23

Beth zog sich den Pelzhut fest über die Ohren und trat beklommen hinaus in den hohen Schnee, denn es war fünf Uhr morgens und sehr dunkel. Ihre pelzbesetzten Stiefel, die Jack ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, hielten ihre Füße warm und trocken, aber ihr langer Mantel, ihr Rock und der Unterrock schleiften über den Schnee, während sie ging, und behinderten sie beim Gehen.

Beth war Anfang Dezember aus der Textilfabrik entlassen worden. Sie konnte nicht sagen, dass es ihr leidtat, denn sie hatte diesen Job am Ende gehasst. Schon bald danach fand sie eine Anstellung als Köchin.

Theo, Sam und Jack waren entsetzt gewesen und hatten versucht, ihn ihr auszureden, denn sie kochte in einer Schlafbaracke für die Gastarbeiter einer Baufirma. Sie bestand jedoch darauf, die Stelle anzunehmen, weil es keine anderen Jobangebote gab. Doch als sie an ihrem ersten Tag mit vierzig ruppigen, derben, nicht allzu sauberen Männern aus einem Dutzend verschiedenen Ländern konfrontiert war, wäre sie beinahe auf dem Absatz umgedreht und gegangen. Aber der Lohn war viel besser als in der Textilfabrik, und warm würde es dort auch sein.

Die drei anderen hatten Angst, dass die Arbeiter sie belästigen könnten, aber Beth stellte fest, dass die Männer sich respektvoll benahmen, sie beschützten und ihre Arbeit zu schätzen wussten. Es war ein sehr langer Tag, von fünf Uhr morgens bis sieben Uhr abends, aber nachdem das Frühstück abgeräumt war und sie einige andere Dinge wie das Fegen der Schlafsäle und das Putzen des Essraumes erledigt hatte, konnte sie für zwei Stunden nach Hause gehen. Aber meistens blieb sie in der Baracke, las ein Buch oder döste am Ofen, bis es Zeit wurde, das Abendessen vorzubereiten.

Sie hätte wirklich zufrieden sein können, wenn sie nicht der Gedanke gequält hätte, wie sie Theo und den anderen beiden sagen sollte, dass sie schwanger war. Von Anfang Januar an, als es schwierig wurde, ihre Röcke zu schließen, beschloss sie jeden Tag, es ihnen abends zu gestehen. Aber jetzt war schon Ende Februar, und sie hatte es noch immer nicht geschafft.

Und das lag nicht nur daran, dass sie zu feige war, weil sie fürchtete, die Männer würden nicht erfreut über diese Nachricht sein. An den meisten Tagen sah sie die drei gar nicht, weil sie zur Arbeit ging, wenn sie noch schliefen, und sie wiederum schon weg waren, wenn sie nach Hause kam. Aber selbst an Sonntagen, wenn sie alle zusammen zu Hause waren, fand sich nie der richtige Zeitpunkt. An einem Tag war Sam ganz aufgeregt über eine Lohnerhöhung, und sie wollte ihm die gute Laune nicht verderben; ein anderes Mal war Jack in den Schnee gefallen und hatte sich am Bein verletzt, und sie wollte ihm nicht noch mehr Sorgen bereiten. Und was Theo anging, wusste man nie, ob er sonntags da war, denn es war ihm endlich gelungen, sich einem Kreis reicher Männer anzuschließen, die gerne pokerten.

Theo führte ein Doppelleben. Für seine neuen Freunde war er ein erfolgreicher Geschäftsmann mit Beteiligungen in Amerika und Kanada. Sie hatten keine Ahnung, dass sein wahres Zuhause im schlimmsten Slumviertel lag. Oder dass sein wahres Geschäft das Spielen war.

Obwohl es Beth nicht gefiel, dass er oft tagelang verschwand und sie keinen Platz in seinem anderen Leben hatte, bewunderte sie sein Talent, die Leute glauben zu lassen, er wäre ein vermögender Mann. Er nahm sich ein Zimmer im Windsor Hotel, dann schickte er Nachrichten an seine Freunde und lud sie zum Essen ein. Eine Nacht im Hotel und ein Essen reichten normalerweise, um von ihnen in eines ihrer Herrenhäuser an der Golden Mile eingeladen zu werden, und dort blieb er dann für ungefähr eine Woche und war der perfekte, distinguierte Gast, der seinen Gastgebern beim Pokern oft Hunderte Dollar abnahm.

Beth war häufig traurig darüber, dass er im Luxus faulenzte, während sie für vierzig Männer kochte, aber sie verstand, dass er Unterstützer für einen kleinen Spielsalon suchte, von dem sie alle profitieren würden. Außerdem brachte er ihr und den anderen Geld, und sie wusste tief in ihrem Herzen, dass er schon lange weitergezogen wäre, wenn er sie nicht lieben oder Sam und Jack nicht als seine besten Freunde ansehen würde.

Aber in Theos Zukunftsplänen war kein Platz für ein Baby, und Beth hatte Angst, dass dadurch alles infrage gestellt wurde. In ihren war auch keines vorgekommen, und zuerst war sie entsetzt gewesen. Aber während die Wochen vergingen, erinnerte sie sich zunehmend an die Freude, die ihr Molly bereitet hatte, und jetzt wollte sie dieses Baby von ganzem Herzen. Aber die Tatsache blieb, dass die Männer vermutlich sehr bestürzt darüber sein würden.

Sie konnte es nicht länger für sich behalten. Sie musste jetzt im fünften Monat sein, das Baby würde im Juli kommen, und der einzige Grund, warum noch niemand ihren wachsenden Bauch bemerkt hatte, waren die dicken Wintersachen, die sie trug. Selbst im Bett zog sie nie ihr Flanellnachthemd aus, und da sie meistens schlief, wenn Theo nach Hause kam, hatten sie seit Wochen keinen Sex gehabt.

»Ich werde es ihm heute Abend sagen«, beschloss sie laut. Er ging meistens erst, wenn sie wieder zu Hause war, und sie konnte es ihm überlassen, Sam und Jack am nächsten Morgen von den Neuigkeiten zu berichten, bevor sie zur Arbeit gingen.

Es war schwierig, durch den tiefen Schnee voranzukommen, und auch gefährlich, denn darunter versteckt konnten Hindernisse liegen, und in der Dunkelheit war es nicht leicht, einen kleinen Hügel zu erkennen, der sie vielleicht gewarnt hätte. Sie machte vorsichtige kleine Schritte und dachte an ihre eigenen neuen Pläne für die Zukunft.

Trotz seiner Fehler war Theo sehr liebevoll zu ihr, und sie war ziemlich sicher, dass er sie heiraten würde, um dem Kind seinen Namen zu geben. Aber sie wusste auch, dass sie nicht darauf hoffen konnte, ihn in einen traditionellen Ehemann zu verwandeln, der jeden Tag in einer Bank arbeitete oder einem anderen geregelten Job nachging, um seine Frau und sein Kind zu ernähren.

Beth wollte, dass sie ein größeres Haus irgendwo in einer besseren Gegend mieteten und dann Zimmer untervermieteten, um davon ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Theo konnte mit seinen Plänen weitermachen und Sam und Jack auch. Selbst wenn die Männer aus Montreal fortmussten, würde sie sicher sein, und wenn sie nicht öffentlich Geige spielen konnte, dann führte sie doch zumindest ihr eigenes Haus und würde das Baby nicht bei jemand anderem lassen müssen, während sie arbeitete.

Als sie in die Fuller Street einbog, in der die Baracke lag, war sie so sehr damit beschäftigt, wie sie den Männern diese Idee vermitteln konnte, dass sie nicht mehr auf den Boden vor sich sah. Plötzlich rutschte sie aus, fiel nach hinten in den Schnee und landete schmerzhaft auf dem Hintern.

Als sie sich herumrollte und sich vorsichtig auf den Knien aufrichtete, sah sie, dass sie auf eine Eisfläche getreten war. Jemand musste dort Wasser ausgeschüttet haben, das nun hart gefroren war.

Sie nahm an, dass sie später einen großen blauen Fleck bekommen würde, aber zum Glück schien mit ihren Beinen und ihren Knöcheln alles in Ordnung zu sein.

Erst als sie in der Baracke war, neue Kohlen in den Ofen füllte, der die ganze Nacht über gebrannt hatte, Wasser aufsetzte und das Gas anzündete, um mit dem Kochen anzufangen, merkte sie, dass sie sich ein bisschen benommen fühlte. Aber ihr blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn die Männer würden gleich aufstehen.

Das Frühstück war immer schwieriger als das Abendessen, denn das konnte sie den ganzen Tag lang vorbereiten. Am Morgen blieb ihr weniger als eine Stunde, um achtzig Spiegeleier, Speck und Würstchen in riesigen Pfannen zu braten, sechs große Laibe Brot aufzuschneiden und mehrere Kannen Kaffee und Tee zu kochen.

Die Baracke hatte einen riesigen Gemeinschaftsraum, wo die Männer aßen und sich entspannten. Ihre Schlaf- und Waschräume lagen an der Rückseite. An den Wänden war rauer, ungestrichener Putz, und der Boden bestand aus nacktem Beton. Es gab lange, wackelige Bohlentische, verschrammte Holzbänke und eine Theke, die den Raum von der Küche abtrennte. Eine Pinnwand und Fächer für jeden der Männer bedeckten eine Wand; an der zweiten waren Haken angebracht, denn da der Herd Tag und Nacht an war, konnten nasse Mäntel und Stiefel bis zum Morgen trocknen.

Die andere Wand war von künstlerisch begabten Bewohnern bemalt worden. Es gab Bilder von Bären und Elchen, Karikaturen von einigen der Männer und viele kurvige, halbnackte Frauen, die Beth rot werden ließen.

Als sie das erste Mal in einen der Schlafräume gegangen war, um den Boden zu fegen, war sie entsetzt vor dem Gestank nach Schweiß und Füßen zurückgewichen. Aber wahrscheinlich konnte es gar nicht anders sein, wenn so viele Männer auf so engem, schlecht belüftetem Raum zusammen schliefen. Außerdem arbeiteten sie lange und konnten nur ungefähr einmal im Monat ins Badehaus gehen, das etwas weiter die Straße herunter lag. Doch die meisten bewahrten ihre Habseligkeiten und Sachen zum Umziehen ordentlich in einer Kiste oder einem Seesack unter ihren Kojen auf. Als Nomaden zogen sie überall hin, wo es Arbeit gab. Es waren harte Männer, frei von Frauen oder Kindern, denen weder Kälte noch Hitze etwas ausmachten und meistens nicht einmal Verletzungen. Sie schienen nur ein paar Kumpels, etwas zu trinken und zu essen zu brauchen, um zufrieden zu sein.

Als die erste Gruppe von Männern mit zerzausten Haaren, gähnend und hustend hereinkam, hatte Beth die Teller, Tabletts mit Essen und das Brot auf der Serviertheke stehen und war bereit, alles auszuteilen. Der Kaffee und der Tee standen wie immer am Ende der Theke, wo sie sich selbst bedienen konnten.

Die meisten knurrten eine Begrüßung, denn sie waren nur halb wach, aber als der große Amerikaner, den die Männer Tex nannten, sich von ihr etwas auf den Teller füllen ließ, sah er sie scharf an und runzelte die Stirn.

»Geht es dir gut, Schätzchen?«, fragte er. »Du siehst heute schrecklich blass aus.«

»Ich bin auf dem Weg hierher auf Glatteis ausgerutscht«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Es ist zum Glück nichts gebrochen, aber ich bin noch ein bisschen benommen.«

»Dann lass es für den Rest des Tages ruhig angehen«, erwiderte er. »Wir wollen doch so ein hübsches kleines Ding wie dich nicht verlieren!«

Um zehn Uhr hatte Beth die meisten ihrer Aufgaben erledigt. Normalerweise machte sie jetzt eine Pause, trank eine Tasse Tee, aß ein Schinkensandwich und las die Zeitung, bevor sie mit den Vorbereitungen für das Abendessen begann. Aber heute Abend gab es Stew, und da das Fleisch, das der Fleischer schickte, in der Regel sehr zäh war, ließ sie es gerne schon früh vor sich hin köcheln.

Als sie die großen, schweren Stewtöpfe aus dem Regal unter der Theke herausholte, spürte sie ein scharfes Ziehen im Bauch. Sie stellte die Töpfe auf den Herd, aber da packte sie erneut der Schmerz.

Sie setzte sich auf einen Stuhl und sagte sich, dass es nur ein Krampf war oder dass sie beim Tragen der Stewtöpfe eine falsche Bewegung gemacht haben musste. Aber dann passierte es zum dritten Mal, und instinktiv legte sie die Hand auf den Bauch, genauso, wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte, als sie mit Molly in den Wehen lag.

Angst überfiel sie. Würde sie ihr Baby verlieren?

Vielleicht war sie zuerst nicht begeistert gewesen, aber jetzt freute sie sich, und in den letzten Monaten hatte sie an kaum etwas anderes gedacht als daran, ihr Baby im Arm zu halten.

Was taten Frauen, um sicherzustellen, dass sie ihr Baby nicht verloren? Sollte sie sich flach auf den Rücken legen? Oder jemanden bitten, einen Arzt zu rufen?

Aber wen? Die Männer waren alle schon gegangen. Die Baracke gehörte Mr Sondheim, aber abgesehen von freitagabends, wenn er kam, um von den Männern die Miete zu kassieren, ließ er sich hier nur selten blicken. Er war öfter vorbeigekommen, als sie gerade angefangen hatte, aber offenbar vertraute er ihr jetzt und kam nur, um die Lebensmittelrechnungen abzuholen und um nachzusehen, ob jemand gegangen war oder Männer ohne Erlaubnis hier wohnten. Da er erst gestern da gewesen war, würde er heute sicher nicht kommen.

Beth erhob sich von ihrem Stuhl in der Hoffnung, dass die Schmerzen wieder verschwanden, denn Mr Sondheim würde nicht erfreut sein, wenn sie es nicht schaffte, den Männern ihr Abendessen zu kochen. Sie kam bis zur Theke, wo sie sich das Fleisch zum Schneiden zurechtlegte, als sich wieder alles in ihr zusammenkrampfte. Diesmal waren die Schmerzen intensiver und dauerten länger. Und irgendwie wusste sie in diesem Augenblick, dass sie nicht verschwinden würden und dass sie Hilfe holen musste.

Vorsichtig bewegte sie sich zur Tür. Als sie sie erreichte, traf sie ein erneuter Schmerz, und diesmal war er so heftig, dass sie aufschrie. Als er vorbei war, spürte sie eine klebrige Nässe zwischen ihren Beinen, und sie nahm an, dass es Blut war. Voller Angst riss sie die Tür auf und sah auf die Straße.

Es war niemand zu sehen, und obwohl das nächste Haus nur ein paar Meter weiter auf der anderen Straßenseite lag, hatte Beth Angst hinüberzulaufen, weil sie fürchtete, erneut in den Schnee zu fallen. Wenn sie sonst vor die Tür gegangen war, dann waren immer andere Leute draußen gewesen, selbst wenn es schneite, denn die meisten Anwohner lebten in so beengten Verhältnissen, dass sie rausmussten.

»Hallo? Ist da jemand?«, rief sie laut, als ihr Bauch sich erneut zusammenkrampfte. Zu ihrem Entsetzen färbte sich der Schnee zwischen ihren Füßen rot mit Blut, und ihr wurde ganz schlecht vor Angst.

Sie musste ungefähr zehn Minuten dort gestanden haben, starr vor Kälte und Schmerzen und mit einer Pfütze aus Blut zu ihren Füßen, die von Minute zu Minute größer wurde, als sie endlich einen Mann, der einen Schlitten zog, die Straße heraufkommen sah.

»Helfen Sie mir, bitte«, rief sie, so laut sie konnte.

Als er sie erreichte, musste sie sich am Türrahmen festklammern, um nicht umzufallen.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte er.

Sie sah, dass er noch jung war, nicht älter als zwanzig, ein Ire mit hellen blauen Augen. »Ich glaube, ich verliere mein Baby«, stieß sie hervor, und ihre Angst verdrängte ihre Scham, so etwas zu einem Fremden zu sagen. »Könnten Sie zu mir nach Hause gehen und meinen Mann oder meinen Bruder holen?«

»Sicher«, sagte er. »Aber erst helfe ich Ihnen wieder rein. Hier draußen werden Sie sich den Tod holen.«

Er schien sich auszukennen, denn als sie wieder im Haus waren, lief er durch die Tür in die Schlafräume und kam mit einem Kopfkissen und einer Decke zurück. Er sagte ihr, dass sie sich auf den Boden legen solle, und deckte sie zu, und er hielt sogar ihre Hand, als sie bei einer neuen Welle des Schmerzes aufschrie.

Sie erklärte ihm atemlos, wohin er gehen musste, und er versprach, den ganzen Weg zu rennen.

Die Schmerzen wurden schlimmer, als er weg war, und ließen nicht nach wie zuvor, sondern kamen in Wellen, die stärker und stärker wurden, bis sie nur noch daran denken und nichts anderes mehr sehen oder hören konnte.

Durch den roten Nebel, der sie umgab, glaubte sie kurz, Jack ihren Namen rufen zu hören, aber sie konnte ihm nicht antworten. Sie hatte das Gefühl, in einen dunklen Tunnel zu treiben, aus dem es kein Entrinnen gab.

»Mrs Cadogan! Können Sie mich hören?«

Beth glaubte, durch einen dunklen Wald auf die Stimme des Mannes zuzugehen. Doch als sie versuchte, schneller zu gehen, ließen ihre Beine das nicht zu.

»Öffnen Sie jetzt die Augen, Mrs Cadogan, es ist vorbei.«

Seine Stimme schien jetzt ganz nah, und ihr wurde klar, dass es ein Traum war und dass sie im Bett lag. Sie öffnete die Augen und sah einen Mann mit einer goldgerandeten Brille, der auf sie herunterblickte.

»Sie sind im Hospital«, erklärte er. »Sie haben Ihrem armen Mann einen ganz schönen Schrecken eingejagt; er hatte Angst, Sie zu verlieren.«

»Habe ich mein Baby verloren?«

Der Arzt nickte. »Es tut mir sehr leid, meine Liebe, aber Sie sind jung und gesund und werden bald wieder auf die Beine kommen.«

»Kann ich meinen Mann sehen?«, flüsterte sie.

»Für ein paar Minuten, dann müssen Sie sich ausruhen. Ich schicke ihn zu Ihnen.«

Es musste später Abend sein, denn es brannte nur ein schwaches Licht in dem großen Raum, und die Leute in den anderen Betten schienen zu schlafen. Beth fragte sich verwirrt, warum sie sich nicht erinnern konnte, was mit ihr passiert war, nachdem der junge Ire ihr zu Hilfe gekommen war. Sie musste etwas bekommen haben, das ihr die Schmerzen nahm und das sie so lange hatte schlafen lassen. Hatte man sie operiert?

Als sie Schritte hörte und sich umwandte, sah sie Jack auf sich zukommen.

»Wo ist Theo?«, flüsterte sie, als er an ihrem Bett stand.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte er zurück. »Ich war es, der zur Baracke kam – Sam war schon zur Arbeit gegangen. Ich sagte, ich wäre dein Mann, weil es besser aussah. Wusste Theo, dass du schwanger bist?«

Beth schüttelte schwach den Kopf. »Ich wollte es ihm heute Abend sagen.«

»Aber sie sagen, du wärst schon im fünften Monat gewesen! Ich musste so tun, als wüsste ich es. Warum hast du es uns denn nicht gesagt? Wir hätten dich nicht an diesem Ort arbeiten lassen, wenn wir es gewusst hätten.«

»Irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt dafür«, erwiderte sie müde.

Jack beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Wie fühlst du dich jetzt?«

»Ein bisschen schwach.« Sie seufzte. »Aber ich habe keine Schmerzen mehr. Was haben sie mit mir gemacht, Jack?«

»Der Arzt wird es dir morgen erklären«, sagte er. »Aber jetzt musst du schlafen. Ich werde Sam und Theo suchen und es ihnen sagen. Wir besuchen dich dann morgen.«

Es war nach zehn Uhr abends, und während Jack durch die leeren verschneiten Straßen lief, füllten seine Augen sich mit Tränen, als er an das dachte, was der Arzt gesagt hatte.

»Ich musste eine Notoperation durchführen und die Teile entfernen, die sich nicht von selbst gelöst haben, und leider muss ich Ihnen mitteilen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie noch mal ein Kind bekommen kann.«

Vielen Frauen, die Jack kannte, wäre es egal gewesen, dass sie niemals Kinder haben konnten, und jeder, der Beth jemals Geige spielen gehört hatte, hätte geglaubt, dass es ihr nicht wichtig war, Mutter zu sein. Aber Jack wusste es besser. Er hatte die Traurigkeit in ihrer Stimme gehört, wenn sie von Molly sprach, und wusste, dass sie noch immer darunter litt, dass sie ihre Schwester weggegeben hatte, egal wie oft sie das Gegenteil betonte. An Weihnachten, als sie ein Foto von Molly bekam, hatte sie es stundenlang sehnsüchtig betrachtet. Er hatte immer geglaubt, dass sie sich erst ganz davon erholen würde, wenn sie selbst ein Kind bekam.

Jetzt würde sie diese Chance nicht mehr bekommen.

Theo kam in dieser Nacht nicht nach Hause, und Jack lag wach und hasste den Mann dafür, dass er sich so wenig für Beth interessierte. Theo wusste natürlich nicht, dass sie im Krankenhaus lag, aber Jack konnte nicht verstehen, wie ein Mann es ertragen konnte, auch nur eine Nacht von einer so wunderbaren Frau wie Beth getrennt zu sein.

Sam hatte ihn ungläubig angesehen, als Jack ihm von der Neuigkeit erzählte. »Warum hat sie es mir nicht gesagt?«, wiederholte er ständig, als würde er glauben, dass das alles nicht passiert wäre, wenn sie es getan hätte. Aber selbst Sam, der seiner Schwester so nahestand, war der Meinung, dass es so vielleicht das Beste war.

»Das Beste für wen?«, schrie Jack ihn an. »Für dich und Theo vielleicht, damit ihr tun könnt, was ihr wollt, ohne dass euch etwas daran hindert! Aber nicht für Beth. Ein Teil von ihr ist mit diesem Kind gestorben, und wenn sie erfährt, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann, was wird das dann in ihr anrichten?«

Jack hörte Theo kurz vor Tagesanbruch nach Hause kommen. Er teilte sich mit Beth das, was sie lachend den Salon nannten. Es war der etwas größere der beiden Räume unten, und er hatte einen Ofen. Beth musste darauf kochen und hatte sich selbst eine kleine Küche eingerichtet, indem sie eine Tischdecke auf eine Holzkiste gelegt und sie in den Alkoven neben dem Herd gestellt hatte. Auf der Kiste und darin bewahrte sie das Besteck, die Teller und Töpfe und die Lebensmittel auf.

Ihre Fähigkeit, ein Haus in ein Heim zu verwandeln, erstaunte Jack immer wieder. Sie hatte eine bunte Tagesdecke über das Bett gelegt und Kissen für die beiden Holzsessel genäht. Die meisten Leute hier lebten im Dreck, kämpften gegen Armut und Elend, aber Beth hielt das Haus makellos sauber und fügte immer irgendwo etwas hinzu, um es heimeliger zu machen.

Von dem Geld, das sie in der Baracke verdiente, hatte sie einen kleinen Tisch gekauft, und an Sonntagen, wenn sie alle zu Hause waren, aßen sie – auf Kisten sitzend – daran. Sie hatte die Spalten in den Fensterrahmen mit Zeitungen ausgestopft, damit es nicht mehr so zog, und die Flecken an den Wänden mit Theaterpostern und Bildern bedeckt, die sie aus Zeitschriften ausschnitt. Wenn sie sonntags am Ofen saßen, ein leckeres Essen vor sich, dann konnten sie die bittere Kälte und das Elend vor der Tür für ein paar Stunden vergessen und eine richtige Familie sein.

Seit seiner ersten Begegnung mit Theo hatten sich Jacks Gefühle ihm gegenüber gewandelt. Er war nicht länger eifersüchtig auf ihn, weil er ihm Beth weggenommen hatte, und auch nicht mehr wütend darüber, dass er behauptet hatte, für ihre Rettung aus dem Keller verantwortlich zu sein. Von ihrem Umzug nach Philadelphia an mochte er ihn sogar.

Denn trotz Theos elegantem Auftreten, seiner schicken Sachen, dem feinen Akzent und seiner adligen Herkunft war er kein Snob. Für ihn gab es nur zwei Arten von Menschen: die, die er mochte, und die, die er nicht mochte. Was sie hatten oder woher sie kamen, spielte für ihn keine Rolle.

Als Jack die alte Feindseligkeit überwunden hatte, stellte er fest, dass Theo großzügig und freundlich war und ein lustiger Reisegefährte – und er war intelligent, den anderen immer einen Schritt voraus.

Jack war nicht entsetzt darüber gewesen, dass Theo beim Kartenspielen betrog. Er hätte das vermutlich auch getan, wenn es um so viel Geld gegangen wäre. Er hätte jedoch erwartet, dass Theo weglaufen und ihn und Sam im Stich lassen würde, als Sheldon starb.

Aber das hatte er nicht getan. Er hatte ihre Flucht nach Kanada organisiert und ihre Fahrkarten bezahlt, und seit dieser Bewährungsprobe vertraute Jack ihm blind.

Doch als er Theo hereinkommen hörte und ihm wieder einfiel, wo Beth war, sah Jack rot. Er sprang aus dem Bett und rannte nur mit seiner langen Unterhose bekleidet in das angrenzende Zimmer.

Theo, der noch seinen Hut und den eleganten Mantel trug, hatte eine Kerze angezündet. Er hielt sie in der Hand und sah erstaunt aus, weil Beth nicht da war.

»Wo ist sie?«, fragte er.

»Im Krankenhaus, du Schwein«, knurrte Jack. »Sie hat ihr Baby verloren, und du gehörst aufgeknüpft dafür, dass du nicht bei ihr warst, und dafür, dass du sie an diesem Ort hast arbeiten lassen.«

»Sie war schwanger?«, keuchte Theo, und sein Gesicht wurde plötzlich weiß. »Das wusste ich nicht!«

»Du hast ihr ja keine Chance gelassen, es dir zu erzählen, weil du nie da bist!«, schrie Jack. »Du stolzierst hier rein und raus, isst das Essen, das sie dir kocht, ziehst die Hemden an, die sie dir wäscht, und behandelst sie wie ein Dienstmädchen!«

Theo stellte die Kerze ab und warf seinen Hut aufs Bett. »O Gott«, rief er. »Sie hat unser Baby verloren? Bitte, Jack, setz dich und erzähl mir, was passiert ist und wie es ihr geht.«

Jack konnte erkennen, wie schockiert und entsetzt Theo war, aber das besänftigte ihn nicht. Er ballte die Hand zur Faust und versetzte Theo einen Haken, der ihn mitten aufs Kinn traf und zurücktaumeln ließ.

»Ich würde dir ohne schlechtes Gewissen die Seele aus dem Leib prügeln«, zischte Jack. »Aber ich will dieses Zimmer nicht ruinieren, das Beth versucht hat gemütlich zu machen. Ist dir das je aufgefallen? Hast du gesehen, wie rau ihre Hände geworden sind? Sie war jemand in Philadelphia, sie trug hübsche Kleider, und sie war glücklich dort, aber das hast du ihr alles weggenommen.«

»Ich nehme an, du hattest einen besseren Plan?«, sagte Theo mit einem sarkastischen Unterton. »Einen, den du nur nie erwähnt hast, hm?«

»Du arrogantes Schwein«, schrie Jack ihn an und wollte ihn gerade erneut schlagen, als Sam ins Zimmer gerannt kam und seinen Arm festhielt.

»Von einer Prügelei wird es auch nicht besser«, sagte er wütend und stellte sich zwischen seine beiden Freunde. »Gott weiß, ich möchte Theo auch zu Brei schlagen, weil er Beth so vernachlässigt hat, aber sie wird sehr verzweifelt über ihre Fehlgeburt sein, und wenn sie nach Hause kommt und feststellt, dass Theo auch nicht mehr da ist, dann wird sie sich davon nie erholen.«

»Ich würde Beth nicht verlassen, selbst wenn ihr beide mich zu Brei schlagt«, erklärte Theo entrüstet. »Ihr tut so, als wäre ich für diese Sache verantwortlich. Wie kann ich das? Ich wusste es nicht. Würdet ihr euch jetzt bitte setzen und mir erklären, was passiert ist, und mir um Himmels willen sagen, wie es ihr geht? Ich liebe sie, das wisst ihr doch sicher?«

Nach dieser unerwarteten Liebeserklärung schwand Jacks Wut. »Warum lässt du sie dann die ganze Zeit allein?«, fragte er niedergeschlagen. »Hättest du sie deinen neuen Freunden nicht vorstellen können? Sie ist eine echte Lady, sie hätte dich nicht in Verlegenheit gebracht.«

Theo seufzte. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich habe versucht, etwas für uns alle zu erreichen. Wenn ich gewusst hätte, dass ich Vater werde ...« Er brach plötzlich ab, überwältigt von seinen Gefühlen, und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Herrgott noch mal, nun sagt mir schon, wie es ihr geht«, sagte er einige Augenblicke später mit erstickter Stimme. »So viel darf ich doch zumindest wissen?«

Theo stand an der Stationstür und beobachtete Beth durch die kleine Glasscheibe. Sie lag auf der Seite im Bett, den Arm über das Gesicht gelegt, und er wusste, dass sie weinte. Er wappnete sich, um ins Zimmer zu treten, und hoffte, dass er die richtigen Worte finden würde, um sie zu trösten, wenn er sie in die Arme nahm.

Sein Gesicht schmerzte noch von dem Schlag, den Jack ihm vor ein paar Stunden verpasst hatte, aber noch schlimmer schmerzte sein Herz. Er konnte nicht behaupten, jemals darüber nachgedacht zu haben, wie es sein würde, ein Kind zu haben, doch er war unendlich traurig, dass er, ohne es zu wissen, ein Baby mit Beth gezeugt hatte und dass es nun nicht mehr da war.

Er schob die Tür auf, holte tief Luft und ging hinein. Beth hob den Arm von ihrem Gesicht, und er sah, dass ihre Augen rot und geschwollen waren.

»Du armes Ding«, sagte er leise. »Es tut mir so leid, dass ich gestern nicht hier war.«

Sie sah ihn so trostlos an, dass er es kaum ertrug. »Du hättest es mir sagen sollen«, fuhr er fort und nahm sie in die Arme. »Ich liebe dich, Beth, ich weiß, dass ich dir das nicht immer zeige, aber du hättest mir das nicht verheimlichen dürfen.«

»Sie sagen, dass ich fast gestorben wäre«, schluchzte sie an seiner Brust. »Ich wünschte, ich wäre gestorben, Theo. Was hat mein Leben für einen Sinn, wenn ich niemals ein Kind haben werde, das ich lieben kann?«

»Wir wissen nicht, ob das wirklich stimmt«, erwiderte Theo, und Tränen liefen auch über seine Wangen. »Wir gehen zu einem anderen Arzt, wir sorgen dafür, dass wieder alles in Ordnung kommt.«

»Es gibt Dinge, die man nicht mehr in Ordnung bringen kann«, sagte sie mit undeutlicher Stimme an seiner Brust.

Theo wusste instinktiv, dass sie das Gefühl hatte, bestraft worden zu sein, weil sie mit einem Mann geschlafen hatte, mit dem sie nicht verheiratet war. »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Ich werde mich um dich kümmern, und wenn es dir wieder gut geht, dann sieht alles anders aus, du wirst schon sehen. Wir werden eines Tages heiraten, und dann fahren wir nach England und besuchen Molly. Selbst wenn wir kein weiteres Kind mehr haben können, haben wir immer noch uns.«

Sie weinte einfach nur an seiner Brust, und er fühlte sich hilflos, weil er ihren Schmerz nicht lindern konnte. Was sollte er sagen? Er hatte sich nie danach gesehnt, ein Kind zu haben, er bezweifelte, dass das irgendein Mann tat. Er konnte Beths Trauer und ihre Enttäuschung verstehen, aber er konnte nicht behaupten, dass er wusste, was sie empfand.

»Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Es tut mir leid, dass ich mich nicht besser um dich gekümmert habe. Es tut mir leid, dass ich dir nicht oft genug gesagt habe, dass ich dich liebe. Und es tut mir so unendlich leid, dass wir unser Baby verloren haben. Aber gib nicht auf, Beth. Jetzt sieht vielleicht alles trostlos aus, aber es wird wieder besser. Das zumindest verspreche ich dir.«