequemer.«
Beth wurde rot, als sie die Brüste ihrer Mutter sah, aber als Mrs Craven das Baby anlegte und es sofort zu saugen begann, wurde die Verlegenheit schnell zur Freude über den Anblick dieser Gier, und Beth musste lächeln.
»Sie ist eine kleine Kämpferin, die Kleine«, sagte Mrs Craven zärtlich. »Wie wollt ihr sie denn eigentlich nennen?«
»Ich finde, sie ist eine Molly«, erklärte Beth und setzte sich auf die Bettkante.
»Dann soll sie Molly heißen«, sagte ihre Mutter mit einem schwachen Lächeln.