19
Das Café, in das sie Beth gebracht hatten, war mollig warm. Sie bewegte jetzt die einzelnen Finger und sah sich ihre Knöchel an, die wund waren vom Klopfen an die Wände.
»Wir sollten dich zu einem Arzt bringen«, sagte Jack.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte sie und lächelte schwach. »Mir ist schon viel wärmer, und es geht mir bestimmt wieder gut, wenn ich mich erst gewaschen und etwas geschlafen habe. Ich wünschte nur, deine Freunde wären nicht gegangen, bevor ich mich bei ihnen bedanken konnte.«
Ihr Verstand war scheinbar genauso eingefroren gewesen wie ihr Körper, als Theo sie aus dem Keller geholt hatte. Sie war zu keiner Erklärung fähig gewesen, und ihre Beine weigerten sich zu gehen. Theo hatte sie den ganzen Weg zum Café getragen, und obwohl Jack und Sam sie gefragt hatten, wie und wo sie entführt worden war, konnte sie nicht antworten.
Aber jetzt, nach zwei großen Tassen mit heißem süßem Kaffee und einem Teller mit Schinken und Eiern war sie wieder so weit aufgetaut, dass sie ihnen berichten konnte, was passiert war und dass ihr Entführer nicht zurückgekommen war, um ihr etwas zu essen oder zu trinken oder auch nur eine Decke zu bringen. Sie erzählte davon, wie sie bis zur Erschöpfung gerufen und geklopft hatte, aber nicht, dass sie die Hoffnung auf Rettung tatsächlich schon aufgegeben hatte. Jetzt, wo sie in Sicherheit war, schwand langsam das Entsetzen, das sie empfunden hatte, während sie in der Dunkelheit saß, mit nur dem Quieken und Rascheln der Ratten als Gesellschaft. Sie konnte die Sorge in den Gesichtern der Männer sehen und wollte sie nicht noch verstärken.
Als sie vorhin Theos und Jacks Stimmen gehört hatte, war sie zuerst davon ausgegangen, endgültig den Verstand zu verlieren und sich nur das einzubilden, was sie so gerne hören wollte. Erst als die Falltür aufging, Licht in ihr dunkles Gefängnis fiel und Theos Kopf in der Öffnung erschien, wusste sie, dass sie tatsächlich gerettet war.
»Du kannst mit zu mir kommen«, sagte Theo, nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen. »Niemand weiß, wo ich wohne, und es ist ein ruhiges Haus. Du kannst ein heißes Bad nehmen und dich ausschlafen.«
Beth fand, dass das himmlisch klang, aber sie sah, wie Sam und Jack entsetzte Blicke tauschten.
Theo bemerkte sie ebenfalls und ließ ihre Hand los. Er fixierte Sam. »Euch ist schon klar, dass niemand von uns mehr sicher ist? Fingers wird uns jagen, und Heaney wird uns keinen Schutz bieten, weil er nur Angst um seinen Saloon hat.«
»Ich denke nicht, dass Fingers hinter uns her sein wird«, erwiderte Sam streitlustig. »Selbst ein Dieb wie er kann sicher verstehen, dass ein Mann seine Schwester retten muss.«
»Es geht ihm nur darum, sein Gesicht zu wahren«, erklärte Theo geduldig. »Es interessiert ihn einen Dreck, was richtig oder falsch ist. Er sieht nur, dass wir seinen Plan vereitelt haben.«
»Er hat recht, Sam«, seufzte Jack und fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durchs Haar. »Fingers ist ein Verrückter, und dass er Beth so schlecht behandelt hat, zeigt, dass sie ihm nichts bedeutet. Er will nur Heaney provozieren. Jetzt muss er sich etwas anderes einfallen lassen, und ich traue ihm durchaus zu, dass er heute Abend den Saloon ansteckt, nur um zu beweisen, dass er der Stärkere ist.«
»Willst du damit sagen, dass ich da nicht mehr arbeiten soll?«, fragte Sam ungläubig.
»Nicht, wenn du an deinem Leben hängst.« Theo grinste. »Du musst untertauchen, Sam. Das müssen wir alle. Fingers, Heaney und ihren Schlägertypen ist mit Vernunft nicht beizukommen – es sind hirnlose, brutale Kerle, die fest entschlossen sind, einen Straßenkrieg zu führen, und wir werden zwischen die Fronten geraten. Das Beste, was ihr beide machen könnt, ist, heute noch nach Philadelphia zu fahren. Ich habe Freunde dort, an die ihr euch wenden könnt, und komme mit Beth nach, sobald sie wieder reisefähig ist.«
»Was ist mit meinen Kumpels aus dem Schlachthaus?«, fragte Jack mit blassem und angespanntem Gesicht.
Theo zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ihnen wird nichts passieren. Fingers und Heaney kennen sie nicht.«
»Wir können doch nicht einfach wegfahren, es ist Weihnachten!«, widersprach Sam.
Theo hob eine Augenbraue. »Du glaubst doch sicher nicht, dass solche Männer auch nur einen Gedanken an das Fest der Liebe verschwenden, oder? Sie werden gerade heute Abend für den perfekten Zeitpunkt halten, um zuzuschlagen, weil die Saloons dann voll sein werden.«
Die Streitlust in Sams Gesicht wich einem ängstlichen Ausdruck. »Aber was ist mit den Sachen, die wir noch in der Houston Street haben?«
Theo sah auf die Uhr an der Wand; es war kurz nach zehn. »Ich denke, dass Fingers und Heaney erst gegen Mittag davon erfahren werden. Du kannst hingehen und alles zusammenpacken, ich bringe Beth erst zu mir und komme dann und hole ihre Sachen.«
»Wieso glaubst du, dass Beth bei dir in Sicherheit ist?«, fragte Sam misstrauisch. »Du hast gesagt, du müsstest auch von hier fliehen!«
»Das muss ich auch, denn ich werde in absehbarer Zukunft nirgendwo in New York mehr Karten spielen können«, erwiderte Theo. »Aber niemand weiß, wo ich wohne. Wir sind dort sicher, bis Beth sich erholt hat.«
»Ich möchte mit Beth sprechen, ohne dass du dabei bist«, erklärte Sam knapp.
Theo nickte und sagte, sie hätten zehn Minuten.
Sobald sich die Tür des Cafés hinter ihm geschlossen hatte, rückte Sam dicht neben seine Schwester. »Ich will dich nicht bei ihm lassen«, sagte er. »Vor allem nicht an Weihnachten.«
Beth verstand, warum er solche Angst hatte, aber sie war zu erschöpft, um sich darüber jetzt Gedanken zu machen, und außerdem liebte sie Theo, er hatte sie gerettet, und sie würde ihm willig folgen, wo immer er hinging.
»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte sie und strich ihrem Bruder liebevoll übers Gesicht. »Ich komme zurecht, das verspreche ich. Ich fühle mich so schwach, dass ich euch nur ein Klotz am Bein wäre, wenn ich jetzt mit euch komme.«
»Es ist nicht richtig, dass du mit einem Mann wie ihm alleine bist«, beharrte Sam trotzig. »Und ich mag es auch nicht, dass er Jack erklärt, was er tun soll.«
»Er hat aber recht«, mischte Jack sich ein. »Als das alles anfing, wusste ich sofort, dass ich danach nicht mehr hier in der Stadt bleiben kann, weil ich gehört habe, was diese Bande mit Leuten macht, die ihr in die Quere kommen. Ich hätte es lieber, wenn Beth uns sofort begleitet, aber sie ist dazu nicht in der Lage, Sam, also haben wir keine andere Wahl.«
Beth sah Jack dankbar an. »Es tut mir so leid, dass du da mit reingeraten bist und jetzt auch noch deinen Job verlierst.«
»Ich bekomme vielleicht einen besseren in Philadelphia«, sagte er und grinste resigniert. »Und wir sind nicht länger Greenhorns – wir machen dort vielleicht sogar ein Vermögen.«
Beth konnte kaum die Augen offen halten, während die Droschke sie und Theo zu seiner Wohnung brachte. Er hatte mit Jack und Sam verabredet, etwas später ihre Sachen abzuholen und ihnen einen Brief für seinen Freund in Philadelphia mitzugeben.
»Sie kommen schon zurecht«, tröstete er sie, als ihr beim Abschied die Tränen kamen. »Frank ist ein reicher Mann, der überall in Philadelphia seine Finger im Spiel hat. Er bringt Sam in einem seiner Saloons unter und Jack irgendwo anders, noch bevor sie ausgepackt haben.«
Beth war so erschöpft, dass sie gar nicht registrierte, wo die Droschke sie hinbrachte, nur, dass sie in ein viel feineres Viertel fuhren als das um die Houston Street. Sie nahm vage wahr, dass es ein Backsteinhaus an einem ruhigen Platz war, in einer Gegend, in der nur wohlhabende Familien wohnten.
Theo trug sie die Treppe hinauf in ein großes Zimmer im vorderen Teil des Hauses. Alles, was sie in ihrem erschöpften Zustand wahrnahm, war ein großes Bett mit geschnitzten Bettpfosten, auf dem sie zusammenbrach. Sie hörte noch, wie Theo ihr sagte, dass sie ihre Stiefel ausziehen solle und dass er seine Vermieterin über ihre Ankunft unterrichten würde, bevor er in die Houston Street fuhr, aber sie schlief ein, ehe sie ihm antworten konnte.
Etwas später wachte sie von dem vertrauten Geräusch eines knackenden Feuers im Kamin auf, und für einen Moment glaubte sie, wieder in Liverpool zu sein, denn in ihrer Kindheit hatte sie genau dieses Geräusch oft geweckt. Ihr war sehr warm; die Decke über ihr war dick und schwer. Aber als sie sich etwas ausstreckte, brachten die Schmerzen in ihrem Rücken und in ihren Armen sie zurück in die Realität. Zu ihrem Entsetzen wurde ihr klar, dass sie nur ihr Leibchen und ihren Unterrock trug; jemand hatte ihr das Kleid, die Strümpfe und das Mieder ausgezogen.
Hastig zog sie die Decke bis zur Nasenspitze, öffnete vorsichtig die Augen und sah Theo vor dem Kamin hocken. Sie spürte eher, als dass sie wusste, dass er schon seit einiger Zeit im Zimmer war, denn die Vorhänge waren geschlossen, die Gaslampen brannten, und er trug nur ein Hemd.
Das Zimmer sah sehr gemütlich aus, mit zwei großen Sesseln vor dem Kamin. Der ganze Raum wirkte sehr elegant – die Gaslampen an der Wand hatten verzierte Messinghalterungen, die Vorhänge waren aus schwerem Brokat, und an einer Wand stand ein Wäscheschrank, der zu dem dunklen Holz des Bettes passte und ebenfalls mit kunstvollen Schnitzereien verziert war.
»Theo«, flüsterte sie, »wie spät ist es?«
Er stand auf und drehte sich lächelnd zu ihr um. »Endlich! Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen. Es ist sieben Uhr abends, und ich habe Jack und Sam schon vor Stunden zum Bahnhof gebracht.«
»Wer hat mir meine Sachen ausgezogen?«, fragte sie.
»Ich. Ich konnte dich nicht darin schlafen lassen. Sie waren nass und sehr dreckig, und du hättest dich unwohl darin gefühlt«, erwiderte er.
Beth wurde rot und rutschte tiefer unter die Decke. »Könntest du mir dann etwas zum Anziehen holen?«, fragte sie nervös. »Ich muss aufstehen.«
Er ging zur Tür und nahm einen karierten Wollmorgenmantel von einem Haken. »Ich habe zwar deine Sachen alle hier, aber du kannst erst mal das hier anziehen. Wenn du baden möchtest, das Bad ist den Flur runter. Ich habe dafür gesorgt, dass das Wasser heiß ist. Aber vielleicht möchtest du zuerst etwas essen? Ich habe gebratenes Hähnchen und Kartoffeln besorgt. Es ist in Miss Marchments Küche warm gestellt.«
»Stört es sie, dass ich hier bin?«, fragte Beth und zog den Morgenmantel zu sich unter die Decke, damit sie ihn anziehen konnte, ohne nackte Haut zeigen zu müssen.
»Nein, gar nicht. Ich habe ihr erzählt, was dir passiert ist«, entgegnete er. »Du lernst sie morgen kennen.«
Später an diesem Abend lag Beth im Bett und war irgendwie enttäuscht. Theo hatte sich rührend um sie gekümmert. Er hatte ihr ein wunderbares Essen serviert, ihr ein heißes Bad eingelassen und ihr zwei Gläser Whiskey mit Honig und Zitrone zu trinken gegeben, zur Vorbeugung gegen eine Erkältung. Aber er hatte sie nicht einmal geküsst.
Sie konnte sein Haaröl auf dem Kissen riechen, sie konnte sogar fast den Abdruck seines Körpers auf der Matratze fühlen, aber er schlief irgendwo anders im Haus und hatte nicht mal eine winzige Andeutung gemacht, dass er das Bett mit ihr teilen wollte.
Wäre sie einverstanden gewesen, wenn er gefragt hätte?
Beth wusste die Antwort darauf nicht. Ihr Verstand beharrte darauf, dass sie es nicht erlaubt hätte. Aber wenn das so war, warum war sie dann so niedergeschlagen?
Dann war da noch die Frage, wo er all die Wochen gewesen war. Er hatte ihr das nicht erklärt oder sich deswegen entschuldigt. Es schien wahrscheinlich, dass es irgendwo noch eine andere Frau gab, aber wenn das der Fall war, warum wollte er Beth dann nach Philadelphia bringen?
Er musste sie lieben. Warum sonst hätte er ihre Rettung geplant und ausgeführt? Er hatte ihr erzählt, wie er herausgefunden hatte, dass Fingers ein Gebäude am Blind Man’s Court und an der Bottle Alley gehörte und dass er in jedes Zimmer in jedem Haus gestürmt war, bis er auf das kleine Mädchen gestoßen war, das ihm von dem Klopfen und Rufen erzählte. Sam, Jack und Jacks Freunde waren natürlich auch dort gewesen, aber es war klar, dass Theo sie angeführt hatte.
Während des Abends war sie im Zimmer herumgelaufen und hatte viele Dinge bemerkt: Fotos von seiner Familie in Silberrahmen, hochwertige Sachen und Schuhe, goldene Manschettenknöpfe, Bürsten mit Silbergriff und mindestens ein Dutzend Seidenkrawatten. Die Möbel im Zimmer waren alt und abgenutzt, aber das hier war ohne Zweifel einmal das Haus einer wohlhabenden Person gewesen; sie fragte sich, warum Theo sie hatte glauben lassen, er würde so leben wie Sam und sie.
Aber vielleicht wusste er auch einfach nicht, dass arme Leute wie sie und ihr Bruder in Häusern wohnten, in denen es kein Badezimmer oder Wasserklosett auf dem Flur gab. Vielleicht glaubte er tatsächlich, er würde primitiv hausen, weil er in nur einem Zimmer wohnen und schlafen musste?
Aber wenn dieses Zimmer mit den weichen Laken, dem Federbett und dem prasselnden Feuer primitiv war, dann würde sie gerne hier mit ihm hausen. Dieses Haus war so ruhig wie eine Kirche – kein Babygeschrei, kein lauter Streit oder das Gepolter von Betrunkenen auf der Treppe; das einzige Geräusch, das sie den ganzen Abend lang hörte, war das gelegentliche Vorbeirumpeln der Droschkenräder unten auf der Straße.
Sie wollte glauben, dass Theo heute Abend Abstand zu ihr gewahrt hatte, weil er sie liebte und respektierte, denn so benahmen sich die Gentlemen in den Liebesromanen. Aber eine kleine Stimme in ihrem Kopf warnte sie davor, das zu glauben; er hatte ihr nie gesagt, dass er sie liebte, und wie Ira mehrfach betont hatte, lebten Spieler nach ihren eigenen Regeln.
Beth wachte am nächsten Morgen von einem Klopfen an der Tür auf. Bevor sie sich gesammelt hatte, öffnete sich die Tür, und eine Frau kam mit einem großen Frühstückstablett herein.
»Ich bin Miss Doughty, Miss Marchments Haushälterin«, sagte sie mit ernstem und kaltem Gesicht. »Mr Cadogan bat mich, Ihnen das zu bringen und Ihnen zu sagen, dass er heute Abend wieder bei Ihnen ist.«
»Aber heute ist Weihnachten«, rief Beth. Sie war sehr erfreut über das Frühstück aus Schinken, Eiern, Pfannkuchen und Kaffee, aber sie konnte nicht glauben, dass Theo sie den ganzen Tag allein lassen wollte.
Sie spürte auch die Missbilligung der Haushälterin. Die Frau war dünn, mit scharfen Gesichtszügen und eisgrauem Haar, und sie sah nicht aus wie jemand, den Beth für sich gewinnen konnte.
»Mr Cadogan hat schon vor Wochen Pläne für diesen Tag gemacht«, erwiderte Miss Doughty. »Gentlemen sagen ihre Termine nicht leichtfertig ab, und er hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass Sie sich ausruhen und das Haus nicht verlassen.«
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände mache«, sagte Beth in dem Versuch, die Frau zu besänftigen. »Das Frühstück sieht wundervoll aus.«
»Essen Sie es, solange es warm ist. Ich komme später wieder, wenn Sie angezogen sind, und bringe Sie runter zu Miss Marchment. Sorgen Sie dafür, dass Sie etwas Dezentes tragen, Sie wollen sie schließlich nicht erschrecken, indem sie aussehen wie eine Barfrau.«
Miss Marchment kennenzulernen war eine noch unerfreulichere Angelegenheit. Ihr Zimmer im Erdgeschoss war düster und dreckig. Es stank nach Katzenurin und ließ die saubere Gemütlichkeit in Theos Zimmer noch stärker hervortreten. Es war schwer, Miss Marchments wahres Alter zu schätzen, denn obwohl ihre faltige, gelbe Haut, ihre schwarze Kleidung und die Spitzenhaube auf ihrem weißen Haar darauf schließen ließen, dass sie sehr alt war, klang ihre laute, barsche Stimme sehr viel jünger. Sie war klein und schlank, aber ihre Hände waren geschwollen und sahen aus, als würden sie schmerzen, deshalb glaubte Beth, dass sie vermutlich an Rheumatismus litt.
Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen von Mitleid oder Sorge und stellte Beth stattdessen eine Frage nach der anderen über ihren familiären Hintergrund, als würde sie davon ausgehen, dass sich nur jemand aus der Gosse in eine solche Notlage gebracht haben konnte. Beth versuchte ihr zu sagen, dass sie tatsächlich vornehm aufgewachsen war, aber die alte Dame erwiderte, dass eine Frau, die in einer Bar arbeite, mit Ärger rechnen müsse. Abschließend erklärte sie, dass sie hoffe, Beth würde die Gutmütigkeit von Mr Cadogan nicht ausnutzen.
Beth versuchte, nicht unhöflich zu werden, sondern sagte nur, dass es Theos Vorschlag gewesen sei, sie hierher zu bringen, damit sie sich von den Strapazen ihres Martyriums erholen könne. »Ich bin ihm sehr dankbar für seine Freundlichkeit und Ihnen auch, weil Sie mir erlauben, ein paar Tage zu bleiben. Aber ich werde so bald wie möglich zu meinem Bruder fahren.«
Theo, so viel war klar, hatte seine Vermieterin nicht darüber informiert, dass er sie bald verlassen würde, und Beth klärte sie auch nicht darüber auf.
Ihre Stimmung sank weiter, als sie in Theos Zimmer zurückkehrte. Sie war ein unwillkommener Gast in einer Gegend, die sie nicht kannte. Und sie wusste auch nicht, wo Jack und Sam in Philadelphia waren. Sie fühlte sich gefangen und völlig abhängig von Theo.
Ihre Gedanken kehrten unwillkürlich zum letzten Weihnachtsfest am Falkner Square zurück, und als sie an Molly dachte, wie sie in der Küche herumgelaufen war, und an die Wärme und das Lachen, an das Gefühl von Sicherheit und Glück, sehnte sie sich dorthin zurück.
Kurz nach sieben Uhr abends kam Theo zurück, stürmte ins Zimmer und brachte den Geruch nach Zigarren und das Bild eines reich gedeckten Tischs und jovialer Gespräche mit. »Ich wünschte, ich hätte dich heute mitnehmen können«, sagte er, zog sie in seine Arme und küsste sie lange und leidenschaftlich, bis sich alles um Beth herum drehte.
Miss Doughty kam kurz danach nach oben und brachte ihnen ein kaltes Abendessen aus Schinken und Pickles. Beth musste nicht fragen, warum sie für Theo Essen kochte, seine Wäsche wusch und sein Zimmer putzte, während die anderen vier Mieter, die Weihnachten bei ihren Familien verbrachten, allein zurechtkommen mussten. Er hatte eine Art an sich, die in allen Frauen, egal welchen Alters, das Bedürfnis weckte, sich um ihn zu kümmern.
Als Beth nach dem Essen am Kamin saß, holte Theo ihre Geige aus dem Kasten und reichte sie ihr.
»Du willst doch wohl nicht, dass ich jetzt spiele?«, fragte sie überrascht. »Wird das Miss Marchment nicht stören?«
Er schmunzelte. »Stille würde sie mehr aufregen. Dann würde sie nämlich glauben, dass ich mit dir schlafe. Aber ich dachte, dann wärst du beschäftigt, weil ich gleich noch mal los muss.«
Beth war bitter enttäuscht. »Hattest du nicht gesagt, es wäre gefährlich für dich, draußen herumzulaufen?«, fragte sie leise.
»Das wäre es, wenn ich in die Bowery wollte.« Er zuckte mit den Achseln, nahm sich seine Bürste und trat vor den Spiegel. »Aber ich habe etwas in viel angenehmeren Gegenden der Stadt zu erledigen.«
Vielleicht spürte er ihre Enttäuschung, denn er ging zu ihr und umarmte sie.
»Ich muss mich noch mit Leuten treffen und einige geschäftliche Dinge regeln«, sagte er und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Ich würde natürlich viel lieber hier bei dir bleiben, aber dann wäre ich versucht, mit dir zu schlafen. Wenn wir in Philadelphia sind, wird alles anders. Und du musst Geige üben, denn wenn wir dort sind, werde ich dich in den besten Läden vorstellen.«
Beth spielte tatsächlich Geige, als er weg war. Ihre Finger waren steif und schmerzten, tatsächlich tat ihr der ganze Körper weh, und es fiel ihr schon schwer, das Instrument überhaupt zu halten. Aber die Musik war ihr lange erprobter Weg, sich zu beruhigen. Sie versuchte sich nicht an den fröhlichen Jigs, die sie im Heaney’s gespielt hatte, sondern an einigen traurigen, langsameren Melodien, die sie als Kind von ihrem Großvater gelernt hatte. Er hatte einmal gesagt, dass sie ihm die Schönheit Irlands zurückbrachten: dass er dann Galway Bay im Nebel liegen sehen konnte und die Berge mit ihren rosa Spitzen und die wilden Blumen in den Sümpfen im Frühling. Für Beth waren es dagegen beruhigende Klangbilder, die von Liebe und Sicherheit erzählten, denn sie sah dann die Stube in der Church Street vor sich, sah ihre Eltern nebeneinander auf dem Sofa sitzen, ihren Großvater zurückgelehnt in seinem Sessel, die Augen geschlossen und mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Am 28. Dezember bestiegen Beth und Theo den Zug nach Philadelphia. Theo hatte Miss Marchment erst am Abend zuvor über seine Abreise informiert, und Beth hatte ihre zornig erhobene Stimme gehört.
Theo erzählte Beth nichts über das Gespräch. Sein einziger Kommentar war, dass er Miss Marchment niemals gesagt habe, er würde für immer bleiben.
»Ich hasse es, wenn die Leute mich festnageln wollen, so als ob ich ihnen gehören würde«, fügte er hinzu, und es klang wie eine Warnung an Beth.
Es war schon dunkel, als sie in Philadelphia ankamen, und eine Droschke brachte sie den kurzen Weg vom Bahnhof zu einer Straße, in der alte Häuser aus der Föderationszeit standen. Eine kleine untersetzte schwarze Frau mit einer weißen Schürze und einem gepunkteten Turban öffnete ihnen die Tür. »Mr Cadogan!«, sagte sie mit einem Lächeln, das so geschwungen war wie die Scheibe einer Wassermelone. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Es ist auch schön, dich wiederzusehen, Pearl«, sagte er und tätschelte ihr mit offensichtlicher Zuneigung die Wange. »Das hier ist Miss Bolton, die zu ihrem Bruder möchte.«
Pearl sah Beth interessiert an; vielleicht war sie überrascht darüber, dass sie Sam so wenig ähnelte. »Sie sind uns sehr willkommen, Miss Bolton, aber ich fürchte, Sam und Jack sind unterwegs. Sie kommen aber später wieder, also mache ich Ihnen etwas zu essen und zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Beth war enttäuscht darüber, dass Sam und Jack nicht da waren, um sie zu begrüßen, aber es war eine Erleichterung, in einem eleganten, gemütlichen und warmen Haus zu sein. Die Türen und Geländer waren poliert und glänzten, auf der Treppe lag ein dicker Teppich, und große Spiegel in goldenen Rahmen reflektierten das Licht der Gaslampen.
Als Pearl sie in die Küche auf der Rückseite des Hauses führte, erhaschte Beth einen flüchtigen Blick in einen luxuriösen, in Rot und Gold eingerichteten Salon, in dem ein Kaminfeuer brannte.
»Ein bisschen anders als bei Miss Marchment, was?«, sagte Theo lächelnd.
Beth hatte Lachen aus den Räumen im oberen Stock gehört, aber da weder Theo noch Pearl, von der sie annahm, dass sie die Haushälterin war, ihr etwas über die übrigen Hausbewohner sagten, aß Beth das Abendessen aus Suppe, Brot und Käse und hörte nur zu, während Theo sich mit Pearl unterhielt.
Es war klar, dass er sie genauso bezaubert hatte wie Miss Marchment, denn die Frau hing an seinen Lippen, umsorgte ihn und freute sich sichtlich darüber, dass er für eine Weile bleiben wollte.
»Ich habe einige Geschäfte zu erledigen«, sagte er zu Beth, als er mit dem Essen fertig war. »Aber Pearl kümmert sich um dich, bis Sam und Jack zurück sind. Ich sehe dich dann morgen früh.«
»Sie sehen sehr müde aus«, meinte Pearl besorgt, als Theo gegangen war. »Ich bringe Sie jetzt in Ihr Zimmer, damit Sie sich einrichten können.«
Pearl ging mit einer Petroleumlampe in der Hand voraus in den Keller, und Beth folgte ihr mit ihrer Reisetasche. Nach der Wärme in der Küche fühlte es sich hier unten kalt an, und Pearl entschuldigte sich dafür und erklärte, dass sie Beth einen warmen Ziegelstein ins Bett gelegt hatte.
»Da sind wir«, sagte sie und öffnete eine Tür, die in einen langen Flur mit unebenem Steinfußboden führte. »Das ist die Waschküche«, fuhr sie fort und deutete auf eine Tür auf der linken Seite, dann erklärte sie, während sie nach rechts deutete, dass dort Sams und Jacks Zimmer lägen.
Beths Zimmer war klein, ungefähr drei mal zwei Meter mit einem vergitterten Fenster. »Es ist sehr klein, aber wirklich ruhig«, sagte Pearl. »Sam und Jack kommen erst nach Mitternacht zurück, also erschrecken Sie sich nicht, wenn Sie etwas hören – das sind nur die beiden. Sonst kommt niemand hier runter. Wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie einfach nach oben in die Küche, und rufen Sie.«
Das Zimmer war einfach eingerichtet: Es gab nur ein Bett aus Eisen, einen Waschtisch mit einer Zinkschüssel und einem Wasserkrug und einen schmalen Kleiderschrank. Aber es sah sauber aus und roch auch so, und Beth war so müde, dass sie nicht einmal traurig darüber war, dass Theo sie erneut allein gelassen hatte.
Nachdem Pearl nach oben gegangen war, nahm sie die Petroleumlampe und ging in das Zimmer nebenan, wo sie erleichtert Sams Hemden an einem Haken an der Wand und Jacks kariertes Jackett über einer Stuhllehne hängen sah.
Beth hatte ihre Tasche gerade ausgepackt, als eine Uhr oben zehn schlug. Weil sie Pearl noch schnell um etwas heißes Wasser zum Waschen bitten wollte, lief sie die Treppe wieder hinauf.
Die Kellertür befand sich im hinteren Teil der Halle, und als Beth sie erreichte, hörte sie Leute die Treppe aus dem ersten Stock herunterkommen. Da sie annahm, dass es Familienmitglieder waren, die so spät keiner Fremden mehr begegnen wollten, zog Beth sich hinter die Tür zurück.
An der Wand gegenüber hing ein großer Spiegel, und plötzlich sah sie vier junge Frauen darin.
Sie keuchte schockiert auf, denn es waren nicht die ruhigen jungen Damen, die sie erwartet hatte zu sehen, sondern spärlich bekleidete, leichte Mädchen, deren grellbunte Kleider aus Satin und Spitze ihre Brüste und Beine zum Teil entblößten.
Es war offensichtlich, was sie waren, und auch, was für ein Haus das hier war, denn Amy und Kate hatten ihr mehr als einmal ähnliche Kleider gezeigt. Selbst Ira hatte in ihrem Laden eine spezielle Abteilung, wo sie solche Sachen anbot.
Alle vier Frauen, eine Blonde, zwei Brünette und eine Rothaarige, waren jung und hübsch, und sie kicherten alle über einen gemeinsamen Witz.
»Wenn er nicht in zehn Minuten fertig ist, dann muss er zehn Dollar extra zahlen«, sagte die Rothaarige und lachte lauthals.
Beth trat zurück auf die Kellertreppe und schloss leise die Tür, so entsetzt, dass es ihr plötzlich egal war, ob sie sich waschen konnte. Sie wollte glauben, dass es eine andere Erklärung gab, aber sie wusste, dass sie den Tatsachen ins Auge sehen musste.
Theo hatte sie in ein Bordell gebracht.