12

»Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein würde, eine Bleibe zu finden«, seufzte Sam verzweifelt. »Und auch nicht, dass so viele Leute versuchen würden, uns zu betrügen. Ich weiß wirklich nicht, wohin wir uns jetzt wenden sollen.«

Beth trennte gerade im Kerzenlicht das Innenfutter ihrer Jacke auf, um an das letzte Geld zu kommen, das sie aus England mitgebracht hatten. Während Sam redete, sah sie zu ihm hinüber. Er saß an dem mickrigen Feuer im Kamin, ein Bild des Elends.

Sie waren jetzt schon einen Monat in New York, aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie die Zielscheibe von so vielen Betrügern sein würden. Es war fast, als würden sie ein Plakat mit sich herumtragen, auf dem »Greenhorn« stand.

Da war ein Stand an den Docks gewesen, der Einwanderer aufforderte, sich für Jobs registrieren zu lassen. Das Formular, das sie ausfüllen mussten, hatte offiziell gewirkt; der Mann, der sie beraten hatte, war elegant anzogen gewesen und schien sich um sie zu sorgen. Die Gebühr von zwanzig Dollar kam ihnen nicht zu hoch vor, nicht, wenn sie dafür eine anständige, gut bezahlte Arbeit bekamen. Aber nach drei Tagen, als in ihrem Hotel noch immer keine Nachricht eingetroffen war, waren sie zurück zu dem Stand gegangen, nur um festzustellen, dass er verschwunden war und die zwanzig Dollar mit ihm.

Ein anderes Mal hatten sie auf eine Wohnungsanzeige in der Zeitung geantwortet. Sie hatten sich mit dem Wirt einer Pension getroffen, und er hatte ihnen zwei hübsche Zimmer gezeigt. Es hieß, der jetzige Mieter würde am Ende der Woche ausziehen. Sie zahlten fünfundzwanzig Dollar Miete im Voraus und bekamen einen Schlüssel. Aber als sie einziehen wollten, passte der Schlüssel nicht in die Haustür des Gebäudes, und nachdem es ihnen gelungen war, einen der anderen Mieter herauszuklingeln, wurde ihnen klar, dass der Mann, mit dem sie sich getroffen hatten, überhaupt nicht der Wirt war. Und es gab dort auch keine freien Zimmer.

Sie fühlten sich nicht besser, als sie herausfanden, dass Dutzende von anderen Leuten ebenfalls auf diese Tricks hereingefallen waren. Doch dadurch hatten sie inzwischen ein in ihren Augen kleines Vermögen verloren, und sie waren verbittert darüber, dass die Trickbetrügerei hier so weit verbreitet war und niemand sie gewarnt hatte.

Es gab auch viele andere unschöne Vorfälle: Jobangebote, die sich als Schwindel herausstellten, Wohnungen, zu denen sie sofort fuhren, nur um festzustellen, dass es nur Zimmer waren, die sie sich mit einem halben Dutzend anderen teilen sollten. Man hatte ihnen glaubwürdige Geschichten über schwere Schicksale erzählt und sie zu Glücksspielen überredet, die angeblich eine »sichere Sache« waren und die sie reich machen würden. Meistens waren sie im Hinblick auf Letzteres realistisch gewesen und hatten nur höchstens einen Dollar riskiert, aber auf einige der Leidensgeschichten waren sie hereingefallen und hatten diesen Leuten Geld gegeben, nur um nachher festzustellen, dass auch das ein Betrug gewesen war.

Dieses Hotel war das vierte, in dem sie wohnten. Sie hatten jedes Mal in ein billigeres umziehen müssen, bis sie in dieser heruntergekommenen Bruchbude in der Diversion Street gelandet waren. Aber obwohl das Zimmer winzig, dreckig, trostlos und kalt war, wussten sie, dass es im Vergleich zu den Unterkünften, die Einwanderern mit wenig Geld angeboten wurden, ein Palast war.

Wenn sie allerdings nicht bald Arbeit fanden, dann würden sie sich nicht einmal mehr leisten können, hier zu wohnen. Sam wusste vielleicht nicht, was sie als Nächstes tun sollten, aber Beth schon. Allerdings ahnte sie, dass es ihrem Bruder nicht gefallen würde.

»Wir könnten uns an Jack wenden«, sagte sie leise und wappnete sich gegen seinen Ärger. »Ich habe ihn heute früh getroffen.«

»Was!«, rief Sam, und sein Gesicht verdüsterte sich.

Beth zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, du magst ihn nicht, weil er sich für mich interessiert, aber er kann uns helfen. Er hat bereits einen Job, er kennt die Leute hier, und mit ihm an unserer Seite werden wir nicht mehr so viel betrogen.«

»Wir brauchen keine Hilfe von jemandem wie ihm«, erwiderte Sam kurz angebunden.

»Dann wartest du darauf, dass uns jemand aus der Fifth Avenue rettet, nehme ich an?«, sagte Beth sarkastisch. »Oder darauf, dass das Waldorf jemanden vorbeischickt, der dich anfleht, ihr neuer Barkeeper zu werden?«

»Sei nicht albern«, fuhr er sie an. »Du weißt, wie sehr ich mich bemüht habe, eine Stelle zu finden.«

»Aber die waren alle eine Nummer zu groß für dich«, erwiderte sie heftig.

Sam hatte so großartige Vorstellungen, dass er sich um Jobs beworben hatte, für die seine wenigen Erfahrungen nicht reichten. Er war erst achtzehn, und er hatte nur Schuhe repariert, Bücher geführt und Getränke serviert. Aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass er eine gehobene Stellung bekommen würde, nur weil er Engländer war.

»Sei nicht so ein Snob, was Jack angeht«, schimpfte Beth mit ihm. »Er ist vielleicht ein bisschen ungehobelt, aber er ist ein guter Kerl, und außerdem hat er Köpfchen. Wir nicht; wir werden ständig übers Ohr gehauen, weil wir uns nicht auskennen. Wenn wir es in diesem Land schaffen wollen, dann müssen wir uns den einfachen Leuten anschließen, alles von der Pike auf lernen und versuchen, uns hochzuarbeiten.«

»Wir wurden nicht dazu erzogen, in den Slums zu leben«, erklärte Sam mürrisch. »Diesen Ort hast du doch wohl nicht vergessen?«

Das hatte Beth nicht. Sie dachte immer noch mit Schaudern an das Gebiet, in das sie zufällig an ihrem ersten Abend in der Stadt geraten waren.

Man hatte Sam den Weg zum Broadway und einem nicht allzu teuren Hotel erklärt, aber sie mussten in dem schummrigen Licht falsch abgebogen sein, denn sie waren in einem grauenhaften Slum gelandet, von dem sie jetzt wussten, dass es sich um das berüchtigte Five Points handelte, benannt nach den fünf Straßen, darunter die Park Street und die Worth Street, die dort zusammenliefen.

Es war dort tausend Mal schlimmer gewesen als in irgendeinem Slum in Liverpool, ein schlecht beleuchtetes Labyrinth aus schmalen Gassen, an denen verfallene Häuser standen. Dreckige, in Lumpen gekleidete und barfüßige Kinder kauerten in den Eingängen, gebückte alte Männer saßen neben offenen Feuern auf dem nackten Boden, und liederlich aussehende Frauen schrien ihnen Schimpfwörter nach, als sie vorbeigingen. Die fünfstöckigen Wohnhäuser, die wie düstere Festungen hinter den älteren Häusern standen, schienen Tausende zu beherbergen, denn aus ihnen dröhnte eine Kakofonie von Geräuschen.

Zu dem Zeitpunkt war es schon zehn Uhr abends gewesen, der Gestank war so schlimm, dass man glaubte, durch eine Kloake zu waten, und alle schienen entweder betrunken oder dement zu sein. Mehrmals wurden sie bedroht, man versuchte, ihnen das Geld abzunehmen, und wild aussehende Hunde knurrten sie an. Sie fürchteten tatsächlich um ihr Leben.

Am folgenden Tag, nachdem sie sich in einem hübschen, sauberen Hotel in Sicherheit gebracht hatten, erzählte man ihnen, dass Five Points zwanzig Jahre zuvor als der schlimmste Slum der ganzen Welt gegolten hatte. Und selbst jetzt, in seinem verbesserten Zustand, war es der letzte Zufluchtsort für die Verzweifelten, sowohl für die Armen als auch für die Kriminellen. Bis zu sechzehn Leute teilten sich dort ein einziges Zimmer, Kinderbanden lebten auf der Straße, und kaum eine Nacht verging, in der nicht jemand umgebracht wurde.

Seitdem hatten Sam und sie New York erkundet, und obwohl es andere Gegenden gab, in denen die Einwanderer in minderwertigen und oft überfüllten Wohnhäusern lebten, stießen sie nie wieder auf einen so furchtbaren Anblick wie in Five Points.

Es gab die Herrenhäuser an der Fifth Avenue, wunderschöne, ruhige Plätze mit eleganten Häusern und Läden voller Waren, die sie noch niemals gesehen hatten. Der Central Park war riesig und prachtvoll, und es gab Gebäude, die so groß und prunkvoll waren, dass man nur stehen bleiben und sie anstarren konnte. Sie staunten über die erhöht verlaufenden Schienen, auf denen der Zug über ihren Köpfen entlangfuhr, und über die neuen, überraschend hohen Gebäude, die die Leute Wolkenkratzer nannten.

Allein die Anzahl der Fahrzeuge – Karren, Droschken, Kutschen und Omnibusse – war atemberaubend, genauso wie die Anzahl der Restaurants, Austernbars und Kaffeehäuser. Es war eine so aufregende, laute und pulsierende Stadt, und die riesige Mischung verschiedener Nationalitäten, alle mit eigener Sprache, eigenen Gebräuchen, eigener Musik und Küche, schuf einen verlockenden und faszinierenden Zirkus der Attraktionen.

Beth war sich sicher, dass sie hier sehr glücklich werden konnten, wenn sie Arbeit und einen anständigen Platz zum Leben fanden.

»Ich wollte damit nicht sagen, dass wir in Five Points leben müssen«, erklärte sie verärgert, denn sie war es leid, dass ihr Bruder in allem nur das Schlimmste sah. »Du musst aufhören, alles mit zu Hause zu vergleichen, Sam. Wir hatten wirklich Glück, dass die Langworthys uns nach dem Feuer aufgenommen haben. Aber diese Art von Glück ist selten. Manchmal denke ich, dass es uns ganz gutgetan hätte, wenn wir gezwungen gewesen wären, so zu leben wie die meisten anderen Leute; dann wären wir nämlich nicht so naiv gewesen. Und wenn du nicht jeden Tag auf dem Schiff aus dem Zwischendeck geflohen wärst, dann hättest du das ein oder andere über die einfachen Leute lernen können.«

Er erschauderte, und Beth seufzte innerlich. In den letzten Wochen hatte sie entdeckt, dass ihr Bruder Schwächen hatte, und sie war nicht sicher, ob er sie ablegen konnte.

Es war nicht so, dass er ein Snob war – er sah nicht wirklich auf Leute herunter. Er fand nur, dass er ein besseres Leben verdiente, und er weigerte sich, auch nur darüber nachzudenken, mit den Händen zu arbeiten. Er war fasziniert von Reichtum und jedem hörig, der ihn besaß, und weil er sich auf dem Schiff mit seinem Charme so leicht den Weg in die zweite Klasse gebahnt hatte und von den reichen Gästen zu Hause im Adelphi so gemocht worden war, verstand er nicht, warum sein Charme hier nicht funktionierte.

Aber Beth wusste, woran das lag. Die New Yorker waren alles in allem laut und oft aggressiv. Sams Wirkung beruhte auf seinem guten Aussehen, seiner angenehmen Stimme, seinen strahlend blauen Augen und der Tatsache, dass er so englisch war. Er hätte Erfolg gehabt, wenn er bereits reich gewesen wäre und auf der Fifth Avenue wohnen würde, aber ein Mann, der nach Arbeit suchte, musste sich stark und zupackend präsentieren.

Jack arbeitete in einem Schlachthaus in der East Side. Er meinte, es wäre die härteste Arbeit, die er jemals gemacht hätte, ein stinkender, furchtbarer Job, aber die Bezahlung war gut, und er hatte dort viele Freunde gefunden. Er hatte angeboten, Sam dort unterzubringen, aber Beth wusste, dass ihr Bruder lieber verhungern würde, als dort anzufangen.

Es war so schön gewesen, Jack heute wiederzusehen. Sie hatten bei ihrer Ankunft in New York einen Pakt geschlossen, dass sie sich auf den Tag genau einen Monat später um halb fünf am Castle Green treffen würden, das in der Nähe der Stelle lag, wo sie angelegt hatten.

Beth hatte nicht wirklich erwartet, dass Jack kommen würde – ein ganzer Monat in einer neuen Stadt konnte ein hastig gegebenes Versprechen schnell in Vergessenheit geraten lassen. Aber da war er und sah sehr schick aus in seinem karierten Jackett, der gebügelten Hose und den polierten Schuhen. Er erzählte ihr, dass es ihm gelungen war, ein paar Stunden früher Schluss zu machen, weil er seinem Chef gesagt hatte, dass eine Verwandte von ihm aus England käme.

Er war ehrlich genug zuzugeben, dass er in einem Mietshaus wohnte und sich ein Zimmer mit sechs Leuten teilte, aber er betonte, dass er in Liverpool schon ähnlich gewohnt hatte. Lachend gestand er ein, dass er sein Jackett und die Hose im Secondhand-Laden gekauft und einem Mädchen aus der Wäscherei schöne Augen gemacht hatte, um es dazu zu überreden, beides für ihn zu bügeln. Aber so schrecklich sein Job auch zu sein schien, es war offensichtlich, dass er sich voll in sein neues Leben gestürzt hatte. Er sah gesünder und muskulöser aus als auf dem Schiff und wirkte sehr viel selbstbewusster.

Als Beth ihn verließ, war sie sehr viel hoffnungsvoller gewesen, und das nicht nur, weil sie sich in ein paar Tagen erneut treffen wollten, sondern auch, weil er ihr einen Vorschlag gemacht hatte, wie sie und Sam hier Fuß fassen konnten.

»Hör zu, Sam«, sagte Beth mit fester Stimme. »Warum suchst du dir nicht einen Job als Barkeeper in der Bowery? Da gibt es jede Menge Arbeit.«

Er riss erschrocken die Augen auf. »Ich arbeite doch nicht in einer von diesen Spelunken.«

»In fast allen Bars in New York geht es ein bisschen rau zu«, erklärte sie ihm geduldig. Sie war zwar in noch keiner gewesen, aber Jack hatte ihr das erzählt. »Du musst Erfahrungen haben, bevor dich jemand in einem Top-Hotel oder einem privaten Club anstellt. Und ich habe einen Plan. Wenn du dort als Barkeeper arbeitest, dann könnte ich dort Geige spielen.«

Sam sah sie entsetzt an. »In der Bowery? Bei all diesen ...«

»Ja, bei den Männern, die dort verkehren«, schnitt Beth ihm das Wort ab. »Ich kann es nur machen, wenn jemand auf mich aufpasst, aber ich weiß, dass diesen Männern mein Spiel wirklich gefallen wird. Außerdem gehen dort auch einige Leute hin, denen Lokale in den gehobeneren Vierteln gehören. Wir würden auf uns aufmerksam machen. Nicht viele Lokalbesitzer haben einen so hübschen Mann hinter der Bar, der eine Schwester mitbringt, die dafür sorgt, dass alle mit den Füßen wippen. Wir würden ihnen viel Geld einbringen.«

Das waren genau die Worte, die Jack benutzt hatte. Aber das verschwieg sie Sam lieber, denn sie wusste, dass er die Idee dann sofort ablehnen würde.

»Du würdest wirklich in einer dieser Absteigen spielen?«, fragte Sam ungläubig.

»Warum nicht? Ich kann dort genauso gut Erfahrungen sammeln wie anderswo, und besser als in irgendeinem versnobten Laden, wo irgendein Schlaumeier es sofort merkt, wenn ich mal einen Ton nicht treffe«, verteidigte sie sich. »Du weißt, dass ich schon in allen respektablen Hotels war und gefragt habe, ob sie eine Pianistin brauchen. Sie werfen einen Blick auf mich und weisen mich ab, ohne dass ich Gelegenheit bekomme, ihnen zu zeigen, was ich kann. Ich war in Geschäften, Restaurants, Austernbars und bekomme dort nicht mal einen Job als Tellerwäscherin. Außerdem spiele ich lieber Geige. Wenn ich mir in der Bowery einen Namen machen kann, dann ändert das vielleicht alles.«

»Sie werden dich da unten für eine Hure halten«, sagte Sam missbilligend. »Ich könnte nicht auf dich aufpassen, wenn ich hinter der Theke stehe.«

»Es würde reichen, wenn die Leute wissen, dass du mein Bruder bist«, beharrte sie, denn das war es, was Jack glaubte. Er hatte außerdem versprochen, dass er und alle seine Freunde ebenfalls dort sein würden. »Ich komme zurecht – ein Mann hätte es schwer, etwas Unanständiges mit mir zu machen, während ich Geige spiele.«

Sam sagte nichts, aber sie spürte, dass sein Widerstand nachließ, wenn auch nur, weil er fand, dass er durch ihr Geigespiel selbst besser dastehen würde.

»Versuchen wir es«, bettelte sie. »Ich habe gehört, dass das Heaney’s einer der besten Saloons sein soll, und sie brauchen einen Barkeeper. Was hast du zu verlieren? Wir arbeiten einen Abend, sehen, wie es läuft, und wenn es dir nicht gefällt, dann gehen wir nicht wieder hin.«

Jack hatte gesagt, dass Sam ein Magnet für die Tänzerinnen der Gegend sein würde, und war davon überzeugt, dass er es toll finden würde, wenn er im Mittelpunkt stand. Beth war nicht glücklich bei dem Gedanken, dass diese Art von Mädchen hinter ihrem Bruder her sein würde, aber sie wäre ja ebenfalls da, um auf ihn aufzupassen.

»Also gut«, sagte er säuerlich. »Aber es ist deine Schuld, wenn etwas Schlimmes passiert.«

»Was könnte schlimmer sein, als hungrig und obdachlos zu sein?«, erwiderte sie scharf. »Und genau das werden wir sein, wenn wir kein Geld mehr haben.«

Um acht Uhr am folgenden Abend hatte Beth trotz ihrer forschen Worte schreckliche Angst.

Sam und sie waren mittags ins Heaney’s gegangen und hatten Pat »Scarface« Heaney, den Besitzer, nach einem Job gefragt. Er war ein kleiner, aber sehr muskulöser Mann von Mitte vierzig, und das wenige Haar, das er noch besaß, war fuchsrot. Er trug einen grellgrünen Mantel, der zwar sehr auffällig war, aber nicht von der beeindruckenden Rasierklingennarbe ablenkte, die von seinem rechten Auge bis zu seinem Kinn verlief. Jack hatte Beth erzählt, dass er sie als junger Mann bekommen hatte, als er im Tombs einsaß, dem großen Gefängnis, das man gebaut hatte, um die Probleme in Five Points zu lösen, wo Heaney der Kopf einer Bande gewesen war.

Die Bowery war eine Vergnügungsstraße, an der Saloons, Musik- und Tanzlokale, Theater, deutsche Kneipen und Restaurants lagen. Abends waren die Bürgersteige voller Stände, an denen von Hotdogs bis hin zu Früchten und Süßigkeiten alles verkauft wurde. Es gab die sogenannten »Museen«, doch tatsächlich waren es Freakshows, wo man für ein paar Cent die Bärtige Frau, Zwerge, dressierte Affen oder andere Kuriositäten zu sehen bekam. Prostituierte mischten sich unter die Menge, und natürlich gab es auch Taschendiebe. Aber hauptsächlich war es die Spielwiese für die einfachen Arbeiter.

Jack hatte gesagt, dass die Gäste im Heaney’s vergleichbar waren mit denen, die in die großen, lauten Wirtshäuser in der Nähe der Lime Street Station in Liverpool gingen – Droschkenkutscher, Tischler und Maschinisten. Er hatte auch betont, dass das Heaney’s mit seiner polierten Mahagoni-Theke, den riesigen Spiegeln dahinter und dem vielen polierten Messing und dem sauberen Sägemehl auf dem Boden einer der schicksten Saloons an der Bowery war.

Sam sah sehr erleichtert aus, als er sich drinnen umschaute, denn die Männer, die an der Theke saßen, waren einfache Arbeiter, nicht die Schlägertypen und Trinker, die er erwartet hatte.

Pat Heaney mochte Sam auf den ersten Blick, und nach einigen wenigen Fragen sagte er zu ihm, dass er hinter die Bar gehen und die Gäste bedienen solle, während er sich mit Beth unterhielte.

»Ich will ehrlich sein«, begann Heaney, der ein großes Glas Whiskey austrank und Sam nicht aus den Augen ließ. »Frauen, vor allem hübsche, machen in Saloons nur Ärger. Aber mir gefällt die Idee einer Geige spielenden Frau, und du hast Mut, hierherzukommen und zu fragen, ob du in meinem Laden spielen kannst, wo du doch gerade erst vom Schiff runter bist.«

Beth log und erklärte, dass sie bereits öffentlich in Liverpool aufgetreten war, aber er winkte mit der Hand ab, um ihr zu verdeutlichen, dass es ihm egal war, was sie vorher gemacht hatte, und er sich nur dafür interessierte, was sie für seinen Saloon tun konnte.

»Ich gebe dir eine Chance«, sagte er. »Heute Abend um acht. Wenn die Leute dich mögen, bist du dabei; wenn nicht, dann ist Schluss. Und jetzt geh. Mehr kann ich dir nicht bieten. Ich lasse einen der Jungs mit einem Hut für dich rumgehen, und ich kriege die Hälfte von dem, was drin ist.«

Beth wurde klar, dass er alle Trümpfe in der Hand hielt. Er würde nichts verlieren, selbst wenn sie schlecht spielte.

Er war ein einschüchternder Mann, nicht nur wegen seiner Narbe oder der Muskeln, die man unter seinem dünnen Hemd sah, sondern wegen seiner unverblümten Worte und der Art, wie er sie ansah. Da war keine Wärme in seinen blassbraunen Augen, nur kalte Berechnung. Er fragte, warum Sam und sie nach Amerika gekommen seien, und als sie ihm erzählte, dass ihre Eltern beide gestorben waren und sie neu anfangen wollten, kommentierte er das nicht und sprach ihr nicht einmal sein Beileid aus.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass er keine weiche Seite besaß und dass sie und Sam sehr vorsichtig im Umgang mit ihm sein mussten. Jack hatte ihr geraten, es zuerst bei ihm zu versuchen, weil Heaney sich selbst als den »Mann« der Bowery sah: Er war gerne der Erste, der etwas Neues ausprobierte, und eine Geige spielende Frau war das ganz sicher. Aber Jack hatte sie auch gewarnt, dass er in dem Ruf stand, ein gefährlicher Mann zu sein, wenn man sich mit ihm anlegte.

»Wie lange soll ich denn spielen?«, fragte Beth vorsichtig.

Er löste seinen Blick für einen Moment von Sam, um sie noch einmal auf diese kalte Art anzustarren. »Das hängt davon ab, ob die Leute dich mögen«, sagte er. »Wenn ich nach den ersten drei Stücken mit der Hand winke, dann gehst du. Wenn nicht, dann spielst du für eine Stunde. Und danach sage ich dir, wie es weitergeht. Verstanden?«

Beth nickte nervös.

»Hast du was Farbenfroheres als das?«, fragte er scharf und sah voller Abscheu auf ihren braunen Mantel. »Du wirst ihnen nicht gefallen, wenn du wie eine prüde Lehrerin aussiehst.«

Beth schluckte. Sie besaß nur wenige Kleider, und alle waren dunkel. »Ich versuche, was zu finden«, sagte sie.

Er stand auf und blickte auf sie herunter. »Dann geh jetzt. Und sei pünktlich um acht wieder hier. Dein Bruder kann bleiben.«

Sie zögerte an der Tür und sah noch einmal zu Sam. Er polierte ein Glas, während Heaney mit ihm sprach. Er blickte sich zu ihr um, als der Mann ging, und streckte fröhlich seinen Daumen nach oben. Aber sie sah Sorge über sein Gesicht huschen, was, wie sie annahm, daran lag, dass er sie heute Abend nicht hierher begleiten konnte.

»Alles in Ordnung«, sagte sie lautlos und hob ebenfalls den Daumen nach oben.

An diesem Nachmittag übte sie zwei Stunden lang auf der Geige und machte sich eine Liste mit all den Nummern, die sie besonders gut konnte, damit ihr am Abend nicht die Ideen ausgingen. Sie war sehr nervös, denn zu spielen, wenn sie Lust dazu hatte, war etwas ganz anderes als vor einem Raum voller Fremder.

Später wusch sie sich die Haare und ging ihre Kleider durch, während sie trockneten. Heaney wollte offenbar, dass sie etwas Auffälliges anzog, aber so etwas besaß sie nicht. Ihr hellstes Kleid war eines, das ihr kurz vor ihrer Abreise von Mrs Langworthy geschenkt worden war; sie hatte damals gesagt, dass Beth es vielleicht gebrauchen könne, wenn sie zu einer Party oder zu einer Tanzveranstaltung ginge. Es war aus leicht glänzendem Stoff mit grünen und weißen Streifen und hatte einen etwas tieferen Ausschnitt, Keulenärmel und einen schmal fallenden Rüschenrock. Beth hatte auf eine Gelegenheit gewartet, es tragen zu können, denn es war sehr hübsch, obwohl ihr nicht wirklich wohl bei dem Gedanken war, es in einer Bar voller Männer zu tragen. Aber sie würde oben ein bisschen Spitzenstoff einnähen, sodass von ihrem Dekolleté nichts zu sehen sein würde.

Um halb sieben war sie fertig. Sie hatte ihr Mieder extra eng gezogen, das Haar fiel ihr, mit grünen Bändern geschmückt, offen über die Schultern, und ihre Schuhe waren poliert. Sie hatte ihr Kleid nicht selbst hinten schließen können, deshalb musste sie die Frau im Zimmer unter ihnen bitten, es für sie zu tun. Aber am Ende war sie zufrieden mit dem Ergebnis: Sie sah nicht aus wie ein leichtes Mädchen, aber auch nicht wie eine Lehrerin. Die Mischung aus Nervosität und Aufregung ließ ihre Haut rosig strahlen, und ihr Haar glänzte.

Sie nahm ihren Geigenkasten, schloss das Zimmer ab und machte sich auf den Weg.

Pat Heaney lehnte an der Tür, die in ein Zimmer führte, in dem er private Glücksspiele abhielt, und beobachtete den Auftritt des Mädchens. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

Er hatte nicht viel erwartet. Ihre sanfte englische Stimme, ihre reine Haut und die Unschuld in ihren Augen hatten ihn glauben lassen, dass sie spielen würde wie eine dieser steifen Jungfern in den feinen Salons. Wie sehr er sich getäuscht hatte!

Die erste Überraschung, als sie pünktlich erschien, war ihr Anblick mit offenem Haar gewesen. Sie war ein echter Hingucker mit den glänzenden schwarzen Locken, die ihr über die Schultern fielen, und wirkte gar nicht mehr so prüde wie am Morgen mit ihrem kleinen Gouvernanten-Hut und dem darunter versteckten Haar. Er mochte auch ihr Kleid mit seinem klassischen Schnitt, obwohl er gerne die Spitze über ihrem Dekolleté abgerissen und nachgesehen hätte, was sich darunter verbarg.

Sie hatte so ängstlich gewirkt, als sie ankam, dass er schon befürchtet hatte, sie würde wieder weglaufen. Und ihr Bruder, der sich ständig nach ihr umsah, während sie darauf wartete anzufangen, half auch nicht. War er wirklich ihr Bruder? Sie ähnelten sich gar nicht, abgesehen von ihrem englischen Akzent.

Aber dann hatte er sie angekündigt, und anstatt zusammenzubrechen, wie er erwartet hatte, war sie auf die Bühne gesprungen. Dort verharrte sie mit erhobenem Bogen in der Hand so lange, bis jeder Mann im Raum sich umdrehte und sie ansah. Und dann sauste der Bogen herunter, und sie legte los, mit so süßen und schnellen Melodien, dass er seinen Ohren kaum traute.

Vielleicht hatte er bessere Geigenspieler gehört, aber die waren alle nicht so hübsch gewesen. Die junge Frau spielte nicht nur mit den Armen und Händen, sondern mit ihrem ganzen Körper, wogte mit der Musik, viel besser als diese Tänzerinnen, die er in den Burleske-Shows gesehen hatte.

Sie spielte gerade ihr drittes Lied, und alle Augen waren auf sie gerichtet. Die Unterhaltungen waren vergessen, das Bier gelangte nicht mehr in den offenen Mund, die Köpfe nickten, alle Männer waren ohne Ausnahme in Trance.

Sie tanzte beinahe, während sie spielte, beugte sich vor, wiegte sich, und die Bewegungen ihrer Hüften schickten Nachrichten direkt an seinen Schwanz. Er mochte es, wie sie ihr Haar zurückwarf, mochte die kleinen Strähnen, die an ihren verschwitzten Wangen klebten. Er war sicher, dass jeder Mann gerne zu ihr auf die Bühne gesprungen wäre und sie zurückgestrichen hätte.

Pat war es nicht gewohnt, etwas so sehr zu mögen. Beim Pokern ein gutes Blatt auf der Hand zu haben, in ein saftiges Steak zu beißen oder den ersten Whiskey des Tages zu trinken – das waren die einzigen Dinge, die er sonst mochte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt Musik gehört hatte, wirklich gehört; er nahm an, dass es damals gewesen sein musste, als er ungefähr so alt gewesen war wie sie jetzt.

Achtzehn. Damals hatte er Feuer im Bauch gehabt, hatte sich beweisen wollen und war bis in jede Pore voller Energie gewesen. Wenn er nicht gerade mit irgendeiner Prügelei beschäftigt gewesen war, hatte er gebumst; er war nie sicher gewesen, was ihm besser gefiel. Und beides gab es reichlich in Five Points.

Er konnte immer noch eine Frau bekommen, wenn er eine wollte, und er hatte auch genug Gelegenheiten, sich zu prügeln. Aber er war langsam zu alt für Kämpfe, und die Frauen waren alle Huren. Doch diesem Mädchen zuzuhören gab ihm das Gefühl, voll im Saft zu stehen, so als könne er es mit jedem Halbstarken aufnehmen, der über die Straßen lief. Als könne er mit jeder Frau ins Bett gehen und die ganze Nacht lang steif bleiben.

Er würde heute Abend im Mittelpunkt stehen. Jeder Mann, der hier war, würde ihm auf die Schulter klopfen und ihm einen Drink spendieren wollen, weil er die Kleine engagiert hatte. Sie waren fasziniert; das Mädchen hatte sie wie Fliegen in seinem Spinnennetz eingefangen. Und sie würden jeden Abend wiederkommen, um noch mehr zu hören.

Pat blickte zu ihrem Bruder hinüber. Er war auch eine echte Entdeckung, weil er das gute Aussehen des blassen englischen Adels besaß. Er hatte sehr gute Manieren, die fast schon versnobt wirkten, aber sein Lächeln war entwaffnend, und er servierte die Getränke schnell und mit Stil. Pat wusste außerdem instinktiv, dass der Junge ehrlich war, und das war seltener als ein Pferd, das keine Äpfel kackte.

Aber es würde nicht lange dauern, bis jemand versuchte, ihm dieses Pärchen auszuspannen. Er konnte Fingers Malone am Ende der Theke sitzen sehen; sein mieses kleines Gehirn ersann vermutlich schon Pläne, wie er sie in den schicken Saloon seines Bruders am Broadway bekommen konnte.

Deshalb wusste Pat, dass er sich etwas ausdenken musste, um sich ihre Loyalität zu sichern.