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In den Tagen nach Mollys Geburt hatte Beth keine Minute Ruhe, denn sie musste Molly ständig wickeln und trösten, sich um ihre Mutter kümmern und ihr auch auf den Nachttopf helfen, weil sie nicht auf das Plumpsklo gehen konnte, dazu die ganze Wäsche waschen und andere Aufgaben im Haushalt erledigen. Der Schnee lag noch immer hoch, und an den meisten Tagen schneite es weiter. In der Wohnung war es so dunkel, dass Beth oft auch während des Tages die Gaslampen anzünden musste. Wenn sie einkaufen ging, dann beeilte sie sich immer, denn so einladend die Church Street mit den weihnachtlich dekorierten Fenstern, die Maronen-Verkäufer und die Orgelspieler auch waren, es war zu kalt, um sich draußen aufzuhalten.

Von ihrer kleinen Schwester war sie inzwischen ganz hingerissen. Sich um sie zu kümmern war eine Freude und keine Bürde, und auch die anderen Aufgaben zu erledigen fiel ihr nicht schwer. Doch nach einer Woche wurde die Freude von der Sorge um ihre Mutter abgelöst.

Zuerst schien es Alice langsam besser zu gehen. Am dritten Tag nach der Geburt bat sie Beth um ein Omelette, das sie ganz aufaß, und um Reispudding. Sie hielt Molly auch nach dem Stillen noch auf dem Arm und unterhielt sich gerne mit Beth, erklärte ihr Sachen über Babys und das Kochen.

Am vierten Tag war es ähnlich, doch am Abend klagte sie plötzlich darüber, dass ihr so heiß sei. Am folgenden Morgen musste Beth Dr. Gillespie holen, weil Alice fieberte.

Der Arzt sagte, so ginge es Frauen oft nach dem vierten oder fünften Tag nach der Niederkunft, und riet Beth, ihrer Mutter viel zu trinken zu geben und sie warm zu halten. Aber Alices Zustand verschlechterte sich zusehends, und ihr Fieber stieg so hoch, dass sie kaum noch wusste, wer sie war. Ein ekelhafter Geruch ging von ihr aus, und sie hatte schlimme Unterleibsschmerzen, die auch von der Medizin, die der Doktor ihr gab, nicht weggingen.

Mrs Craven nannte es Kindbettfieber, aber Dr. Gillespie hatte einen sehr viel hochtrabenderen Namen dafür. Er kam zwei Mal am Tag, spülte Alices Unterleib mit einer antiseptischen Lösung aus und packte Gaze hinein.

Sie legten Molly weiter bei ihr an, obwohl Alice sie nicht mehr halten konnte, doch an diesem Morgen war Mrs Craven mit einer Glasflasche mit einem Gummisauger gekommen. Sie musste nicht erklären, wieso; es war offensichtlich, dass es Alice zu schlecht ging und sie nicht mehr genug Milch hatte.

Molly nahm die Flasche sofort an, und es tröstete Beth sehr, mit ihr in dem bequemen Sessel am Herd zu sitzen und sie zu füttern. Sie liebte es, dass Molly die Augen immer weit öffnete, wenn sie anfing zu trinken – sie sahen aus wie zwei dunkelblaue Murmeln –, und sie winkte mit ihrer winzigen Hand, als würde ihr das helfen, die Milch schneller zu trinken. Doch wenn die Flasche fast leer war, fielen ihr die Augen wieder zu, und ihre Hände sanken an ihre Seiten.

Beth saß oft eine Stunde oder länger da, legte Molly auf ihre Schulter und massierte ihr den Rücken, so wie Mrs Craven es ihr gezeigt hatte, um sie ein Bäuerchen machen zu lassen. Sie liebte es, wie das Baby roch und sich anfühlte, liebte die kleinen zufriedenen Seufzer, alles an ihm. Selbst wenn sie es schließlich frisch gewickelt und in eine Decke eingepackt hatte, sodass nur noch der kleine Kopf herausschaute, und es wieder in der Wiege lag, stand Beth noch daneben und sah ihm beim Schlafen zu, voller Staunen über das Wunder des neuen Lebens.

Doch die Freude wurde durch den schlimmen Zustand ihrer Mutter getrübt. Weder Dr. Gillespie noch Mrs Craven deuteten an, dass Alice sich nicht erholen würde, doch wie sehr Beth auch versuchte, optimistisch zu bleiben, sie konnte spüren, wie der Tod sich in das Nebenzimmer schlich.

Ihre gutherzige, kompetente Nachbarin kam jetzt jeden Tag für zwei oder drei Stunden, und Beth erkannte an den immer neuen Blutflecken auf den Laken, an dem fauligen Gestank, an der Art, wie Mrs Craven immer mehr Kohlen auflegte, um das Schlafzimmer warm zu halten, und an ihrem angespannten Gesichtsausdruck, dass es nur noch eine Frage der Zeit war.

Beth erzählte Sam nichts von ihren Ängsten, denn sie wusste, dass er sich wegen des Geldes sorgte. Mr Hooley vom Strumpfwarenladen war nicht erfreut gewesen, als Beth ihn gerade jetzt im Weihnachtsgeschäft um Urlaub bat, und es war eindeutig, dass er ihr die Stelle nicht freihalten würde, bis sie zurückkehren konnte. Außerdem fror Sam ganz furchtbar im Büro der Reederei und sagte, dass er kaum noch schreiben könne, weil seine Finger ganz taub seien von der Kälte. Ihm graute davor, noch weitere zwei oder drei Monate an einem so eisigen Arbeitsplatz zu verbringen. Beth überlegte, ob er vielleicht versucht war, sie einfach zu verlassen, wenn sie ihm erzählte, dass ihre Mutter wahrscheinlich sterben würde und er allein das Geld verdienen müsse, um sie und Molly durchzubringen.

Am Sonntagabend jedenfalls, als Sam den ganzen Tag zu Hause war und die hektische Betriebsamkeit beobachtete, konnte Beth an seinem besorgten Gesicht sehen, dass er endlich begriff, wie ernst die Lage war.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«, fragte er Beth vorwurfsvoll, die im Sessel mit Molly schmuste.

»Du hast schon genug Sorgen«, erklärte sie wahrheitsgemäß. »Außerdem hatte ich gehofft, dass sie sich erholt.«

Die kleine Glocke erklang, die Beth auf den Nachttisch ihrer Mutter gestellt hatte, damit sie sie rufen konnte, wenn sie etwas brauchte. Beth erhob sich und ging mit Molly auf dem Arm ins Schlafzimmer.

Es war sehr heiß und stickig darin, und der unangenehme Geruch war noch stärker geworden.

»Möchtest du etwas trinken, Mama?«, fragte Beth und wandte den Blick vom Gesicht ihrer Mutter ab. Es tat weh, sie anzusehen, denn das Fleisch in ihrem Gesicht schien in die Knochen eingesunken zu sein, und ihre Augen standen heraus wie die der Fische in der Auslage des Fischhändlers.

»Nein. Hol Sam, ich muss mit euch beiden sprechen«, erwiderte sie, und ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.

Sam kam sofort und rümpfte die Nase über den Gestank.

»Kommt näher«, flüsterte ihre Mutter. »Das Sprechen tut jetzt weh.«

Bruder und Schwester traten an das Bett, und Beth drückte Molly fest an ihre Brust. »Was ist los, Mama?«, fragte Sam mit zitternder Stimme.

»Ich muss euch etwas Schlimmes sagen«, erklärte Alice. »Ich weiß, dass ich sterbe, aber ich kann nicht gehen, wenn mir das auf der Seele liegt.«

Sam erwiderte, dass sie nicht sterben würde und dass sie immer gut gewesen sei, aber sie winkte nur schwach mit der Hand, um ihn davon abzuhalten. »Ich bin keine gute Frau«, sagte sie mit matter, rauer Stimme. »Euer Vater hat sich meinetwegen umgebracht.«

Sam warf Beth einen fragenden Blick zu. Seine Schwester zuckte mit den Schultern, weil sie glaubte, dass ihre Mutter durch das Fieber verwirrt war.

»Es gab einen anderen Mann. Euer Vater fand es ein paar Wochen bevor er sich das Leben nahm, heraus. Er sagte, er würde mir vergeben, wenn ich ihm verspreche, dass ich diesen Mann nie mehr wiedersehe.« Sie brach ab und hustete schwach. Weder Beth noch Sam rührten sich, um ihr etwas zu trinken zu geben.

»Ich habe es ihm versprochen«, fuhr sie fort, als der Husten aufhörte. »Aber ich konnte das Versprechen nicht halten und traf mich weiter mit dem Mann, wenn ich mich wegschleichen konnte. Das letzte Mal war ich mit ihm an dem Morgen des Tages zusammen, an dem Frank sich erhängte.«

Beth war fassungslos. »Wie konntest du nur?«, platzte sie heraus.

»Du, du ...«, rief Sam, und sein Gesicht wurde rot vor Wut und Ekel. »Du Hure!«

»Ganz egal, was ihr sagt, ich könnte mich nicht schlechter fühlen, als ich es schon tue«, krächzte Alice. »Ich habe euern Vater betrogen und bin verantwortlich für seinen Tod. Er war ein guter Mann, zu gut für mich.«

»Und Molly? Wer ist ihr Vater?«, schrie Beth.

»Der andere Mann«, sagte ihre Mutter und schloss die Augen, als könnte sie es nicht ertragen, die wütenden Gesichter ihrer Kinder zu sehen. »Seht in der Schublade nach, wo ich meine Strumpfhosen aufbewahre«, sagte sie. »Da ist eine Nachricht, die ich in jener Nacht fand. Frank hatte sie mir unter das Kopfkissen geschoben.«

Sam öffnete die kleine obere Schublade der Kommode und wühlte einen Moment darin, dann zog er einen Bogen Briefpapier heraus. Er nahm sich die Gaslampe, um zu lesen, was darauf stand.

»Was steht da?«, fragte Beth.

Liebe Alice, las Sam.

Ich weiß schon seit einiger Zeit, dass Du Dich immer noch mit Deinem Liebhaber triffst. Wenn Du das hier findest, werde ich nicht mehr da sein, und Du bist frei und kannst mit dem Mann gehen, der Dir wichtiger ist als ich. Ich bitte Dich nur, nach meinem Tod eine gewisse Anstandsfrist zu wahren, bevor Du zu ihm ziehst, um unserer Kinder willen.

Ich habe Dich geliebt, und es tut mir leid, dass das nicht genug war.

Frank

Beth fing an zu weinen, während Sam die Nachricht vorlas. Sie stellte sich vor, wie ihr ruhiger, sanftmütiger Vater diese Nachricht unten im Laden geschrieben hatte und dann zur Teezeit heraufgekommen war, um sie unter das Kopfkissen zu schieben. Selbst mit einem gebrochenen Herzen war er nicht wütend oder rachsüchtig geworden, sondern bis zum Schluss ein liebevoller Ehemann und Vater geblieben.

Sam ging zu Beth und legte den Arm um sie. Er blickte auf Molly hinunter, die in ihren Armen schlief. Tränen liefen über seine Wangen.

»Warum, Mama?«, schrie er. »Warum musstest du das tun?«

»Ich habe euern Vater geliebt, aber es war die zarte Liebe zu einem Freund«, erwiderte sie gebrochen. »Leidenschaft ist etwas ganz anderes. Vielleicht werdet ihr das eines Tages selbst feststellen und es verstehen.«

»Aber warum ist dieser andere Mann jetzt nicht hier?«, rief Sam wütend. »Wenn es die wahre Liebe war, wo ist er dann jetzt?«

»Mein größter Fehler war es, Leidenschaft mit Liebe zu verwechseln«, erwiderte sie, und ihre Augen brannten, als sie ihren Sohn ansah. »Er verschwand einfach spurlos, als er von Franks Tod erfuhr. Das war meine schlimmste Strafe: zu wissen, dass ich auf einen Schürzenjäger hereingefallen war, der sich nichts aus mir machte, und dass Frank in dem Glauben starb, er hätte einen Weg gefunden, mich glücklich zu machen.«

»Wusste dieser andere Mann, dass du von ihm schwanger bist?«, schluchzte Beth.

»Nein, Beth. Ich merkte es erst nach unserer letzten Begegnung.«

Sie fing an zu husten und zu keuchen, und es war offensichtlich, dass sie zu schwach war, um noch mehr zu sagen. »Schlaf jetzt«, sagte Beth kurz angebunden. »Wir reden morgen weiter.«

Später in der Küche ging Sam auf und ab, weiß vor Wut. »Wie konnte sie nur?«, wiederholte er immer wieder. »Und wenn sie sich nicht erholt, sollen wir uns dann um dieses Balg kümmern?«

Beth weinte, während sie Molly auf ihrem Arm fütterte. »Sag das nicht, Sam. Sie ist nur ein Baby, das alles ist nicht ihre Schuld, und sie ist unsere Schwester.«

»Meine Schwester ist sie nicht«, schrie er zornig. »Unser Vater war vielleicht schwach genug zu akzeptieren, dass seine Frau einen Liebhaber hatte, aber ich werde nicht in seine Fußstapfen treten – sie kann nicht hierbleiben.«

»Und wo soll sie hin?«, fragte Beth unter Tränen. »Sollen wir sie ins Waisenhaus bringen? Sie jemandem vor die Tür legen?«

»Ich kann und werde mich nicht um das Kind eines Mannes kümmern, der meine Mutter verführt und meinen Vater in den Selbstmord getrieben hat«, erklärte Sam ausdruckslos, und sein Mund wurde zu einer harten, entschlossenen Linie. »Schaff sie weg!«

Beth blieb noch lange wach, nachdem Sam ins Bett gegangen war. Sie fütterte und wickelte Molly und legte sie in ihre Wiege, dann setzte sie sich in den Sessel und versuchte, das alles zu verstehen.

Aber nichts davon ergab für sie einen Sinn. Bis zu diesem Abend hatte sie es nicht für möglich gehalten, dass eine Frau, die einen guten Mann, Kinder und ein schönes Zuhause hatte, jemals etwas anderes wollen könnte. Sie hatte natürlich Gerüchte über lose Frauen gehört, die mit anderen Männern als ihren Ehemännern etwas anfingen, aber sie hatte immer geglaubt, dass das jene Flittchen waren, die in Wirtshäuser gingen und sich das Gesicht anmalten. Keine normalen Frauen wie ihre Mutter.

»Leidenschaft«, wie ihre Mutter es genannt hatte, sagte ihr nichts. Miss Clarkson hatte das Wort gerne benutzt, obwohl sie es meistens im Zusammenhang mit Musik gebrauchte. Aber einmal, als sie darüber sprachen, wie man Babys macht, sagte sie, dass manche Frauen von »Leidenschaft« überwältigt würden und dass sie ihnen den eigenen Willen raube. Beth nahm an, dass ihrer Mutter das passiert sein musste.

Beth saß immer noch weinend im Sessel, als sie ein Geräusch aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter hörte. Etwas war auf den Boden gefallen, vielleicht das Wasserglas. Sie wollte Alice heute Abend nicht noch einmal sehen, aber sie wusste, dass sie hineingehen und nach ihr sehen musste.

Ihre Mutter lag auf einer Seite des Bettes und versuchte, das Familienfoto zu erreichen, das auf dem Nachttisch stand. Es war vor einem Jahr am New Brighton Beach aufgenommen worden, als sie dort den August-Bankfeiertag verbracht hatten. Als sie danach greifen wollte, hatte sie eine Flasche mit Pillen umgeworfen, die der Doktor ihr dagelassen hatte.

»Willst du das hier?« Beth holte es und hielt es ihrer Mutter hin, damit sie es sich ansehen konnte.

Ihre Mutter hob unter großen Mühen den Arm und legte einen Finger an das Bild. »Erzähl niemandem das von Molly«, flüsterte sie. »Lass alle glauben, sie wäre von Frank. Nicht für mich, sondern für sie, und gib ihr das hier, wenn sie groß ist, damit sie weiß, wie wir ausgesehen haben.«

Ihre Hand bewegte sich von dem Bild weg und legte sich um Beths Handgelenk. Sie fühlte sich so trocken an wie ein Herbstblatt, so klein und knochig, aber der Griff war ganz fest. »Es tut mir so unendlich leid«, hauchte sie. »Sag, dass du mir vergibst.«

Instinktiv wusste Beth, dass dies das Ende sein musste. Was immer ihre Mutter getan, wen immer sie verletzt hatte, sie konnte sie nicht ohne ein freundliches Wort sterben lassen. »Ja, ich vergebe dir, Mama«, sagte sie.

»Dann kann ich gehen?«, fragte Alice flüsternd.

Der Griff um Beths Handgelenk lockerte sich, und die Hand ihrer Mutter fiel auf die Bettdecke. Beth stand eine Weile da und sah sie an, bevor ihr klar wurde, dass sie nicht mehr atmete.